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SYMPOSIUM
Schweizer Symposium für Huntington-Krankheit
Diagnostik und Therapie der Huntington-Krankheit
Obwohl in der Schweiz nur rund 800 Personen betroffen sind, stösst die Orphan-
Dr. Gschwandtner betonte, dass es wichtig sei,
krankheit Huntington auf grosses Interesse. Rund 300 Teilnehmer haben am
die Huntington-Krankheit von einem Mild Cognitive Impairment (MCI) abzugrenzen. Ein MCI
Schweizer Symposium für Huntington-Krankheit teilgenommen. Experten stellten neue Erkenntnisse in Therapie, Beratung und Betreuung vor.
gilt als Risikofaktor für eine Demenz, und es wird diskutiert, ob das MCI als ein Risikomarker für eine beginnende Demenz auch bei der
Huntington-Krankheit gelten könnte. Aller-
dings entwickeln nur 15 bis 17 Prozent der Be-
troffenen mit einem MCI tatsächlich eine
D ie Huntington-Krankheit ist die häufigste genetische Form der Chorea. Chorea bezeichnet eine Tanzform mit unwillkürli-
ginnt die Krankheit vor dem 16. Lebensjahr und in 10 Prozent erst im höheren Alter.
Demenz. Als ein auffälliges Merkmal gilt allerdings die reduzierte Geruchswahrnehmung, die auch bei der Parkinson-Krankheit im frühen Stadium vorhanden ist. Sie wird wohl in naher
chen Bewegungsstörungen und plötzlich Neuropsychische und kognitive
Zukunft eher als prodromaler Risikomarker wie
einsetzenden raschen und unregelmässigen Veränderungen
bei der Parkinson-Krankheit diagnostisch ge-
Bewegungen, die manchmal gezielten Bewe- Die kognitiven Störungen können noch früher nutzt werden können.
gungen ähneln können.
beginnen als die motorischen Auffälligkeiten.
Die Prävalenzrate der Huntington-Krankheit sei Insbesondere die Impulsstörungen oder die Andere Symptome
in den letzten 20 Jahren gestiegen, sagte ein- zunehmende mentale Verlangsamung können Bei den motorischen Symptomen kann in
leitend Prof. Jean-Marc Burgunder, Neurologe früh zu Problemen am Arbeitsplatz oder im hyper- und hypokinetische Bewegungsstörun-
in Gümlingen/Bern, der seit Jahrzehnten die sozialen Leben führen. Bereits 15 Jahre vor gen unterschieden werden. Die Chorea ist laut
Neurogenetik der Huntington-Krankheit er- Ausbruch der Krankheit können die Betroffe- Dr. Michael Schüpbach vom Inselspital Bern
forscht, im Vorstand der Schweizerischen nen emotional auffällig werden, so Dr. Ute das Hauptproblem. Sie ist gekennzeichnet
Huntington-Vereinigung tätig ist und das Gschwandtner, Neuropsychologin am Univer- durch unwillkürliche überschiessende Bewe-
Europäische Huntington-Netzwerk leitet. Der sitätsspital Basel. Auch psychiatrische Störun- gungen, die Arme, Beine, den Rumpf und auch
Neurologe vermutet hinter dieser Zunahme gen wie Depression (> 40%), Phobien (rund das Gesicht betreffen können. Meist erst im
ein erhöhtes Risiko aufgrund eines höheren Al- 12%), bipolare Störungen (> 10%) erschweren späteren Krankheitsverlauf kann eine Dystonie
ters der Eltern, aber auch aufgrund einer immer das Krankheitsbild. Zudem ist die Suizidrate dazukommen, die schmerzhaft sein kann; eine
älter werdenden Gesellschaft sowie der verbes- sehr hoch (rund 12%), vor allem im Zeitraum Behandlung mit Botulinumtoxin kann manch-
serten diagnostischen Möglichkeiten.
der eintretenden Symptomatik. Die Therapie mal helfen. Auch die Augenbewegungen (v.a.
Die Prävalenzraten zwischen den Kontinenten neuropsychiatrischer und kognitiver Störungen die Sakkaden) sind betroffen. Sakkaden sind ra-
schwanken stark. Laut Dr. Marcus D’ Souza, sei sehr schwierig, sagte Dr. Ute Gschwandtner. sche Bewegungen der Bulbi zur Blickführung,
Neurologe am Universitätsspital Basel, hängt Erschwerend wirke beispielsweise die emotio- die bei der Huntington-Krankheit verlangsamt
die Prävalenz noch von weiteren Faktoren ab. nale Enthemmung (auch im sexuellen Bereich). sind und nur verspätet initiiert werden können;
Einerseits sei es entscheidend, wie viele Men- Die Betroffenen haben zudem zunehmend zudem kann die gleichzeitige Kopfwendung
schen mehr als 26 CAG-Wiederholungen Schwierigkeiten im Verständnis und in der oft nicht mehr unterdrückt werden.
haben, zudem wie viele Menschen zusätzliche Kommunikation. Zur medikamentösen Be-
genetische Veränderungen aufweisen (ver- handlung empfehlen sich Sulprid, Tetrabena- Genetik
schiedene «Haplotypen») und schliesslich zin, Risperidon, Quetiapin, Olanzapin, selektive Wann soll man Betroffene mit einer Hunting-
auch, wie das Verhältnis von Neumutation aus Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und ton-Krankheit genetisch beraten, und wie vor-
intermediären «Allelen» und Antizipation in Trizyklika.
sichtig muss der Berater sein? Das war die
einer Bevölkerung sind. Antizipation bedeutet,
je mehr CAG-Triplets vorhanden sind, desto frü-
her zeigen sich Krankheitssymptome. Letztlich hängt die Prävalenz auch davon ab, wie viele Menschen einen Gentest durchführen, sodass überhaupt eine genetisch gesicherte Diagnose
Kasten:
Epidemiologie des Huntington-Gens und Abhängigkeit des Phänotyps von der Anzahl CAG-Triplet-Wiederholungen
vorliegt. Die Krankheit wird autosomal-dominant vererbt. Frauen und Männer sind gleichermassen betroffen. Eine sichere Assoziation mit der Schwere der Erkrankung lässt sich auch durch
G < 26 (< 20 bis 26) nicht betroffen G 27 bis 35, sogenannte «intermediate Allele», zunehmendes Risiko der Übertragung, bei zirka 7 Prozent der Bevölkerung G 36 bis 39, reduzierte Penetranz, hohes Risiko der Übertragung, aber mit milderem die genetische Testung nicht vorhersagen. Das Phänotyp, bei zirka 5 Prozent der Bevölkerung Manifestationsalter liegt zwischen dem 35. und G 40 und höher, vollständige Penetranz des Leidens. 40. Lebensjahr; in zirka 10 Prozent der Fälle be- 2/2015 PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE 27 SYMPOSIUM Eingangsfrage von Prof Dr. med. und Dr. phil. II Karl Heinimann, Facharzt für Medizinische Genetik am Universitätsspital Basel. Wichtig sei es, so Prof. Heinimann, dass der Gentest nicht einfach hingenommen werde, sondern es einen Experten habe, der diesen interpretieren und für den Patienten auch übersetzen respektive dessen Bedeutung in Bezug setzen könne. Was hat es beispielsweise zu bedeuten, wenn es 39 und nicht 40 CAG- Wiederholungen hat? Wie wird diese Veränderung über die Generationen bewertet? Was heisst es für einen 35jährigen Mann, wenn die Heterogenität im Sperma erhöht ist? Welche Bedeutung hat das für die Familienplanung? «Oftmals gibt es in der Beratung sehr schwierige Fragen mit sehr grossen Konsequenzen für den Einzelnen und für die Familie», so Prof. Heinimann. Das Ziel der genetischen Beratung muss es aber sein, dass der Betroffene eine autonome Entscheidung fällen kann. Indikationen zur genetischen Testung sieht der Experte dann gegeben, wenn eine Verdachtsdiagnose bestätigt werden soll oder es wichtig ist, mehr über die Ausprägung der Krankheitsveranlagung zu wissen. Zudem kann der Test helfen, möglichst früh eine Unterstützung auch für den Partner oder die Partnerin zu suchen. Und letztlich dient er auch der Familienplanung. Die schwierigen Fragen und einschneidenden Ergebnisse beeinflussen das eigene Leben und sogar das von folgenden Generationen stark. Die genetischen Laborbefunde müssen deshalb fundiert interpretiert werden, und der Arzt muss sich der Tragweite dieser Information bewusst sein. Der Experte empfiehlt, sich Netzwerken und Selbsthilfegruppen anzuschliessen. «Denn ein Betroffener lebt sein ganzes Leben mit der Krankheit.» Prof. Hans Jung wies in seinem Vortrag darauf hin, dass die Huntington-Krankheit eine autosomal dominant vererbte Krankheit ist. Das Resultat eines Gentests, das heisst die Anzahl der CAG-Repeats im Huntingtin-Gen, lässt keinen sicheren individuellen Rückschluss auf Verlauf, Auftreten und Schwere der Symptome zu, so der Neurologe. Bei einem negativen Gentest für die Huntington-Krankheit muss an die sogenannten Huntington-ähnlichen Krankheiten gedacht werden. Ein Chorea-Syndrom kann beispielsweise auch bei NeuroakanthozytoseSyndromem wie dem McLeod-Syndrom oder bei der Choreokanthozythose auftreten. Darüber hinaus seien Chorea-Syndrome Modellkrankheiten in der Neurologie, der Neuropsychologie und der Psychiatrie. Therapie Eine kausale Therapie der Krankheit, die auf die genetische Ursache abzielt, ist derzeit noch immer nicht möglich. Im Vordergrund steht die Linderung der Symptome, die mit der Huntington-Krankheit einhergehen. Huntington sei in viele Zellvorgänge involviert, sagte Prof. Burgunder. Beispielsweise in die Proteinaggregation, die Gentranskription oder die Signalvermittlung. Neuere Studien versuchen, die Proteinaggregation über Kupfer-Chaperone zu vermindern, weil Kupfer an Makroproteine bindet. In Studien zeigen sich erste Ansätze einer verbesserten Kognition – allerdings bei der Alzheimer-Krankheit. Zur Behandlung der Hyperkinesien werden verschiedene Substanzen eingesetzt, allerdings existiert nur für Tetrabenazin eine ausreichende Studienlage. Tetrabenazin führte zu einer Verbesserung der Chorea und der Funktion. Obwohl auch zur Behandlung der psychiatrischen Symptome kaum Studien existieren, haben sich Antidepressiva als gut wirksam erwiesen. Es empfehlen sich SSRI. Substanzen zur Verbesserung der kognitiven Symptome zeigen wenig Wirksamkeit. Bei Apathie zeigte einzig Bupropion eine Wirkung. Pflegewohngruppen für Betroffene Im Krankheitsverlauf nehmen nicht medikamentöse Massnahmen an Bedeutung zu. Beispielsweise können Coping- und Verhaltensstrategien, wie sie etwa im Rahmen einer Psychotherapie erlernt werden, und Hilfen zur Tagesstrukturierung einen wichtigen Beitrag leisten. Die Physiotherapie sollte symptomge- recht eingesetzt werden. Nach jahrelangem Krankheitsverlauf mündet die Huntington- Krankheit in die vollständige Pflegebedürftig- keit. Meist ist nach der Versorgung durch den Partner dann eine spitalexterne Pflege notwen- dig, und im weiteren Verlauf kommt die Heim- einweisung infrage. Der Fachangestellte Gesundheit, Yanik Stebler, stellte eine solche Pflegewohngruppe (PWG) im Siloah in Gümli- gen/Bern vor. Rund zehn Mitarbeitende sind für neun Huntington-Betroffene zuständig. In der PWG sind sowohl Dauer- als auch Entlas- tungsaufenthalte möglich. Das Personal ist geschult im Aggressionsmanagement und schirmt den Betroffenen – wenn nötig – gezielt vor zu vielen Reizen ab. Auch die Infrastruktur ist vollständig auf die Betreuung der Hunting- ton-Patienten zugeschnitten: Die Becher habe eine Nasenaussparung, spezielle Huntington- Sessel erlauben ein sicheres Sitzen trotz cho- reatischer Bewegungen, und Kugeldecken sorgen für eine bessere körperliche Wahrneh- mung. Zentral ist es, Freiheit zu bewahren und Normalität zu erhalten, so Stebler. Abschliessend lässt sich sagen, dass es neuere Erkenntnisse zu Prävalenz, Diagnostik und The- rapie der Huntington-Krankheit braucht. Diese erhoffen sich Experten über die Arbeit des Eu- ropäischen Huntington-Disease Networks (EHDN). Patientenregister wie das REGISTRY des EHDN sind eine wichtige Grundlage, um grosse Patientenpopulationen für prospektive Thera- piestudien zu rekrutieren. Denn erst die erfolg- reiche Testung neuer Substanzen im Rahmen grosser klinischer Studien wird zeigen, inwie- weit diese in der Lage sein werden, die vielfäl- tigen Symptome der Huntington-Krankheit erfolgreich zu kontrollieren und den Krank- heitsverlauf günstig zu beeinflussen. G Annegret Czernotta Quelle: Schweizer Symposium für Huntington-Krankheit vom 29.1.2015 in Olten. &28 2/2015 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE