Transkript
FORTBILDUNG
Das Ganser-Syndrom – Trugbild oder Krankheit?
1897 beschrieb der forensische Neuropsychologe Dr. Siegbert Joseph Maria Ganser in Halle (D) erstmals das nach ihm benannte Ganser-Syndrom. Es äussert sich in einem sinnlosen Vorbeireden oder Vorbeihandeln und grotesken Fehlhandlungen. Die Betroffenen verhalten sich so, wie sich ein Laie eine Geisteskrankheit vorstellt. In Fachkreisen ist umstritten, ob es sich um eine psychische Störung im Sinne eines psychogenen Dämmerzustandes oder um eine Täuschung handelt (1).
Gerhard Ebner Hans Georg Kopp
von Gerhard Ebner und Hans Georg Kopp1
Fallbeschreibung
E ine geschiedene Frau, Anfang 50, mit geringer Schulbildung (obligatorische Schulzeit von 5 Jahren im Herkunftsland), zeigt – als die Ausschaffung ihres Partners droht – bei Aufnahme in die psychiatrische Klinik nach einem Suizidversuch (oberflächliches Schneiden am Unterarm) ein ausgeprägt regressives Verhalten; sie ist offensichtlich nicht in der Lage, adäquate Antworten zu geben. Sie wirkt ratlos, schwer auffassungsgestört, unangemessen heiter, mit ständigem Einstuhlen. Eine sinnvolle Unterhaltung ist lediglich auf dem Niveau eines Kleinkindes möglich. Sie verhält sich so, wie wir es von einer Person erwarten würden, welche ohne spezielle Kenntnisse psychiatrischer Krankheitsbilder eine «verrückte» Person darstellen würde. Jahre später, im Rahmen einer versicherungsmedizinischen Begutachtung, präsentiert sie sich zeitlich, örtlich wie situativ desorientiert, gibt an, nicht einmal im Ansatz lesen oder schreiben zu können; anamnestisch ist aber bekannt, dass sie den Führerschein in der Schweiz etwa mit 35 Jahren gemacht hat und lange Zeit – auch weite Strecken ins Ausland – Auto gefahren ist. Sie sieht sich in den Untersuchungen nicht in der Lage, von 1 auf 5 zu zählen oder drei vorgesprochene Wörter zu wiederholen. Bei Vorgabe von mehreren Alternativen als Hilfestellung nennt sie den jeweils falschen Begriff. Sie zögert lange, bis sie antwortet, dann meist knapp daneben, oder mit «ich weiss nicht». Ihr Affekt wirkt indifferent bis heiter, teilweise läppisch-parathym. Sie gibt an, sie sehe im Zimmer kleine Männchen am Boden und Gegenstände, die vorbeifliegen würden; auf Nachfrage antwortet sie daneben oder mit «ich weiss nicht». Bei der Erhebung des Mini-Mental-Status antwortet sie auf einfache Fragen daneben, erreicht
1 Zentrum für Begutachtung, Rehaklinik Bellikon
einen Punktwert von 14, was mit einer mittelschweren bis schweren Demenz vereinbar ist. Bei der neuropsychologischen Untersuchung erzielt sie ausschliesslich weit unterdurchschnittliche Ergebnisse. Sie kann die Namen von Partner und Kindern aus ihrer Ehe, mit welchen sie zusammenlebt, nicht nennen. In der Magnetresonanztomografie (MRI) des Schädels hat sie eine generalisierte Hirnvolumenminderung bei sonst unauffälligen Befunden. Sie zeigt in der Klinik ein inkonsistentes Verhalten, indem sie auf der Abteilung selbstständig ist, sich trotz angeblicher Desorientiertheit auch bei verschlungenen Wegen im Klinikareal gut zurechtfindet, insbesondere wenn es darum geht, eine Ecke auf dem Areal zum Rauchen zu finden. Ihr Partner war sichtlich bemüht, den Untersuchern gegenüber die Schwere des Krankheitsbildes und die Einschränkungen im Alltag zu vermitteln, und er behandelte seine Frau im Beisein der Gutachter wie eine schwer gestörte, hilflose Person.
Was versteckt sich hinter dem Begriff Ganser-Syndrom? Die Autoren haben die Publikationen zum Ganser-Syndrom, an welche dieser Fall denken lässt, gesichtet. Sie versuchen darzustellen, was die gegenwärtige Meinung zu diesem diagnostischen Konzept ist und welche Probleme damit verbunden sind, insbesondere im forensisch-psychiatrischen und versicherungspsychiatrischen Kontext. In der medizinischen Literatur wurden vor allem Einzelfälle beschrieben, systematische Forschungen finden sich nur mit kleinen Fallzahlen. Über das Ganser-Syndrom publizierte Dr. med. S. J. M. Ganser erstmals im Jahr 1897. Die Betroffenen verhalten sich so, wie sich ein Laie eine Geisteskrankheit vorstellt. In Fachkreisen ist umstritten, ob es sich um eine psychische Störung oder um eine Täuschung oder eine «Schlitzohrigkeit» handelt (1). Das Ganser-Syndrom wird also vor allem durch das Merkmal eines Danebenantwortens beziehungsweise eines Vorbeiantwortens charakterisiert, typischerweise
&14 4/2014
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
sind damit auch dissoziative Phänomene und Fehlhandlungen kombiniert, weshalb die Störung heute unter den dissoziativen Störungen (ICD-10: F44) subsumiert und wie folgt gekennzeichnet wird: «Hier wird eine komplexe Störung kodiert, die von Ganser beschrieben wurde und durch Vorbeiantworten gekennzeichnet ist, die gewöhnlich begleitet ist von mehreren anderen dissoziativen Symptomen und die oft unter Umständen auftritt, welche eine psychogene Ätiologie nahelegen» (klinische Kriterien zum ICD-10: F44.80). Bezeichnenderweise finden sich bei den Forschungskriterien des ICD-10 – welche zur Aufgabe haben, klar abgrenzbare operationale Kriterien zur Forschung zu definieren – keine weiteren Spezifizierungen. Das DSMIV definiert das Ganser-Syndrom unter nicht näher bezeichneten dissoziativen Störungen (300.15) folgendermassen: «Das Geben von annäherungsweise richtigen Antworten auf Fragen (2 plus 2 gleich 5), wenn dies nicht mit einer dissoziativen Amnesie oder dissoziativen Fugue einhergeht.» Im DSM-5 wird es weiterhin – aber ohne nähere Ausführungen – der gleichen Kategorie wie beim DSM-IV zugeordnet. Nach Fiedler (4) wurde das Syndrom deshalb diagnostisch den dissoziativen Störungen zugeordnet, da es häufig in Zusammenhang mit akuter oder posttraumatischer Traumaverarbeitung beobachtbar ist. Es kann schwierig sein, das Syndrom von einer Simulation zu unterscheiden, das Vorbeiantworten kann nicht nur dissoziativ ablaufen. Es kann auch intendiert und sinnvoll in zwischenmenschlichen und sozialen Konfliktsituationen eingesetzt werden. Hier nehmen wir bereits eine gewisse Widersprüchlichkeit bei der Wertung des Syndroms wahr, welche im Kontext von forensischen und versicherungsmedizinischen Beurteilungen von zentraler Bedeutung ist: Inwiefern ist die Symptomatik bewusst intendiert, inwiefern ist sie willentlich steuerbar? Oder ist sie – wie auch immer wieder behauptet wird – zwar anfangs willentlich intendiert und steuerbar, entgleitet dann aber mehr und mehr dem Einfluss der willentlichen Steuerung, so, als ob die Betroffenen wie auf einer schiefen Ebene, auf welche sie sich bewusst begeben haben, langsam abgleiten und damit den Einfluss auf die Richtung ihres Verhaltens zunehmend verlieren? Bei Männern in Gefangenschaft wird das Ganser-Syndrom so auch häufiger beobachtet (11), also dann, wenn neben einer Belastungssituation auch intentionale Anteile bei der Entstehung eine Rolle spielen können. Der Erstautor dieser Arbeit hatte die Gelegenheit, solche Bilder im Rahmen der Gefängnispsychiatrie zu sehen. Auffällig war dabei, dass die Symptomatik kontextuell offensichtlich finalen Charakter hatte, teilweise steuerbar war, dann aber auch wieder an psychisch schwer gestörte Menschen erinnerte, wenn sie – alleine in der Zelle – mit dem Kopf gegen die Wand schlugen und sich, wenn auch oberflächlich, erhebliche Verletzungen zuzogen oder, wie im oben beschriebenen Beispiel, einkoteten und wie ein Kleinkind wirkten, sodass man zumindest den Eindruck hatte, dass eine erhebliche Regression vorliegt. Im grossen psychiatrischen Lehrbuch von Venzlaff und Foerster über die psychiatrische Begutachtung wird das Ganser-Syndrom unter «Haftpsychosen» aufgeführt und als Rarität bezeichnet, welche «in der typischen Sym-
ptomatik bei recht kurzer Dauer mit Vorbeireden mitunter eine qualitativ veränderte Bewusstseinslage» vermittelt (8) und so phänomenologisch dem Beispiel entspricht, wie es Priebe et al. (9) aufgeführt und definiert haben: «Der Beginn der Störung ist in der Regel sehr plötzlich, mit einem abrupten Ende; Fallberichten zufolge hält die Episode von weniger als einer Stunde bis zu wenigen Tagen an.» In Kombination mit einer qualitativen Bewusstseinsstörung erinnert dieses Bild damit an eine Art Trance-Zustand, und es leuchtet bei dieser Phänomenologie ein, dass es in den beiden diagnostischen Klassifikationssystemen unter dissoziative Störungen subsumiert ist. Resnick und Knoll (10), ebenfalls forensische Psychiater, beurteilen das Syndrom – als «Pseudodemenz» – in erster Linie als Simulation («malingering», was übersetzt Aggravation wie Simulation bedeutet). Von ihnen werden dann aber, wie im versicherungsmedizinischen Kontext häufig zu sehen, nicht akute Bilder beschrieben, wie von Konrad und Priebe et al., sondern Dauerzustände, welche in einem eindeutig finalen Kontext stehen, hohe Inkonsistenzen aufweisen und Hinweise auf Steuerbarkeit zeigen. Diese Bilder sehen die Autoren der vorliegenden Arbeit auch häufig im Rahmen versicherungsmedizinischer Begutachtungen, wobei sie nicht selten zusätzlich ein ausgeprägt regressives Bild aufweisen. Im aktuellen Übersichtswerk von Freyberger et al. (5) wird das Ganser-Syndrom in der Beschreibung des Spektrums der dissoziativen Störungen aufgeführt und kurz folgendermassen charakterisiert: «Das Ganser-Syndrom ist durch ein ‹haarscharfes› Vorbeiantworten im Gespräch gekennzeichnet. So antworten zum Beispiel die Betroffenen auf die Frage ‹Wie viel ist 4 plus 4?› mit ‹5›.» Diese Störung sei insgesamt sehr selten und finde sich überwiegend bei Gefangenen beziehungsweise Angeklagten. Damit vergleichbar ist die Beschreibung von Kapfhammer (5): Der nosologische Status sei nach der Einführung durch Ganser ausserordentlich umstritten gewesen. In der heutigen Konzeptualisierung werde einerseits eine (atypische) dissoziative Störung angenommen, andererseits auf den sehr häufigen Zusammenhang mit unterschiedlichen hirnorganischen Störungen hingewiesen. Einigkeit bestehe darin, dass das Ganser-Syndrom als Vollbild klinisch sehr selten anzutreffen sei, das Ganser-Symptom (Vorbeireden) hingegen viel häufiger und bei zahlreichen psychiatrischen Störungen auftreten könne. Die Autoren der vorliegenden Arbeit ergänzen: Damit steht es im Kontext von Leistungsbegehren, wo wir es häufig sehen, mit Hinweisen auf nicht authentische Symptompräsentation, in der neuropsychologischen Untersuchung dann als Vortäuschung bei negativer Antwortverzerrung, so wie es Resnick und Knoll bei ihrer Definition der Pseudodemenz als Zeichen von Simulation beurteilen.
Fallbeschreibungen mit Kommentierung und Literaturübersicht 2005 findet sich im «Schweizerischen Medizinischen Forum» (2) die kurze Fallbeschreibung eines 27-jährigen albanischen Mannes, der aus einem Regionalgefängnis zugewiesen wurde, wo er eine 24-monatige Haftstrafe verbüsste und kurz zuvor einen Ausbruchsversuch
4/2014
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
15
FORTBILDUNG
unter Anwendung brachialer Gewalt unternommen hatte. Der Artikel ist folgendermassen übertitelt: «Das Ganser-Syndrom: Scheinblödsinn oder Konversionsstörung?» Ausgeführt wird dazu, es handle sich um eine psychogene Erkrankung mit – für den Untersucher mehr oder weniger klar erkennbarem – (unbewusstem) Motiv im Sinne eines sekundären Krankheitsgewinnes, zum Beispiel zur Verhinderung einer Strafverfolgung wegen Unzurechnungsfähigkeit. Das Vorbeireden beschreibe Falschantworten, die jedoch nahelegen würden, dass die Frage jeweils verstanden werde. Die damit verbundenen grotesken Fehlhandlungen würden dem laienhaften Krankheitsverständnis der Betroffenen entsprechen; diese hätten eine Amnesie für die symptomatische Zeit. Wenn sich das Ganser-Syndrom auflöse, könnten sie sich ihr zuvor gezeigtes Verhalten nicht erklären. Der Symptomenkomplex gehöre in den Formenkreis hysterisch-dissoziativer Störungen, bei denen es zu vorübergehendem Gedächtnisverlust, unklaren Bewusstseinsstörungen und mitunter zu Halluzinationen, vorwiegend akustischer Art, komme. Der Zustand des Ganser-Syndroms sei in der Regel von kurzer Dauer und bilde sich vollkommen zurück. Die Pathogenese sei umstritten, jedoch bestehe eine gewisse Einigkeit darüber, dass dissoziative, hysterische Mechanismen, verbunden mit erheblicher Regression, stets vorhanden seien.
An Kriterien für die Diagnose Ganser-Syndrom werden von den Autoren folgende Punkte aufgeführt: G Vorbeireden, das heisst Beantwortung von Fragen
mit einer stets ungefähr richtigen Angabe, wobei der Patient den Sinn der Frage vermutlich korrekt erfasst G Orientierung zu Ort und Zeit, mitunter auch zur Person gestört, jedoch in der Regel keine Verwirrtheit G klinisch als demonstrativ imponierende Symptome wie vorübergehender Gedächtnisverlust, psychogene Anfälle (teilweise mit Inkontinenz), wechselnde und situationsabhängige Bewusstseinstrübung ohne sonstiges objektivierbares Defizit G Sinnestäuschungen auf akustischem Gebiet können fakultativ auftreten. Sie weisen dabei bezüglich Pathogenese und nosologischer Einordnung auf die nach wie vor bestehenden Unklarheiten rund um das Ganser-Syndrom hin. Viele vermuten auch eine mehr oder weniger unbewusst ablaufende Wunsch- und Zweckreaktion, die in Notsituationen einsetzte. Hingewiesen wird auf eine erhebliche Regression mit Rückfall auf unreife Reaktionen, abzugrenzen ist davon eine bewusste Simulation. Eine weitere Arbeit (12) befasst sich mit einem Fall und schliesst daran eine Literaturübersicht an. Kernsymptomatik des Syndroms sei das Vorbeiantworten; daneben würden weitere Symptome charakteristischerweise auftreten, wie etwa eine fluktuierende Bewusstseinsstörung, pseudoneurologische Phänomene (gemeint sind damit konversionsartige Störungen), visuelle oder akustische Pseudohalluzinationen, dissoziative FugueZustände, affektive Störungen in Form einer kindlichläppischen Stimmungslage, depressive Verstimmtheit, pseudo-epileptische Anfälle sowie verschiedene neuropsychologische Störungen im Sinne von Gedächtnislücken und Wahrnehmungsstörungen. Zusammen-
fassend könne diese Symptomatik auch als Pseudodemenz bezeichnet werden. Hingewiesen wird auf das seltene Auftreten, das gehäuft bei Männern, die Dauer liege zwischen einigen Tagen und Monaten, teilweise mit Fluktuation über Jahre hinweg. Für die Annahme der Klassifikation im Rahmen einer dissoziativen Störung spreche, dass die Erkrankung häufig unter traumatischen oder zumindest stark belastenden Bedingungen entstehe und dass Verlauf und Vielgestaltigkeit der Symptome durch eine umschriebene Hirnfunktionsstörung nur schwer erklärt werden können. Hinsichtlich Literatur wird auf 151 publizierte Fälle hingewiesen und hypothetisiert, ob das Vorbeiantworten auch eine Störung von frontal-exekutiven Hirnfunktionen sein könnte als Ausdruck einer «nicht aphasischen Kommunikationsstörung». Anlass zu diesem Artikel gab der Fall einer Frau, die einen erheblichen Hirninfarkt im Stromgebiet der linken Arteria cerebri media hatte und bei flüssiger, unauffälliger Spontansprache sowie erhaltenem Fragen- beziehungsweise Instruktionsverständnis ohne jegliches Zögern falsche, völlig unplausible Angaben machte. In dieser Arbeit wird auch auf eine wichtige Übersichtsarbeit von Assion und Schmidt (1) hingewiesen, welche die gesamte Literatur seit der Erstbeschreibung im Jahr 1888 ausgewertet und 140 publizierte Fälle miteinbezogen haben. Daraus ergibt sich, dass das durchschnittliche Alter der Betroffenen 33 Jahre beträgt, mit zunehmendem Alter wird das Ganser-Syndrom seltener, im Geschlechterverhältnis sind die Männer gegenüber den Frauen dreifach übervertreten, die Mehrheit kam aus der Unterschicht, lediglich 70 der publizierten Fälle waren gerichtlich auffällig. 52 der 140 Fälle hatten dissoziative Symptome, so zum Beispiel Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen, Konversionsstörungen, psychogene Kopfschmerzen und dissoziative Amnesien, bei 33 Patienten gab es körperliche Auffälligkeiten in der Anamnese, bei 11 war ein Schädel-Hirn-Trauma vor Ausbruch des Ganser-Syndroms bekannt. Bei 11 Fällen gab es Krampfanfälle, meist unklarer Genese, wobei die Abgrenzung zu dissoziativen oder psychogenen Anfällen erheblichen Schwierigkeiten unterliegt, wie die Autoren feststellen. In ihren konzeptuellen Überlegungen rücken sie das Ganser-Syndrom in ein Spektrum, wo auf der einen Seite psychogene Dämmerzustände und dissoziative Amnesie figurieren, auf der anderen Seite ein Übergang zu Simulation und «Rentenneurose» beziehungsweise artifizieller Störung. Sie übertiteln ihr Buchkapitel dann auch mit «Psychische Störung oder Schlitzohrigkeit?». Die Schlitzohrigkeit verorten sie in eindeutiger Weise bei Fällen mit Simulation.
Die Konzeptgeschichte des Ganser-Syndroms Sie beschreiben die Konzeptgeschichte des GanserSyndroms nach dessen Erstbeschreibung durch den Psychiater Ganser im Jahr 1897. Anfangs stand konzeptuell das Vorbeireden im Mittelpunkt. Hingewiesen wird auch auf Karl Leonhard, der 1948 die Störung als Fähigkeit beschrieb, autosuggestiv seelische und körperliche Erscheinungen zu erzeugen. Hierbei werde eine Krankheit vorgetäuscht, die vor Unannehmlichkeiten des Lebens schützen solle, so zum Beispiel vor anhaltender Arbeit, vor schlechter Behandlung durch den Ehemann,
&16 4/2014
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
vor Bestrafung wegen eines Vergehens, im Sinne einer «Flucht in die Krankheit». Genau hier befinden wir uns dann auf der Mittellinie zwischen «Psychischer Störung und Schlitzohrigkeit»; es zeichnet sich ein Gebilde ab, bei welchem unter Belastungen anfangs ein dissoziatives Zustandsbild mit qualitativer Bewusstseinsstörung vorherrschen kann, welches sich unter Sekundäreffekten zur artifiziellen (unbewusstes Motiv, primärer Krankheitsgewinn) und/oder zur bewussten Vortäuschung (sekundärer Krankheitsgewinn mit Einnahme einer Krankenrolle, externaler Anreize in einem Rentenverfahren) entwickelt. So wissen wir, dass zum Beispiel psychogene Anfälle oftmals einem genuinen epileptischen Anfall folgen, und wir sehen dann Mischbilder bis hin zu rein psychogenen Anfällen oder mehr oder weniger bewusster Vortäuschung. Die den Autoren vorliegende Literatur geht bei dissoziativ-konversiven wie artifiziellen Störungen ebenfalls von Kontinua aus, von unbewusst gesteuert bis hin zu mehr oder weniger bewusstseinsnaher nicht authentischer Symptompräsentation aufgrund von Sekundäreffekten (bspw. Rentenverfahren). Weitere Autoren (6) schlugen (alles gemäss Assion und Schmidt [1]) 1955 vor, das Ganser-Syndrom als ein intermediäres Zustandsbild zwischen «malingering» einerseits und hysterischem Zustand andererseits aufzufassen, mit der Funktion, sich der Verantwortung zu entziehen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Wandel in der Einreihung des Syndroms im DSM, wo dieses erstmals in die 3. Revision (DSM-III) aufgenommen wurde, allerdings unter vorgetäuschten Störungen, bis zum DSM-III-R 1987, wo zum einen von einer vorgetäuschten Störung mit psychischen Symptomen gesprochen wurde, dann aber die Störung unter der Kategorie «nicht näher bezeichnete dissoziative Störungen» aufgeführt wurde. In DSM-IV und im DSM-5 wird das Ganser-Syndrom dann nur noch als «nicht näher bezeichnete dissoziative Störung» verstanden, entsprechend der ICD-10-Klassifikation. Resnick und Knoll (10) sehen das Syndrom in erster Linie als Simulation, und sie grenzen das vorherrschende klinische Bild eines demenziellen Syndroms in erster Linie von einer organisch bedingten Demenz ab: Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Pseudodemenz und organisch bedingter Demenz sei, dass bei der Pseudodemenz keine Perseverationen vorkämen; eine schizophreniforme Symptomatik in Zusammenhang mit demenziellen Symptomen sei hingegen suspekt und weise dann auf Simulation hin, wenn nicht angemessene Antworten im Mini-Mental-Status vorkämen. Ein Hinweis auf Pseudodemenz könne auch sein, wenn sich die Symptomatik im Gesprächsverlauf eher bessere; es komme nicht – wie bei einer organisch bedingten Psychose zu erwarten wäre – zu einer Ermüdung, sondern eher zu einer Besserung und einer Normalisierung der Symptomatik im Verlauf der Untersuchung. Nach Priebe et al. (9) gestaltet sich die Differenzialdiagnostik beim Ganser-Syndrom schwierig, «da sich das charakteristische Vorbeiantworten auch bei vielen anderen psychischen wie auch körperlichen Störungen findet», und sie verweisen neben der Abgrenzung zur organisch bedingten Demenz auf die schwierige Ab-
grenzung zur Simulation hin. Sie empfehlen für die Diagnostik deshalb «das zusätzliche Einholen fremdanamnestischer Informationen und eine längere andauernde Beobachtungsphase» (ebenda). Die Autoren Assion und Schmidt (1) kommen insgesamt zu folgender Zusammenfassung: «Das GanserSyndrom ist eine seltene Diagnose mit dissoziativen (der bewussten Kontrolle des Patienten) entzogenen Merkmalen, die aufgrund zweckgerichteter Hinweise auch Elemente einer Simulation oder einer artifiziellen (also motivational verborgenen) Störung in sich bergen kann. Besonders erschwert ist die diagnostische Festlegung, sofern organische Begleiterkrankungen den Verlauf komplizieren.» Sie weisen auf die Schwierigkeiten der Klassifikation hin mit Bezug auf einen vorgestellten Fall, bei welchem «das initiale Vorbeireden zwar als kennzeichnendes Symptom des Ganser-Syndroms auftrat, jedoch durch den weiteren Verlauf der intentionale Charakter der Beschwerden offenkundig wurde, sodass sogar der Eindruck von simulierten Krankheitszeichen entstand. Entsprechend ist das historisch beschriebene Ganser-Syndrom eine psychische Störung an der diagnostischen Grenze, dessen besondere Ausprägung eine klassifikatorische Eigenständigkeit nicht rechtfertigt.» Bestätigt wird diese Einschätzung in einem elektronischen Beitrag von Faust (undatiert) im Internet. Er weist dabei darauf hin, dass es sich beim Ganser-Syndrom um eine mehr oder weniger unbewusst ablaufende Wunsch- und Zweckreaktion in Krisen oder Notfallsituationen handle, die selten sei. In Fachkreisen rücke man aber immer mehr von einer nachvollziehbaren Ursache ab; hierbei verweist er auf das eben zitierte Buchkapitel von Assion und Schmidt. Als Ergebnis dieser Umschau in der Literatur resultiert aus Sicht der Autoren der vorliegenden Arbeit, dass das Störungsbild in erster Linie durch ein (mehr oder weniger knappes) Danebenantworten bei erhaltenem Frageverständnis sowie durch weitere dissoziative Elemente gekennzeichnet ist. Das Konzept ist verschwommen mit erheblichen Grauzonen und einer erschwerten Abgrenzung, so zum Beispiel auch gegenüber bewusster, zweckgerichteter Simulation, welche insbesondere in Anbetracht externaler Anreizfaktoren, zum Beispiel im Rahmen eines Rentenverfahrens, bedacht werden sollte. Aufgrund der offensichtlichen Häufung bei hirnorganischen Schädigungen mit «Betonung des Störungsmusters auf frontal-exekutive Funktionen» sollte bei einem «klar diagnostizierten Ganser-Syndrom unbedingt standardisiert neuropsychologisch und bildgebend untersucht werden» (12); in Anbetracht des präsentierten demenziellen Syndroms hat auch eine Abgrenzung zu einer organisch bedingten Demenz mit den allgemein üblichen Abklärungsmethoden zu erfolgen. Immer wieder wird in der Literatur Rückgriff auf die Erstbeschreibung von Ganser genommen.
Fazit Im eingangs vorgestellten Beispiel einer geschiedenen Frau, Anfang 50, gingen die Gutachter als Hypothese ebenfalls von einem zu Beginn mehr oder weniger unbewusst ablaufenden Prozess einer dissoziativen Störung im Rahmen einer existenziell für die Patientin bedrohlichen Situation aus, woraus sich dann zuneh-
4/2014
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
17
FORTBILDUNG
mend bewusstseinsnahe, nicht authentische Sym-
ptome mit mehr und mehr bewusster Vortäuschung
hinzugesellt hatten. Man stellte deshalb die Diagnose
eines initial vorliegenden Ganser-Syndroms, welches
aber im Rahmen einer Begutachtung nicht (mehr) im
Sinne eines dissoziativen Zustandes bestätigt werden
konnte, da die Verhaltensweisen offensichtlich durch-
gängig willentlich beeinflussbar waren und gut gesteu-
ert werden konnten. Bei diesem Beispiel hatten die
Gutachter dann den Eindruck, dass neben einem exter-
nalen Anreiz und bei zusätzlicher Unterstützung des
Verhaltens durch den Partner, welcher sich ebenfalls
einen Vorteil von der Erkrankung versprach, eine Posi-
tion auf einer «schiefen Ebene» erreicht wurde, aus der
die Frau nur schwer wieder hinauskommen könnte,
selbst dann, wenn sie tatsächlich eine Rente bekom-
men sollte.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Gerhard Ebner M.H.A.
Medizinischer Leiter, Zentrum für Begutachtung
Rehaklinik Bellikon
5454 Bellikon
Eigene Praxis in Zürich
8008 Zürich
E-Mail: gerhard.ebner@rehabellikon.ch
Literatur:
1. Assion, H., Schmidt, K. (2004, S. 85 bis 92): Psychische Störung oder Schlitzohrigkeit? Zur Klassifikation des Ganser-Syndroms. In: Vollmoeller, W. (Hrsg.): Grenzwertige Psychische Störungen. Stuttgart, New York, S. 85–92.
2. Butzke, I. F.: Das Ganser-Syndrom: Scheinblödsinn oder Konversionsstörung? Schweizerisches Medizinisches Forum 2005, 5, S. 299–300.
3. Faust, V. (undatiert): Psychosoziale Gesundheit. Von Angst bis Zwang. Das Ganser-Syndrom. http://www.psychosoziale-gesundheit.net/ psychiatrie/ganser.html.
4. Fiedler, P.: Dissoziative Störungen und Konversion. Weinheim 2008, S. 287–289.
5. Freyberger, H. et al.: Kompendium Psychiatrie, Psychotherapie Psychosomatische Medizin 2012. Bern, S. 266.
6. Goldin, S., McDonald, J. E.: The Ganser State. Journal of Mental Science 1955, S. 567–572.
7. Kapfhammer, H. P.: Dissoziative Störungen. In: Möller, H. J. et. al (Hrsg.): Psychiatrie – Psychosomatik – Psychotherapie 2011. Berlin, Heidelberg, Seite 716–717.
8. Konrad, N.: Strafrecht – Strafverfahren, Strafvollzug und Massregelverzug. In: Foerster, K., Dressing, H. (Hrsg.): Venzlaff Foerster. Psychiatrische Begutachtung 2009. München, Seite 402.
9. Priebe, K. et al. (2013): Dissoziation. Berlin, Heidelberg, S. 33 bis 34, S. 39.
10. Resnick, Ph. J., Knoll, J. L.: Malingered Psychosis. In: Rogers, R. (Ed.): Clinical Assessment of Malingering and Deception 2008. New York, London, S. 54.
11. Sigal, M. et al.: Ganser Syndrome: a Review of 15 Cases. Comprehensive Psychiatry 1992; 33, S. 134–138.
12. Wirz, G. et al.: Psychopathologie des Ganser-Syndroms. Literaturübersicht und Falldiskussion. Nervenarzt 2008, S. 553–557.
Merksätze:
G Das Ganser-Syndrom wird vor allem durch das Merkmal eines Danebenantwortens beziehungsweise eines Vorbeiantwortens charakterisiert, typischerweise sind damit auch dissoziative Phänomene und Fehlhandlungen kombiniert, weshalb die Störung heute unter den dissoziativen Störungen (ICD-10: F44) subsumiert wird.
G Es kann schwierig sein, das Syndrom von einer Simulation zu unterscheiden, das Vorbeiantworten kann nicht nur dissoziativ ablaufen.
G Das Ganser-Syndrom ist als Vollbild klinisch sehr selten anzutreffen, das Ganser-Symptom (Vorbeireden) ist hingegen viel häufiger, auch bei zahlreichen psychiatrischen Störungen.
G Das Störungsbild und seine Abgrenzung ist verschwommen mit erheblichen Grauzonen und einer erschwerten Abgrenzung, so zum Beispiel auch gegenüber bewusster, zweckgerichteter Simulation, welche insbesondere in Anbetracht externaler Anreizfaktoren, zum Beispiel im Rahmen eines Rentenverfahrens, bedacht werden sollte.
&18 4/2014
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE