Transkript
Soziale Isolation überwinden: ein Autismus-Fallbericht aus dem FIAS-Therapiezentrum
DER BESONDERE FALL
von Evelyn Herbrecht, Diana Dima, Esther Kievit
Fallbeschreibung
Ben sahen wir erstmals im Alter von 30 Monaten in der Autismus-Spezialsprechstunde der KJPK Basel. Es bestanden neben einer Sprachentwicklungsverzögerung keine (neuro-)pädiatrischen Auffälligkeiten. Den Eltern war erstmals im Alter von 12 Monaten aufgefallen, dass Ben kein Interesse an Spielzeug, dafür aber an elektrischen Haushaltsgeräten und Türen zeigte. Auch sei er auffallend scheu gewesen und habe kein Interesse am Kontakt mit anderen Menschen – ausser den Familienmitgliedern – gezeigt. Selbst auf sie reagierte er oft nicht. Er beschäftigte sich stereotyp mit Gegenständen. Bei Frustration geriet er leicht in Wutausbrüche mit Weinen, Schreien und Schlagen. Bei Therapiestart im Alter von 32 Monaten hatte er gerade angefangen, einzelne Worte zu sprechen, tat das aber nicht in kommunikativer Weise. Die autismusspezifische Abklärung (u.a. mit ADOS [2], ADI-R [3]) ergab die Diagnose frühkindlicher Autismus, der kognitive Entwicklungsstand entsprach einem 19 Monate alten Kind.
Therapieverlauf
Zu Beginn der Intensivtherapie reagierte Ben kaum auf Kontakt- und Spielangebote. Im Therapieraum beschäftigte er sich hauptsächlich mit repetitiven Bewegungsspielen und stereotyper visueller Stimulation (Licht, Spiegel). Deutliche Therapiefortschritte während der Intensivtherapie zeigten sich in einer quantitativen wie qualitativen Zunahme von Blickkontakt, Imitation, Initiative, wechselseitigem Spiel, modulierter Mimik und Selbstständigkeit. Zeitgleich erfolgte eine Reduktion stereotyper und aggressiver Verhaltensweisen. Ben be-
Kasten:
Das FIAS-Therapiezentrum
Das FIAS-Therapiezentrum (Frühintervention bei autistischen Störungen) der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Basel richtet sich an Familien mit einem autistischen Kleinkind. Das FIAS-Konzept leitet sich aus der in Israel entwickelten Mifne-Methode ab (1). Im tagesklinischen Setting erfolgt eine dreiwöchige tägliche Intensivbehandlung des autistischen Kindes sowie von Eltern und Geschwistern. Im Rahmen der mindestens einjährigen Nachsorge mit einem FIASTherapeuten werden die erreichten Therapieschritte zu Hause und in weiterbetreuenden Institutionen fortgeführt und ausgebaut. Zentrales Therapieelement ist eine an der sozialen Beziehungsmotivation ansetzende Spieltherapie. Internet: www.autismus-fias.ch
gann 2 bis 3 Wortsätze in kommunikativer Form zu verwenden, und zeigte erste Ansätze eines Symbolspiels. Die Eltern lernten insbesondere, wie sie Ben Kontrolle, Sicherheit und Konsequenzen vermitteln konnten. Im ersten Abschnitt der Nachsorge thematisierten die Eltern vor allem die täglichen Spielsequenzen mit Ben, den Umgang mit Sprache und selektivem Essverhalten sowie aggressive Verhaltensweisen im Kindergarten. Mittels gemeinsamer Analyse zugesandter Videosequenzen wurden die Eltern von ihrem Bezugstherapeuten konkret zu den Situationen zu Hause beraten. Die schrittweise Integration in den Regelkindergarten gelang problemlos; Ben zeigte zunehmend Interesse an Sprache, Symbolspiel und anderen Kindern. 8 Monate nach der Intensivtherapie erfolgte ein einwöchiges Fresh-up. Die Schwerpunkte konzentrierten sich bei Ben auf die Stärkung der Autonomie, der Flexibilität und der Frustrationstoleranz durch Arbeit an Verhandlungskomponenten (Wunschäusserung, Bedürfnisaufschub, Kompromisse). Die Schulung der Eltern fokussierte auf das Erkennen, das Analysieren und das Einordnen von Ausdrucks- und Verhaltensweisen ihres Sohnes, um sein Verhaltensspektrum vorhersehen und angemessen darauf reagieren zu können. Ben war vom ersten Tag an aufmerksam und initiierte Blickkontakt. Im Verlauf der Woche verwendete er 5 bis 6 Wortsätze. Trotz Interesse traten wiederholt Unterbrechungen in der Interaktion auf. Das zeigte, dass Ben nach wie vor Impulse des Gegenübers für Wechselseitigkeit und Handlungsabläufe benötigte. In der anschliessenden Nachsorgephase gelang es, die Fähigkeiten zur Selbstregulation auszuweiten, sodass die bereits reduzierten selbst- und fremdaggressiven Verhaltensweisen komplett verschwanden. 2 Jahre und 4 Monate nach der Intensivtherapie erfolgte die letzte Standortbestimmung. Inzwischen hat Ben einen Kindergartenwechsel gut gemeistert, und die Einschulung steht bevor. Die letzten Homevideos zeigten, dass Ben noch immer sehr von technischen Apparaten fasziniert war, aber adäquat auf Ansprache reagierte und sich von den Objekten lösen konnte. Besonders zu erwähnen sind die inzwischen entwickelte Orientierung an sozialen Reizen, die spontane Imitation und ein differenzierter Ausdruck von Gefühlen. Beispielsweise zeigte eine Aufnahme, wie Ben sich in der Musikgruppe an den anderen Kindern orientierte, das Händeklatschen aufgriff und mit sichtbarer Freude lächelte. Wir haben Bens Entwicklung über insgesamt 2½ Jahre seit Therapiebeginn (T0) verfolgt. Nachuntersuchungen fanden 8 (T2) sowie 30 (T3) Monate nach der Intensivbehandlung statt.
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
DER BESONDERE FALL
Im ADOS zeigte sich eine Reduktion der Symptomschwere (Severity-Score der ADOS-2-Normen [4]) von 5 auf 4, Ben erfüllt derzeit noch die Kriterien für das Autismusspektrum, aber nicht mehr für frühkindlichen Autismus. Abbildung 1 zeigt die deutliche Zunahme seines Funktionsniveaus, gemessen mit der DD-C-GAS, das im Bereich der alltagspraktischen Fertigkeiten und der Kommunikation am grössten ist. Die elterliche Stressbelastung hat ebenfalls abgenommen (Gesamt-T-Score < 60 bei der Mutter und 1 Punkt über 60 beim Vater an T3). Bens Entwicklungsalter (SON-R 2,5–7) liegt zurzeit bei 47 Monaten bei einem chronologischen Alter von 60 Monaten. Die Interaktion zwischen Therapeut und Kind wurde an drei Messzeitpunkten (T1-a, -b, -c) während der Intensivtherapie und an zwei Messzeitpunkten während des Fresh-ups (T2-a, -b) anhand von Videoaufzeichnungen analysiert. Die jeweils 10-minütigen Videosequenzen einer semistrukturierten Therapiesituation wurden anhand des Interact-Programm-basierten Instrumentes – des Autism-Behaviour-Coding-Systems (ABCS, Dima & Herbrecht, in Vorbereitung) – von einer therapieunabhängigen, auf Autismus spezialisierten Psychologin ausgewertet. Die Videosequenzen waren jeweils verblindet in Bezug auf den Messzeitpunkt während der Therapie. Wir haben das ABCS als ein objektives Auswertungsinstrument von autismusspezifischen Verhaltensweisen in Interaktionssituationen zwischen Kind und Erwachsenem entwickelt. Die Auftretenshäufigkeit oder die Dauer der folgenden Verhaltensweisen wird anhand einer fortlaufenden Kodierung erfasst: Blickkontakt, gemeinsame Aufmerksamkeit, Ausdruck von Wünschen, Imitation, Antworten/Reaktionen, verbale Kommunikation, positiver sozialer Affekt und repetitive Verhaltensweisen. In allen beschriebenen Bereichen zeigten sich deutliche Fortschritte während der Intensivbehandlung und des Fresh-ups, am deutlichsten in einer Zunahme der Blickkontakthäufigkeit und der Reduktion der Dauer repetitiver Verhaltensweisen (siehe Abbildung 2 und 3). Abbildung 4 zeigt gemeinsame Freude anhand von gleichzeitig auftretendem Blickkontakt mit positivem Affekt am letzten Tag des Fresh-ups (T2-b). Diskussion Der vorliegende Fallbericht illustriert die intensive Früh- interventionsmethode (FIAS) anhand eines Fallbeispiels. Neben deutlichen Verbesserungen in Bezug auf alltags- praktische Fertigkeiten zeigte sich insbesondere eine Verbesserung bei autistischen Kernsymptomen wie Blickkontakt, gemeinsame Aufmerksamkeit, kommuni- kative Sprache und soziales Spiel. Die kontinuierliche dreiwöchige Intensivbehandlung hat bei Ben einen Ent- wicklungssprung angestossen, den es im Rahmen der Nachsorge zu festigen und weiter auszubauen gilt. Dieser Entwicklungssprung ist der Anfang einer Hinwendung zur sozialen Umwelt, die das weitere soziale Lernen be- deutsam und nachhaltig beeinflussen kann. G Abbildung 1: Funktionsniveau (DD-C-GAS [5]) zu den Zeitpunkten T0, T2 und T3 Abbildung 2: Häufigkeit des Blickkontaktes Abbildung 3: Dauer der repetitiven Verhaltensweisen Korrespondenzadresse: Dr. med. Evelyn Herbrecht Oberärztin Leitung Autismus-Sprechstunde/ FIAS-Therapiezentrum KJPK – Poliklinik Schaffhauserrheinweg 55 4058 Basel E-Mail: Evelyn.Herbrecht@upkbs.ch Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel: Internet: www.upkbs.ch Quellen: 1. Alonim H.: The MIFNE method – Israel. Early intervention in the treat- ment of autism/PDD: A therapeutic programme for the nuclear family and their child. J Child Adolesc Ment Health 2004; 16: 39–43. 2. Rühl D. et al.: ADOS, Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen. 2004; Bern: Huber. 3. Bölte S. et al.: Diagnostisches Interview für Autismus – revidiert (ADI-R). 2006; Bern: Huber. 4. Lord C et al.: Autism Diagnostic Observation Schedule, Second Edition (ADOS-2) Manual (Part I): Modules 1–4. 2012; Torrance, CA: Western Psychological Services. 5. Wagner A, Lecavalier L, Arnold LE, Aman MG, Scahill L, Stigler KA, Johnson CR, McDougle CJ, Vitiello B.: Developmental disabilities modification of the Children’s Global Assessment Scale. Biol Psychiatr 2007; 61: 504–511. Abbildung 4: Positiver Affekt und Blickkontakt zum Zeitpunkt T2-b 4/2014 PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE 39