Transkript
&K U R Z B Ü N D I G
Aktuelle Studien – kurz gefasst
Einfluss des Geburtsmonats auf das MS-Risiko
Umweltfaktoren können die Inzidenz der Multiplen Sklerose (MS) beeinflussen. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass die Prävalenz der MS mit zunehmendem Breitengrad, also mit zunehmendem Abstand vom Äquator, auf beiden Hemisphären zunimmt. Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen ist die mit dem Abstand vom Äquator abnehmende Sonneneinstrahlung insbesondere in den Wintermonaten, die dann zu einem Mangel an Vitamin D (Cholechalciferol) führt. Vitamin D wirkt immunmodulierend. Ein Mangel ist mit verschiedenen Autoimmunerkrankungen assoziiert
worden. Eine höherer Vitamin-D-Spiegel könnte demnach protektiv wirken. In der Studie von Saeed Akhtar wurde das MSRisiko aufgrund des Geburtsmonats in Kuwait untersucht. Eingeschlossen wurden 1035 MSPatienten vom 1. Januar 1950 bis zum 30. April 2013, die mit der gesunden Population im gleichen Zeitraum verglichen wurden (65,2% weiblich, 77,1% waren Kuwaiter). Die Daten zeigen einen signifikanten Peak (p = 0,004) im Dezember. Das Risiko für MS war in diesem Monat um 13 Prozent höher als in den Folgemonaten. Die Autoren kommen zum
Schluss, dass die Stärke der Studie darin liegt, dass sie die erste ist aus einem Land östlich des Mittelmeers und die Daten mithilfe eines Registers erhoben wurden. Zudem erfüllten die in die Studie eingeschlossenen MS-Patienten die McDonald-Kriterien (2010). Allerdings weisen die Autoren darauf hin, dass sich in Kuwait innerhalb der letzten Jahrzehnte der Lebensstandard geändert hat und deshalb auch ein Bias vorliegen kann.
Saeed Akhtar, Raed Alroughani, Ahmad Al-Shammari, Jarrah Al-Abkal, Yasser Ayad. Multiple Sclerosis Journal 2015, Vol. 21(2) 147– 154, DOI: 10.1177/ 1352458514541578.
Hirnvolumenbestimmung als valider Surrogatmarker
Prof. Sormani et al. (1) untersuchten in einer Post-hoc-Analyse der Phase-III-Studie FREEDOMS (2), ob MRI-(Magnetresonanz-)Parameter – insbesondere Messungen von Hirnvolumenänderungen – valide Surrogatparameter für die durch Multiple Sklerose (MS) bedingte Krankheitsprogression darstellen.
Methodik Es wurden hierfür die Daten einer Phase-III-Studie (FREEDOMS) (2) retrospektiv untersucht. Die Validität von drei Krankheitsparametern als Surrogatmarker für Krankheitsprogression wurden anhand der international anerkannten Prentice-Kriterien beurteilt. Zu den Krankheitsparametern zählen: a) die prozentuale Änderung des Hirnvolumens im MRI nach 2 Jahren; b) die Anzahl der aktiven MRI-Läsionen und c) die Zahl der Schübe nach dem 1. Studienjahr. Ein Patientenausschluss ergab sich beim Fehlen mindestens eines der drei genannten Messwerte. Insgesamt konnten 78 Prozent der Studienteilnehmer in die Auswertung eingeschlossen werden.
Ergebnisse Ein Fortschreiten der krankheitsbedingten Behinderung nach 2 Jahren, also eine Zunahme auf der EDSS-Skala (Expanded Disability Status) um 1 Punkt, welche nach 6 Monaten bestätigt werden musste, war mit einer vermehrten Anzahl aktiver T2-hyperintenser Läsionen (OR = 1,24; p = 0,001) und erhöhter Schubrate
(OR = 2,90; p < 0,001) während des 1. Studienjahres assoziiert. Darüber hinaus war das reduzierte Risiko der Krankheitsprogression mit einer reduzierten Abnahme des Hirnvolumens (OR = 0,78; p < 0,001) verbunden. In Prozentzahlen ausgedrückt: 46 Prozent, 60 Prozent respektive 23 Prozent des Therapieeffekts von Fingolimod auf die krankheitsbedingte Behinderungszunahme erklären sich über aktive T2-Läsionen, Schübe und die prozentuale Änderung des Hirnvolumens. Eine zusätzliche multivariate Analyse zeigte zudem, dass die Zahl der Schübe im 1. Jahr sowie die jährliche prozentuale Verlustrate des Hirnvolumens unabhängige Prädiktoren für die Krankheitsprogression darstellen und zusammen 73 Prozent des therapeutischen Effekts von Fingolimod auf die Krankheit erklären. Kommentar Dies ist eine sehr interessante und statistisch sorgfältig durchgeführte retrospektive Analyse. Sie legt nahe, dass der Fingolimod-vermittelte positive Effekt auf den Behinderungsgrad zumindest in Teilen auf positive Effekte auf das Hirnvolumen zurückzuführen ist. Sicher darf der enge Studienzeitrahmen von 2 Jahren nicht unterschätzt werden, und es bedarf in Zukunft Analysen mit längeren Beobachtungsperioden, um die Ergebnisse zu bestätigen. Dennoch ist der nun gelungene Nachweis, dass die Hirnvolumenbestimmung einen validen Surrogatmarker der klinischen Krankheits- progression darstellt, als Fortschritt zu werten. Zusätzlich gewinnen wir aus den neuen Erkenntnissen weitere methodische Sicherheit, dass die Hirnvolumenmessung einen relevanten Endpunkt in Medikamentenstudien bei schubförmiger MS darstellt. Über das Studiensetting hinaus sind Untersuchungen zu Veränderungen des Hirnvolumens sicher auch als Parameter zur Verlaufskontrolle von MS-Patienten in der klinischen Praxis attraktiv. Allerdings ist in dieser Hinsicht noch viel zu tun und Fragen bezüglich der Standardisierung, Reproduzierbarkeit und Sensivitität der Methoden sind zu klären. Ebenfalls werden grosse Normwertkollektive beziehungsweise aussagekräftige Vergleichskollektive von MS-Patienten notwendig sein, bevor zu einem routinemässigen Einsatz von Hirnvolumenparametern in der klinischen Praxis geraten werden kann. Dr. Katrin Weier Dr. Weier arbeitet als Oberärztin an der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsspitals Basel. Quelle: 1. Maria P. Somani et al.: Fingolimod effect on brain volume loss independently contributes to its effect on disability. Mult Scler. 2015 Feb 6. pii: 1352458515569099. [Epub ahead of print] 2. Ludwig Kappos et al.: A placebo-controlled trial of oral fingolimod in relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2010; 362: 387–401. &20 2/2015 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE Geschlechtsbias bei der MS MS hat eine erhöhte weibliche Erkrankungshäufigkeit. Als Ursache werden diverse hormonelle, genetische, epigenetische und Umweltfaktoren diskutiert. Letztlich ist die Ursache nicht bekannt. Cruz-Orengo und Mitarbeiter stellen einen neuartigen Erklärungsansatz vor, der auf geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Integrität der Blut-Hirn-Schranke (BHS) basiert. Die Autoren untersuchten mittels Mikroarray das zerebrale Transkriptom von männlichen und weiblichen SJL-Mäusen, für die eine unterschiedliche Suszeptibilität gegenüber der Experimentellen Autoimmunen Enzephalomyelitis (EAE) bekannt ist. Einer der vier neu identifizierten autosomalen Loci mit sexuellem Dimorphismus war der Sphingosin-1-PhosphatRezeptor 2 (S1PR2), welcher bei weiblichen SJLMäusen insbesondere im Zerebellum vaskulär und perivaskulär exprimiert wird. Nach Induktion einer EAE zeigte sich eine weitere Erhöhung der S1PR2-Expression. S1PR2 reguliert die Integrität der BHS. Die Autoren fanden eine erhöhte vaskuläre Permeabilität in naiven weiblichen Mäusen an Stellen verstärkter S1PR2-Expression, ebenso während der EAE. In einem translationalen Ansatz wurde Postmortem-Gewebe von MS-Patienten untersucht. Dieses wies im Vergleich zu Kontrollen eine verstärkte Expression von S1PR2 im Zerebellum von MS- versus Kontrollpatienten und von weiblichen versus männlichen MS-Patienten auf. Es wird davon ausgegangen, dass die geschlechtsspezifische zerebelläre Expression von S1PR2 zur Störung der Integrität der BHS führt und so zur Krankheitsentstehung beiträgt. Die pharmakologische Inhibierung von S1PR2 wäre damit ein zumindest theoretischer Ansatz einer geschlechterspezifischen Therapie. Fingolimod setzt an S1PR1, 3, 4 und 5 an, jedoch nicht an S1PR2. Cruz-Orengo L et al. Enhanced sphingosine- 1-phosphate receptor 2 expression underlies female CNS autoimmunity susceptibility. J Clin Invest 2014; 124: 2571–2584. 2/2015 PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE 21