Transkript
JOURNAL
Der Körper als Störfaktor im Seelenhaushalt
Das methodische Instrumentarium der Geistes- und Kulturwissenschaften ist nicht für die Erforschung der Ursachen funktioneller Störungen geeignet. Trotzdem könnte eine Analyse des Körperbildes, das in der westlichen Zivilisation über zwei Jahrtausende eine massgebliche Rolle für die Lebensgestaltung gespielt hat, etwas zur Klärung der Herkunft solcher Störungen beitragen.
Annemarie Pieper
von Annemarie Pieper
Philosophie und Theologie haben das in der abendländischen Kultur vorherrschende dualistische Menschenbild zweieinhalb Jahrtausende lang entscheidend beeinflusst. Obwohl dieser Einfluss heute weniger direkt spürbar ist, nachdem die Kirchen an Bedeutung verloren haben und die Philosophie ihre Rolle als Königin der Wissenschaften eingebüsst hat, ist unser Wertbewusstsein gleichwohl durch die Tradition nachhaltig geprägt und für unsere Verhaltensmuster nach wie vor unterschwellig bestimmend.
Das Götterbild Homers Von idealtypischer Bedeutung für den Stellenwert des Körpers war von Anfang an das Gottesbild. Die Götterwelt Homers trug noch deutlich erkennbare menschliche Züge. Die Götter benahmen sich nicht anders als die Menschen, sie verhielten sich ebenso begehrlich, rachsüchtig, neidisch und launisch wie diese, waren jedoch mit Machtinsignien ausgerüstet, die es ihnen erlaubten, sich nach Belieben zu verkörpern und sogar Tiergestalten anzunehmen. Zeus etwa bevorzugte bei der Verführung einer Frau den Körper eines Schwans oder eines Stiers. Körperlichkeit war demnach für den Göttervater und seine Nachkommenschaft nichts Anstössiges, sondern wie ein Kleid, das der Gott je nach Bedarf anund ablegen konnte, um in der Welt der Sterblichen als sichtbares Gegenüber wahrgenommen zu werden, wenn er aus dem Olymp herabstieg. Das homersche Götterbild änderte sich mit dem Übergang vom Mythos zum Logos, dem die Philosophie ihr Entstehen verdankt. Die neue rationale Perspektive verdrängte die Phantasie und löste die mythischen Erzählungen durch begrifflich-abstraktes Denken ab.
Der Gott verschwand vollständig aus dem Bereich des Irdischen, in welchem alles organische Wachstum den Bedingungen von Raum und Zeit unterworfen und damit vergänglich ist. Als reines geistiges Prinzip präsentierte sich das Göttliche von nun an körperlos als ewiges Sein ausserhalb und unabhängig von der Lebenswelt der Menschen, die von sich aus nur über ihren Geist eine Brücke in das unsinnliche Jenseits schlagen konnten, um durch Versenkung in das Göttliche zu lernen, wie man das Chaos der materiellen Welt durch Prinzipien in den Griff bekommt, die Ordnung stiften und das verworrene Durcheinander des Vielen, und des Uneinheitlichen logisch strukturieren.
Der Kosmos als Abbild des Göttlichen Beide Götterbilder der griechischen Antike – sowohl das mythische als auch das philosophische – tauchten dann im Christentum wieder auf, allerdings in veränderter Reihenfolge und Form. Der Schöpfergott lässt den Logos gleichsam Fleisch werden, indem er die Welt ausspricht und durch das Wort zur Existenz bringt. Obwohl man sich den Gott in der Genesiserzählung des Alten Testaments durchaus bildlich vorstellt wie einen Künstler, der in mehreren Etappen das Universum hervorbringt, ist er seinem Wesen nach ein rein geistiges Formprinzip: Prinzip hier wörtlich aus dem lateinischen Wort principium übersetzt mit «Anfang»: Gott wird gedacht als ein absoluter Anfang, dem kein anderer Anfang vorausliegt. Es wird ausdrücklich gesagt, Gott habe die Welt aus nichts geschaffen, aus nichts anderem als sich selbst, sodass er als der unhintergehbare Ausgangspunkt von allem, was ist, begriffen werden muss. Dass es doch etwas neben Gott gegeben haben muss, die Materie nämlich, die Gott, als Inbegriff des Geistigen, unmöglich aus sich genommen, sondern vorgefunden haben muss,
bleibt unerwähnt, weil der Materie, woher immer sie stammen mochte, als form- und gestaltlose Masse keinerlei Bedeutung beigemessen wurde. Erst durch das göttliche Prinzip wird ihr Geist eingehaucht, der sie zu etwas Lebendigem macht und eine Vielfalt von Organismen generiert, die imstande sind, sich selbst aus eigener Kraft zu entwickeln. Das Universum als sichtbares Abbild des Göttlichen hiess bei den griechischen Philosophen «Kosmos». Der Kosmos präsentierte sich ihnen als ein gegliedertes schönes Ganzes und diente als Vorbild für die menschlichen Sinnproduktionen. Es war nun nicht mehr vorstellbar, dass sich die Götter wie in der Götterwelt Homers nach Lust und Laune in körperliche Wesen verwandelten und Umgang mit den Menschen pflegten. Die unendliche Überlegenheit des Geistigen gegenüber dem Sinnlich-Materiellen schloss eine Verkörperung aus. Im Grunde war es schon für die menschliche Seele unerträglich, in einem Körper residieren zu müssen. Die Seele als Sitz des Geistigen empfand den Körper als Gefängnis, wie es die Anhänger von Pythagoras auf die Kurzform brachten: soma – sema (der Körper ist das Grab der Seele). Um das Eingekerkertsein, die Inkorporation des Geistes ertragen zu können, musste der antike Mensch einsehen, dass schuldhafte Verfehlungen in einem vorangegangenen Leben die Verkörperung der Seele als eine lebenslängliche Strafe nach sich gezogen hatten. Das verpflichtete den Sträfling, sich sein ganzes Leben lang darum zu bemühen, die alten Fehler zu vermeiden, indem er in allem, was er dachte, fühlte, wollte und tat, dem Geistigen den Vorrang vor dem Sinnlich-Materiellen gab. Wenn ihm das gelang, durfte sich seine Seele nach dem Tod des Körpers zum Uranos oberhalb des Himmels aufschwingen, um dort unbeschwert und immateriell wie der Gott in alle Ewigkeit die Freuden des Geistes zu geniessen.
4/2014
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
29
JOURNAL
Im Fall des Scheiterns würde die Seele zur Strafe erneut eingekörpert und müsste sich zum wiederholten Mal bis zum nächsten Tod mit den ihrem Wesen fremden stofflichen Dingen abgeben.
Der Körper als Sündenfall im Christentum Das Christentum hat die Verachtung der Materie von den Griechen übernommen und wie diese den Aufenthalt des Geistes in einem sterblichen Körper als Folge einer Schuld, eines Sündenfalls gedeutet. Anstatt sich für das reine Geistprinzip des körperlosen, unsichtbaren Gottes zu entscheiden, hätten die ersten Menschen mit dem Biss in den Apfel als Symbol für die von der Schlange verheissenen sinnlichen Freuden das Körperlich-Materielle vorgezogen. Konsequenterweise wurde die Bestrafung dann auch am Körper vollzogen, der Krankheiten und Schmerzen erdulden muss, einen Prozess zunehmenden Verfalls durchläuft und am Ende untergeht. Im griechisch-christlichen Körperbild stellt der Körper als opake schmutzige Masse und wertlose Materie einen äussersten Gegensatz zum reinen, transparenten Geist dar. All die während Jahrhunderten propagierten rituellen Waschungen und Selbstkasteiungen, die Züchtigungen und Geisselungen bis aufs Blut sind einerseits ein Indiz für die Geringschätzung des Materiellen schlechthin und weisen andererseits den Weg, wie der Makel des Körpers als Inbegriff des nicht Begehrenswerten durch systematisch betriebene Reinigungsprozesse und Hygienemassnahmen zur Ausmerzung des Unreinen eliminiert werden kann. Vor dem Hintergrund dieses Körperbildes wird allererst die Ungeheuerlichkeit der Menschwerdung Gottes verständlich, auf die sich das Christentum gründet. Der reine, unbefleckte göttliche Geist soll sich freiwillig in einen Körper begeben und mit Materie verunreinigt haben: welch eine Demütigung und Selbsterniedrigung des Göttlichen. Jesus, der Fleisch gewordene Gott, der anders als die Götter Homers nicht herabsteigt, um sich unter den Menschen zu verlustieren, sondern um ihnen ein Ideal vorzuleben: das Ideal eines Menschen, der sich bereits zeit seines Lebens auf den Tod vorbereitet, indem er materielle Anreize, insbesondere die Ansprüche seines Körpers, so weit wie möglich ignoriert und damit Platz für die Bedürfnisse des Geistig-Seelischen schafft. Die Botschaft des gekreuzigten Jesus springt ins Auge: Leiden lohnt sich. Es ist ja der Körper, der leidet, während die Seele frohlockt. Je grösser das Leiden, desto sicherer die ewige Seligkeit. Der mit Wunden bedeckte, gemarterte Körper wird durch den Geist erlöst und überwunden. Er wird nicht zum Verschwinden gebracht, sondern verklärt, das heisst: in entmaterialisierter, von Sünden gereinigter Gestalt
vergöttlicht und so zu einem ebenbürtigen Partner des Geistes. Als solcher bekommt er einen neuen Namen: Von nun an wird er nicht mehr Körper, sondern Leib genannt – der Leib als der durch Leiden und Schmerzen einer Katharsis unterzogene Körper, der dem körperlosen Göttlichen ebenbürtig wird. Die Auferstehung des Körpers als spiritualisierter, geistig verklärter Leib macht die Selbsterniedrigung Gottes durch die Erhöhung des Menschen wieder rückgängig. Gott holt gleichsam das von ihm abgefallene andere seiner selbst zu sich zurück ins Geistige.
Leiden lohnt sich In Kirchen, Klöstern und Schulräumen sind die Kruzifixe vielerorts noch allgegenwärtig. Auch wenn sie ihren Sitz im Leben der Menschen verloren haben, ist ihre Botschaft dem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben: Leiden lohnt sich. Nicht nur gläubige Menschen beziehen daraus Trost in verzweifelten Situationen, wenn alles sinnlos erscheint. Wo der Geist triumphiert, wird alles Körperliche nebensächlich. Wie hat sich das griechisch-christliche Körperbild auf das kulturelle Selbstverständnis ausgewirkt? In Ethik und Moral dahingehend, dass seit zweieinhalb Jahrtausenden die Kontrollfunktion der Vernunft unbestritten ist. Die Vernunft masst sich unumschränkte Herrschaft über den Körper an, sie verlangt rigorose Zurückdrängung von Begierden, Trieben und Affekten. Man soll hart sein gegen sich selbst und unnachgiebig auf den Forderungen der Vernunft beharren, um ihrem Machtanspruch, welcher die Ausrottung alles Irrationalen bezweckt, Nachdruck zu verleihen. Francisco de Goyas Bild Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer macht anschaulich, was im Körper an Schrecklichem haust, das nur durch die Kontrolle der Vernunft im Zaum gehalten wird und ungehemmt aus ihm herauskriecht, sobald diese Kontrolle nachlässt. Wie im Gegensatz dazu die auf Vernunft setzende Ethik den Körper formt, kann man ebenfalls an bildlichen Darstellungen studieren. Der männliche nackte Körper vermittelt den Eindruck von Härte und Disziplin: Muskulöses, sehniges, festes Fleisch, in exakt berechneten Proportionen zur Schau gestellt, macht den Triumph des Geistes über den Körper sinnfällig. Ein Zeugnis dafür ist Leonardo da Vincis Musterbild der perfekten, geometrisch vermessenen männlichen Vorderseite. Der weibliche Körper hingegen präsentiert sich auf vielen klassischen Bildern in weichen Rundungen, fleischig und voluminös, den Eindruck von Nachgiebigkeit und Hingabe erweckend. Frauen, so suggerieren diese Darstellungen, sind nicht fähig zur Härte gegen sich selbst. Sie gehen mehr oder weniger auf in ihrer Körperlichkeit. Um das geringe geistige Potenzial, über das sie verfügen, zu er-
halten, müssen sie der Kontrolle durch die männliche Vernunft unterworfen werden. Über zweieinhalb Jahrtausende war das griechisch-christliche Körperbild Mainstream. Zwar gab es hin und wieder Versuche, dem Körper mehr Gewicht zu verleihen, im Zuge des Hedonismus etwa, der um Ausgleich bemüht war zwischen den geistigen Anforderungen der Seele und den körperlichen Bedürfnissen, aber er konnte sich nicht durchsetzen, seine klassischen Vertreter (die Epikuräer) wurden gar als Lustpropagandisten verhöhnt.
Neuzeit: Kooperation von Körper und Seele Erst in der Neuzeit, mit Descartes und den französischen Materialisten, begann man sich für die Leistungen des Körpers zu interessieren, doch weniger um des Körpers willen, als um eine Lösung auf die Frage zu finden, wie man sich eine Kooperation von Körper und Seele vorstellen kann. Seltsame Theorien wurden in diesem Zusammenhang offeriert, denen zufolge ein göttliches Wesen entweder mittels Errichtung einer prästabilierten Harmonie dafür gesorgt hätte, dass Körper und Seele wie zwei gleichgeschaltete Uhrwerke ohne jegliche Wechselwirkung von vornherein parallel funktionierten (Leibniz). Oder – wie die sogenannten Okkasionalisten behaupteten – Gott würde in jedem Augenblick seelische Impulse zum Körper leiten und umgekehrt. Wenn ich zum Beispiel die Hand heben will, überträgt Gott diesen Entschluss auf meine Hand, die infolgedessen in Bewegung versetzt wird. Descartes hatte Gott nicht so viel Mühe zugemutet, sondern angenommen, dass die Zirbeldrüse als Schaltstelle im Kopf wirkt, wo sie körperliche Regungen in seelische umwandelt und umgekehrt. Wie sie als Körperorgan eine solche Versinnlichung des Geistigen beziehungsweise eine Vergeistigung des Sinnlichen zu bewerkstelligen vermag, bleibt freilich ein Rätsel. In der Nachfolge Descartes’ gewann die Maschinenmetapher zur Beschreibung des Körpers an Bedeutung. Der Körper als Lebens-, ja Überlebensmaschine muss optimal gewartet werden, weil sonst die Aktivitäten der Seele leiden. Wird die Seele zu sehr abgelenkt durch körperliche Beeinträchtigungen wie überschiessende Emotionen oder starke Schmerzen, kann sie ihren eigentlichen Geschäften nur unzulänglich nachgehen. Um Vernunfteinbussen zu vermeiden, muss sich die Seele daher so weit um den Körper kümmern, wie das für reibungslose Abläufe im organischen Getriebe erforderlich ist. So richtet sie Kontrollmechanismen ein, mit welchen der Körper überwacht und durch rigorose Unterdrückung der in ihm hausenden Ungeheuer im Gleichgewicht gehalten werden kann.
&30 4/2014
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
JOURNAL
No body is perfect Beim Blick auf die heutige Zeit fällt auf, dass Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung nach wie vor sehr geschätzt werden. Was gut für den Körper ist, bestimmt der Geist, für den von vornherein unwiderruflich feststeht: No body is perfect. Erstaunt nimmt er zur Kenntnis, dass sein Knecht trotz aller Bemühungen um ihn manchmal schlapp macht und ausgebrannt seinen Dienst verweigert, weil ihm die Selbstzweckhaftigkeit abgesprochen wird und die durchgehende Instrumentalisierung ihn schwächt. Vielleicht deutet auch die sich weltweit ausbreitende Fettleibigkeit nicht nur auf ein falsches Konsumverhalten hin, sondern bringt mittels Vervielfältigung der Fettmassen einen Protest des Körpers zum Ausdruck, der sich den Schablonen, in die er gepresst werden soll, eigensinnig widersetzt. Dieser EigenSinn, mit dem sich der Körper gegen die ihm einverleibten Körperbilder zur Wehr setzt, kann bis zum Exzess gehen, wie das monströs wuchernde, aufgequollene Fleisch der auf Francis Bacons und Lucian Freuds Gemälden dargestellten Figuren zeigt – gleichsam Zerrbilder des perfekt vermessenen da-Vinci-Mannes. Auf dem Weg ins Erwachsenenleben werden schon Kinder ständig mit Körperbildern konfrontiert, die ihr Wertbewusstsein normativ infiltrieren und sie ihren eigenen Körper entsprechend begutachten lassen. Da wir in westlichen Zivilisationen Autonomie als Errungenschaft der Aufklärung über alles stellen, zählt das Recht auf freie Selbstbestimmung zu den grundlegenden Menschenrechten. Kinder zur Mündigkeit zu erziehen heisst nichts anderes, als sie darauf vorzubereiten, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und ihre Entscheidungen verantworten müssen. Die Emanzipationsbemühungen, die mit dem Autonomwerden einhergehen, sind – oft schmerzhafte – Abnabelungsprozesse. Man soll sich selbst ein Urteil bilden und sämtliche Normen und Wertüberzeugungen, die einem mehr oder weniger autoritär eingetrichtert wurden, erst einmal verabschieden, um sie kritisch daraufhin zu prüfen, ob man sie aus eigenem Ermessen als verbindlich anerkennen kann oder nicht. Doch das traditionelle Körperbild, das die vorangegangenen Generationen geprägt und sich entsprechend auf die Modellierung des eigenen Körpers ausgewirkt hat, setzt die jungen Leute einer Zerreissprobe aus. Zwar orientieren sie sich vor allem in der Pubertät mehr an den Massstäben ihrer Peer-Group, entziehen sich dem Sauberkeitswahn der Eltern, lassen sich ihre Frisuren, die Haarfarbe und Klamotten nicht vorschreiben und so weiter. Dabei geht vergessen, dass die mit dem Pochen auf Autonomie verbundene Unabhängigkeitserklärung mit der Übernahme von Eigenverantwortung gekoppelt ist. Das überfordert viele, weil einerseits die Prägung durch
die alten Massstäbe noch nachwirkt und andererseits mit deren Infragestellung noch keine neuen Normen generiert worden sind, an die man sich selbstverantwortlich halten kann.
Der Körper als Experimentierfeld in der Jugend Das einzig Feste in dieser schwierigen Zwischen- und Übergangsphase ist der eigene Körper, an dem man die Autonomie ausprobieren kann. Er dient als Experimentierfeld, auf dem sich herausfinden lässt, was man in Bezug auf sich selbst alles kann, und wo die Grenzen dieses Könnens liegen. Dazu muss man jedoch die Signale des Körpers zu deuten lernen, ihm Eigenrechte und vor allem das Recht auf Wohlbefinden zugestehen, was nach einer langen Tradition der Verachtung alles Körperlich-Stofflichen nicht leichtfällt. Gerade reflektierte und intellektuell aufgeschlossene Menschen neigen dazu, ihren Körper zu instrumentalisieren und ihn zum Sündenbock zu machen für erlittenen seelischen Schmerz. Den Körper hungern zu lassen, ihn dauerhaft auf Sparration zu setzen, scheint die logische Konsequenz aus dem alten Körperbild zu sein. Erinnert es nicht an die Selbstgeisselungen und Fastenperioden des Kirchenpersonals im Mittelalter, wenn junge Menschen sich ins Fleisch schneiden und ihren Körper auf Nahrungsentzug setzen? Es hat durchaus etwas Heroisches, wenn man es schafft, Härte gegen sich selbst zu beweisen durch unnachgiebige Kontrolle des Körpers, dessen Verletzungen und Schrumpfung in früheren Zeiten erkennen liessen, dass die Botschaft des Kreuzes angekommen war, während sie heute zur Bestätigung für gelungene Autonomie dienen. Ich bin Herr meiner selbst und habe mich im Griff, auch wenn es wehtut. Und gerade weil es wehtut, spüre ich mich mit einer Intensität, die den Schmerz als ein Lustgefühl empfinden lässt. Der Grat zwischen autonomer Selbstbestimmung und Selbstverlust ist sehr schmal. Den Körper rigoros dem Körperbild anzupassen, das als Konstrukt von Fantasie und Verstand zur persönlichen Norm erhoben wird, ist aus ethischer Perspektive ebenso verfehlt wie das gleichgültige, kritik- und distanzlose Gewährenlassen des Körpers, das Enthemmung und Trägheit zur Folge hat. Das im Zuge verlustreicher Freiheitskriege hart erkämpfte Selbstbestimmungsrecht, welches nicht nur von politischer Bedeutung ist, sondern unter ethischem Gesichtspunkt den autonomen Umgang mit dem eigenen Körper einschliesst, hat als Kehrseite die Pflicht, die Interessen dieses Körpers angemessen zu berücksichtigen: ihn zu pflegen, auf seine Gesundheit zu achten und für sein Wohlbefinden zu sorgen. Dazu muss man lernen, in seinen Körper hineinzuhorchen, die Stimmen, mittels welcher Kopf,
Herz, Bauch und Hand ihre Bedürfnisse anmel-
den, voneinander zu unterscheiden und mit-
einander in Einklang zu bringen.
Wer sich auf diese Art von body talk versteht,
wird sich mehr und mehr in jene Haltung ein-
üben, die der oft missverstandene Hedonis-
mus Epikurs und seiner Anhänger empfohlen
hat: Er zielte keineswegs auf hemmungslosen
Genuss um des Genusses willen. Vielmehr be-
zeichnete das griechische Wort hedoné – das
meistens mit «Lust» übersetzt wird und uns
Nachfreudianer vorschnell an Wollust denken
lässt – ein ganzheitliches Wohlbefinden, das
einen Zustand beschreibt, in dem weder der
Geist noch der Körper zu kurz kommt oder
übermässig privilegiert wird. Im Zentrum des
Hedonismus stand daher der Begriff des Mas-
ses. Das richtige Mass sorgt für die Balance zwi-
schen einem Zuwenig und einem Zuviel, und
wer es schafft, sein individuelles Mass zu fin-
den, ist ein ausgeglichener Mensch, der in
Kenntnis seiner Höhen und Tiefen um Ausge-
wogenheit kämpft und jedes Mal, wenn ihm
das gelingt, Freude empfindet. Diese Empfin-
dung lässt sich als ein ebenso körperliches wie
seelisches Glücksgefühl beschreiben, das den
Menschen durch und durch erfüllt. Nicht mehr
hin- und hergerissen zwischen zwei feindli-
chen Lagern, stellt sich im menschlichen
Gemüt eine Grundzufriedenheit ein, die funk-
tionellen Störungen den Boden entzieht,
indem sie für Frieden im Leib-Seele-Haushalt
sorgt.
G
Zur Person
Annemarie Pieper ist eine deutsche Philosophin. Von 1981 bis 2001 war sie ordentliche Professorin für Philosophie an der Universität Basel auf dem Lehrstuhl von Karl Jaspers, für einige Jahre noch als einzige Ordinaria. Dort wirkte sie auch unter Jeanne Hersch mit im Stiftungsrat der Karl-Jaspers-Stiftung, die Schriften aus seinem Nachlass herausgab. Pieper ist in der Schweiz einem grösseren Publikum durch Rundfunk- und Fernsehsendungen bekannt. Beim Schweizer Fernsehen moderierte sie die Sendung «Sternstunde Philosophie». Die Schwerpunkte von Annemarie Pieper liegen vor allem auf dem Gebiet der Ethik, der feministischen Philosophie und der Existenzphilosophie. Ihre Einführung in die Ethik gehört zu den Standardwerken des Faches. 2013 erhielt sie den Preis der Dr. Margrit Egnér-Stiftung.
Quelle: Wikipedia
E-Mail: annemarie.pieper@unibas.ch
4/2014
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
31