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FORTBILDUNG
Integrierte Versorgung: Ein aktueller Trend in der medizinischen Versorgung
Zahlreiche Umstrukturierungen oder gar gesundheitspolitische Reformen streben nach einer Verbesserung der Integration medizinischer Dienstleistungen. Diese gewünschte Verbesserung basiert jedoch häufig auf einer unzureichenden wissenschaftlichen Evidenz. Der Artikel nimmt sich möglichen Formen und Definitionen der integrierten Versorgung im Bereich der Psychiatrie an und gibt einen kurzen Überblick über den gegenwärtigen Erkenntnisstand.
Stefanie Gairing
Stefanie Gairing
« D ie Bildung integrierter Versorgungsmodelle wird in allen Bereichen unterstützt», so lautet eine kurze, aber wesentliche Aussage über die gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates (1). In ganz Europa bemühen sich verschiedene Länder um eine Neuorganisation der psychiatrischen Versorgung, um sowohl die Effektivität der Behandlung zu verbessern als auch die Kostensteigerung einzudämmen. Grundsätzlich ist das verständlich, erleiden doch innerhalb eines Jahres 38,3 Prozent der europäischen Bevölkerung – inklusive der Schweiz – eine psychiatrische Erkrankung (2). Im Laufe ihres Lebens ist sogar jede zweite Person von einer psychischen Krankheit betroffen (3). Die Gesellschaft muss hierdurch hohe Kosten tragen, nicht nur durch die medizinischen Behandlungskosten, sondern auch durch den Produktivitätsverlust Betroffener (4).
Begriffsdefinition(en) Der Begriff Integrierte Versorgung wird häufig gebraucht, trotzdem ist nicht immer klar, was darunter zu verstehen ist. Das mag daran liegen, dass insbesondere in der Psychiatrie zahlreiche Aspekte «integriert», das heisst unter einer gemeinsamen Führungs- oder Organisationsstruktur sinnvoll zusammengeführt werden können. In unserem Fachgebiet sind das vor allem: G die internistische und die psychiatrische fachärztli-
che Versorgung G die somatische und die psychiatrische Versorgung G die allgemeinpsychiatrische Versorgung und die Ver-
sorgung von Abhängigkeitserkrankungen G die Gesundheits- und Sozialeinrichtungen G verschiedene psychiatrische Einrichtungen.
Die Rationale für eine Integrierte Versorgung ist naheliegend. Psychische Erkrankungen sind oft rezidivierend oder chronisch und erfordern komplexe und flexible Be-
handlungen. Auch konzeptionell erscheint eine zentrale Koordination der Behandlung, die auch gleichzeitig Kontinuität bietet, sinnvoll. Insbesondere die Kontinuität in der Behandlung wird von Patienten wie Behandlern immer wieder als zentraler Aspekt einer zufriedenstellenden Versorgung genannt (5, 6).
Organisatorische und klinische Integration Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Integrierte Versorgung praktisch umzusetzen. Man kann sowohl organisatorisch wie auch klinisch «integrieren». Bei der organisatorischen Integration kann zum Beispiel eine einzige Trägerorganisation für alle Einrichtungen eingesetzt werden, wie das zum Beispiel beim britischen National Health Service der Fall ist. Oder verschiedene Trägerorganisationen, wie zum Beispiel ein gemeindepsychiatrischer Verbund, können sich koordinieren oder zusammenarbeiten. Auch andere organisatorische Verbindungen zwischen den Einrichtungen sind denkbar. Unser besonderes Augenmerk in der Psychiatrie gilt aktuell den Möglichkeiten der klinischen Integration. So können Patienten von einem einzigen Betreuer (engl. Case Manager) über alle Einrichtungen hinweg betreut werden. Oder ein multidisziplinäres Behandlungsteam begleitet «seine» Patienten durch die gängigen Settings der stationären, der tagesklinischen und der ambulanten Behandlung und nimmt sich dabei kontinuierlich der medizinischen, der therapeutischen und der sozialarbeiterischen Belange des Patienten an. Diese Ansätze der klinischen Integration kontrastieren mit der aktuellen Realität der Versorgungslandschaft, die vor allem von einer Spezialisierung auf ein Setting geprägt ist. Das heisst, ein Patient wird für gewöhnlich entweder von seinem niedergelassenen Psychiater ambulant betreut oder von einem multidisziplinären Team im Rahmen einer (teil-)stationären Behandlung in einer Klinik. Letzteres entspricht einem sogenannten funktionellen Versorgungssystem.
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Funktionelles und integriertes Versorgungssystem Aus den genannten Beispielen lassen sich Definitionen für das funktionelle und das integrierte System der klinischen Versorgung herleiten. Im Rahmen eines integrierten Systems wird personelle Kontinuität in der Behandlung angeboten. Im Gegensatz dazu zeichnet sich das funktionelle System durch eine weitere Spezialisierung aus. Über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Systeme wird häufig eine zum Teil emotionale Debatte geführt, die jedoch nur bedingt auf wissenschaftlicher Evidenz fusst. Und genau hier liegt im Moment ein grosses Problem: Es ist der relative Mangel an Wissen, der verhindert, dass sich etwaige gesundheitspolitische Entscheidungen über die Gestaltung der psychiatrischen Versorgung fällen liessen. In einer systematischen Übersichtsarbeit (7) bemühen sich die Autoren um die Beantwortung der Frage, ob ein funktionelles oder ein integriertes Versorgungssystem für die Patienten vorteilhafter ist. Ihre gründliche Literaturrecherche erbrachte gerade einmal 17 geeignete Arbeiten, und diese enthielten alle methodische Unzulänglichkeiten. Trotzdem legen die Ergebnisse nahe, dass bei einer Integrierten Versorgung die Verweildauer im Spital kürzer und die Übergänge zwischen den verschiedenen Settings schneller und flexibler sind. Allerdings zeigen eigene Untersuchungen auch, dass Patienten im Rah-
Merkpunkte:
G Die Bildung integrierter Versorgungsmodelle gehört zu den gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates.
G Integrierte Versorgung in der Psychiatrie ist kein exakt definierter Terminus technicus, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene Möglichkeiten der Zusammenführung von Organisation und Führung verschiedener Einrichtungen und Aspekten der psychiatrischen Versorgung.
G Die Rationale für eine Integrierte Versorgung lässt sich aus den komplexen Erfordernissen der Behandlung psychisch Kranker sowie einer zentralen Behandlungskoordination ableiten.
G Aktuell herrscht in der Schweiz ein vorwiegend funktionelles Behandlungssystem vor, jedoch gibt es zunehmende Ansätze der klinischen wie auch der organisatorischen Integration in der psychiatrischen Versorgung.
G Die wissenschaftliche Evidenzbasis lässt aufgrund der qualitativ unzureichenden Datenlage noch keine sichere Schlussfolgerung bezüglich des integrierten im Vergleich zum funktionellen Versorgungssystem zu.
G Bis zum Vorliegen überzeugender Untersuchungsergebnisse empfiehlt es sich, von umfangreichen und kostenintensiven Neuorganisationen der psychiatrischen Versorgungslandschaft abzusehen.
men integrierter Versorgungsmodelle rascher wieder in die stationäre Behandlung eintraten (8). Weitere Ergebnisse aus qualitativen Arbeiten und Befragungen, wie sie im Rahmen der systematischen Übersichtsarbeit zusammengefasst werden, zeigen wiederum Vorteile beider Systeme auf (7). Eine wirtschaftliche Bewertung der Versorgungsmodelle im Vergleich erbrachte aus ökonomischer Sicht keinen relevanten Unterschied, das heisst, Kosten und Nutzen hielten sich die Waage (9). Patienten und Mitarbeiter hingegen bevorzugen ein integriertes Behandlungsmodell (7). Aus Sicht der Autoren dieser Übersichtsarbeit liess die Qualität der vorliegenden Evidenz keine finalen Schlussfolgerungen zu. Vielmehr besteht nach wie vor ein grosser Bedarf an qualitativ hochwertigen Untersuchungen, um diese Frage abschliessend beantworten zu können.
Fazit
Wissenschaftlich existiert derzeit keine ausreichende
Evidenzbasis zum Beweis einer Überlegenheit der Inte-
grierten Versorgung. Von weitreichenden und kostspie-
ligen Reorganisationen muss man angesichts dieser
Tatsache noch absehen. Die gezielte Etablierung inte-
grierter Versorgungsmodelle innerhalb eines Versor-
gungssystems kann dennoch sinnvoll sein, um das
bestehende System weiterzuentwickeln. Sie sollte je-
doch mit einer kritischen Überprüfung in Form einer
wissenschaftlichen Untersuchung mit anschliessender
Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse verbun-
den werden.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. Stefanie Gairing, M. Sc.
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm Klein-Strasse 27
4012 Basel
E-Mail: stefanie.gairing@upkbs.ch
Literatur:
1. Die gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates. Gesundheit2020 (http://www.bag.admin.ch/gesundheit2020/index.html? lang=de)
2. Wittchen HU, Jacobi F, Rehm J, Gustavsson A, Svensson M, Jonsson B, Olesen J, Allgulander C, Alonso J, Faravelli C et al.: The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European neuropsychopharmacology: the journal of the European College of Neuropsychopharmacology 2011, 21(9): 655–679.
3. Wittchen HU, Jacobi F: Size and burden of mental disorders in Europe – a critical review and appraisal of 27 studies. European neuropsychopharmacology: the journal of the European College of Neuropsychopharmacology 2005, 15(4): 357–376.
4. WHO: The global burden of disease: 2004 update. 2008.
5. Adair CE, McDougall GM, Mitton CR, Joyce AS, Wild TC, Gordon A, Costigan N, Kowalsky L, Pasmeny G, Beckie A: Continuity of care and health outcomes among persons with severe mental illness. Psychiatr Serv 2005, 56(9): 1061–1069.
6. Burns T, Catty J, White S, Clement S, Ellis G, Jones IR, Lissouba P, McLaren S, Rose D, Wykes T: Continuity of care in mental health: understanding and measuring a complex phenomenon. Psychological medicine 2009, 39(2): 313–323.
7. Omer S, Priebe S, Giacco D: Continuity across inpatient and outpatient mental health care or specialisation of teams? A systematic review. Unpublished data.
8. Theodoridou A, Hengartner MP, Gairing SK, Jäger M, Ketteler D, Kawohl W, Lauber C, Rössler W: Evaluation of a new person-centred integrated care model. Psychiatric Quarterly, In press.
9. Gairing SK, Grieve RD, Jäger M, Kawohl W, Theodoridou A, Rössler W: Economic evaluation of a novel model of integrated mental health care for adults with acute psychiatric disorders. Under review.
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