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Neue Wohn- und Lebensformen für Menschen mit Demenz
FORTBILDUNG
Die Zahl der Menschen mit einer Demenzerkrankung wird in den nächsten Jahrzehnten stark steigen. Bei der Betreuung dieser Menschen gewinnen neue und spezialisierte Wohnformen an Bedeutung.
von Annegret Czernotta
R und 110 000 Personen sind in der Schweiz an einer Demenz erkrankt, wobei nur ein Drittel tatsächlich eine Demenzdiagnose hat. Menschen mit einer demenziellen Erkrankung können im frühen oder mittleren Stadium der Krankheit in der Regel noch in ihren eigenen vier Wänden leben, das sind laut Statistik etwa zwei von drei Demenzkranken. Diese Zahl zeigt den Wunsch der meisten Menschen auf, im Alter in der gewohnten Umgebung zu bleiben. Die Betreuung und Pflege demenziell erkrankter Menschen ist aufwendig und erfordert viel Empathie. Viele Angehörige benötigen zur Entlastung weitere Pflegeformen. Eine Möglichkeit ist beispielsweise das betreute Wohnen. In den letzten Jahren sind neue Lebens- und Wohnformen hinzugekommen*.
Demenzdorf Hogewey Für die einen ist es ein Ghetto, für andere ein Vorzeigemodell zum Nachahmen: Die holländische Siedlung Hogewey für schwer demenziell Erkrankte spaltet die Geister. Das Wohnareal ist wie ein Dorf konzipiert, in dem 150 Demenzkranke in 23 Wohngruppen auf 15 000 Quadratmetern zusammenleben. Die Siedlung hat ein Restaurant, einen Supermarkt, einen Coiffeursalon, einen Fitnessraum, eine Galerie und ein Vereinslokal. Die Fusswege sind breit angelegt, weshalb sich die Bewohner freier bewegen können. Das Leben im Demenzdorf ist ganz auf die Bewohner ausgerichtet: Die Angestellten im Restaurant oder Café sind Pflegekräfte, die sich um die Demenzkranken kümmern, treten aber nicht als solche in Erscheinung. Jede der Wohngruppen mit 6 Bewohnern ist zudem durch einen bestimmten Lebensstil geprägt. So gibt es die städtische, ländliche, handwerkliche, kulturelle, gehobene, christliche und auch die exotische Wohnvariante. Wer beispielsweise Kunst und Kultur liebt, wohnt mit den anderen Bewohnern in der sogenannten «Kultur-WG» zusammen.
*Der Beitrag stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit bei der Vorstellung neuer Lebens- und Wohnformen.
Demenzdorf Wiedlisbach Unter Fachleuten ist die Siedlung Hogewey umstritten. Kritisiert wird, dass Wegsperren keine Lösung sei und Demenzkranke in bestehende Strukturen integriert werden müssten. Die Befürworter sehen in Hogewey hingegen einen Schutzraum, der es Demenzkranken erlaubt, sich frei zu bewegen. An einem ähnlichen Konzept – angepasst an Schweizer Verhältnisse – ist das Verwaltungsratsmitglied Urs Lüthi von der Dahlia Oberaargau AG interessiert. «Ich bin von der Umsetzung in Hogewey beeindruckt», sagt Urs Lüthi, der das holländische Demenzdorf bereits mehrere Male besucht hat. «Eine solche Lebenssituation trifft man sonst für demenziell erkrankte Menschen nicht an.» Fasziniert ist er insbesondere von den vielfältigen Möglichkeiten und der Offenheit – auch der räumlichen – in Hogewey. «Das Zusammenleben erinnert an grossfamiliäre Strukturen», so Lüthi. Allerdings helfen zahlreiche Freiwillige mit, dieses hohe Sozialniveau zu erhalten. Die Dahlia Oberaargau AG führt Institutionen für die Pflege und Betreuung von meist hochbetagten Menschen in Niederbipp, Herzogenbuchsee, Huttwil und Wiedlisbach. Ein ähnliches Projekt wie Hogewey plant die Dahlia Oberaargau AG für rund 100 Menschen. Der erste Spatenstich soll im bernischen Wiedlisbach auf Ende 2016/Anfang 2017 erfolgen. Die Finanzierung des Projektes ist bereits weitgehend gesichert. Allerdings sind noch viele Fragen offen. «Um Erkenntnisse zu sammeln, sind deshalb erst einmal zwei Pilotwohngruppen geplant», sagt Urs Lüthi. Sieben weibliche und sieben männliche, schwer demenziell erkrankte Menschen sollen ab Anfang 2015 in Wiedlisbach in den zwei gemischten Wohngruppen zusammenleben. Geplant sind beispielsweise ländliche und städtische Wohn- und Lebensstilgruppen, die vor 30 bis 40 Jahren in der Schweiz üblich waren. «Ob es diese biografischen Hintergründe braucht, ist allerdings noch offen, das werden unsere Erfahrungen zeigen», sagt Urs Lüthi. Geprüft werden soll auch, ob der Berner Stellenplan für die Führung eines Demenzdorfes ausreichend ist, beziehungsweise welche infrastrukturellen Leistungen wie Wäscherei, Reinigung oder Hauswirtschaft allenfalls zu zentralisieren sind. «Die Pilotwohngruppe dient uns dazu, kritische
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Fragen zu stellen und das Konzept in der Realität zu prüfen», sagt Urs Lüthi. Trotz etlicher Unsicherheiten ist er von der Notwendigkeit eines Demenzdorfes überzeugt, «weil der Dorfcharakter den Dementen Sicherheit und Freiheit gibt». Auch die Schweizerische Alzheimervereinigung unterstützt das Projekt, weil ein Dorf wie ein spezieller Schutzraum wirkt und den Bewohnern Sicherheit vermitteln kann. Eine Abgrenzung, oftmals ein genannter Kritikpunkt am Demenzdorf Hogewey, liegt laut Geschäftsleiterin Birgitta Martensson auch in Pflegeheimen vor. Aber für die Alzheimervereinigung ist noch ein weiterer Grund für ein Demenzdorf entscheidend: «Je mehr Wahlmöglichkeiten es für Menschen mit Demenz gibt, desto besser werden wir den Betroffenen gerecht. Nicht alle passen in das gleiche Versorgungsmodell», sagt Birgitta Martensson.
Pilotprojekt «Colocation Alzheimer» Ein weiteres Pilotprojekt ist beispielsweise auch das «Colocation Alzheimer», eine Demenz-Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz, in den Kantonen Waadt und Wallis. Die Schweizerische Alzheimervereinigung hat bei «Colocation Alzheimer» die Machbarkeitsstudie finanziert und übernimmt die Kosten für die Projektleitung mit einem Budget von 250 000 Franken über drei Jahre verteilt. Die demenziell Erkrankten brauchen in dieser Wohngemeinschaft Betreuung und Begleitung, weil sie nicht mehr alleine zu Hause leben können, allerdings sind für die Betroffenen ein Eintritt ins Pflegeheim und die damit verbundenen spezialisierten Leistungen aus rein pflegerischer Sicht noch nicht zwingend notwendig. Geplant sind zwei Pilotprojekte für je sechs Bewohner. Nach einer dreijährigen Pilotphase soll das Projekt bei positivem Abschluss schweizweit gefördert werden. Bei Colocation Alzheimer hat jeder Bewohner ein eigenes Zimmer, das mit den persönlichen Gegenständen möbliert und eingerichtet ist. Tagsüber sind bis zu zwei Betreuer in der Wohnung, nachts sind Nachtwachen anwesend. Ein pflegerisches Diplom ist nicht zwingend notwendig, aber fundiertes Wissen über Demenz. Für die ärztlich verordnete Pflege ist weiterhin die Spitex zuständig. Auch der Kontakt mit dem jeweiligen Hausarzt bleibt bestehen. Wenn eine Person den Kriterien nicht mehr entspricht, beispielsweise dann, wenn der Pflegeaufwand zu gross wird oder Verhaltensstörungen der Person nicht mehr mit dem Gruppenleben vereinbar sind, ist die Verlegung in eine spezialisierte Institution vorgesehen. Neben der Monatsmiete übernehmen die Bewohner – wie zuvor auch – die Alltagskosten (Essen, Telefon etc.). In einer Wohngemeinschaft mit sechs Bewohnern wird mit monatlichen totalen Kosten von rund 6000 Franken pro Bewohner gerechnet.
Projekt «Zugehende Beratung» Ein weiteres Projekt ist die «Zugehende Beratung» der Alzheimervereinigung Aargau, die seit 2012 existiert. Berater der Alzheimervereinigung nehmen Kontakt zu den betroffenen Familien auf, machen Hausbesuche und bringen so die ganze Familie, aber auch andere Bezugspersonen zusammen. Aktuell werden rund 150 Familien zugehend beraten. Innerhalb von zwei Jahren erfolgten 272 Hausbesuche, 184 Beratungen auf der
Geschäfts- und Beratungsstelle in Brugg sowie 435 telefonische Beratungsgespräche.
Sonnweid, das Heim Als Pionier der Versorgung demenziell erkrankter Menschen gilt Michael Schmieder, Heimleiter der Sonnweid in Wetzikon (ZH). Das Heim spezialisiert sich seit fast 30 Jahren auf die Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz. Es bietet in verschiedenen Wohnformen Raum für 155 stationäre Bewohner. Die Tag/Nacht-Station entlastet betreuende Angehörige mit Kurzaufenthalten. Das Heim gilt als eine der weltweit führenden Institutionen für Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz. Auch Michael Schmieder ist davon überzeugt, dass kein Mensch ein Bedürfnis hat, nach einem Modell gepflegt zu werden. «Menschen mit Demenz haben keine anderen Bedürfnisse als Menschen ohne Demenz», ist der Heimleiter überzeugt. «Das Bedürfnis nach Nähe, Beziehung und Liebe bleibt gleich.» Die Sonnweid hat sich in der Betreuung auf das demenztypische Erleben der Betroffenen ausgerichtet, was sich insbesondere architektonisch auswirkt. Im ersten Weiterungsbau aus dem Jahr 1994 wurde ein klassischer Pflegehaustrakt gebaut. Neu war am damaligen Konzept, dass beispielsweise eine unendliche Schlaufe dem Bewohner genügend Bewegungsraum bietet. Bei der Erweiterung 2 wurde diese in eine geschossverbindende Rampe gewandelt. Mit der Erweiterung 3, die 2012 abgeschlossen wurde, stand das Thema Wohnlichkeit im Zentrum. Neu hat jedes Zimmer eine Art Eingangsportal; Wandschränke dienen als optische Trennung zum privaten Bereich. Zur Gestaltung und Anregung von Kranken und Gesunden wurden die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde ins Gebäude integriert. Beispielsweise wurden in der Rampe ein Wasserspiel und ein Baum integriert. Feuer kommt bei den Nischen mit den beiden Cheminées zum Einsatz. Zudem wurde Kunst spielerisch im Bau einund umgesetzt. In den Zimmern selber sind die Decken mit welligen Formen farbig gestaltet. Die Rampe bildet mit einem kräftigen Rot-Ton einen visuellen Orientierungspunkt im Inneren des Gebäudes. Dem Erleben des demenziell Erkrankten gerecht zu werden, war für den Ausbau zentral. «Menschen mit Demenz leben im Hier und Jetzt», ist Michael Schmieder überzeugt. Deshalb ist für ihn die Biografie des Betroffenen nicht ausschlaggebend für die Betreuung: «Wir möchten wissen, wie jemand aufgewachsen ist. Aber was damals war, muss für heute nicht relevant sein. Wenn jemand Vegetarier gewesen ist, muss er dies aufgrund der demenziellen Erkrankung nicht bleiben.» Deshalb findet Michael Schmieder die Idee eines Demenzdorfes kaum durchführbar: «Die Menschen leben im Jetzt, dem muss man sich in der Betreuung anpassen.» Im Vordergrund steht für Michael Schmieder die Beziehungsarbeit: «Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb in Hogewey weniger Medikamente zur Beruhigung nötig sind und nicht der dörfliche Charakter.» Auf Ende Sommer 2015 ist die Fertigstellung der Erweiterung 4 geplant. Neben einer neuen Oase, einer Wohngruppe und einer neuen Grossküche mit Cafeteria sind auch zwei Gästezimmer geplant. Dort können Angehö-
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rige Ferien machen oder wichtige Bezugspersonen in
der Nähe des Betroffenen sein.
Letztendlich gilt: Je mehr Wahlmöglichkeiten es für
Menschen mit Demenz gibt, desto eher wird das den
Bedürfnissen der Betroffenen gerecht. Und der Bedarf
nach neuen Konzepten steigt – einfach aufgrund der
immensen Zunahme an Menschen mit einer demen-
ziellen Erkrankung.
G
Annegret Czernotta
Weitere Infos zum Thema Demenz, Demenzstrategie: Internet: www.alz.ch, Website der Schweizerischen Alzheimervereinigung Internet: www.bag.admin.ch/themen/gesundheitspolitik/ 13916/14813/index.html?lang=de
Nationale Demenzstrategie
Ende November 2013 verabschiedeten Bund und Kantone die «Nationale Demenzstrategie 2014–2017». Die Schweizerische Alzheimervereinigung hat sich seit vielen Jahren für eine solche Strategie eingesetzt. Die Demenzstrategie identifiziert Handlungsfelder und definiert Ziele: Der Zugang zu Information und Beratung für Betroffene und Angehörige soll erleichtert werden, Entlastungsangebote für die Betreuenden zu Hause sollen auf- und ausgebaut, Früherkennung und Diagnose verbessert und die stationäre Langzeitpflege soll optimiert werden. Ob die Umsetzung erfolgt, wird sich auf Kantonsund Gemeindeebene entscheiden.
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