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Neuropathische Schmerzen: Neuigkeiten in Diagnostik und Pathophysiologie
Laut Definition sind neuropathische Schmerzen die direkte Folge einer Schädigung oder einer Erkrankung somatosensorischer Nervenstrukturen im peripheren oder im zentralen Nervensystem. Die Diagnose wird klinisch und mithilfe technischer Untersuchungen gestellt. Die wichtigsten Mechanismen sind abnorme Erregbarkeit geschädigter Neurone, periphere und zentrale Sensibilisierung, Disinhibition der Nozizeption und kortikale Reorganisationsphänomene. In einen Zusammenhang mit neuropathischen Schmerzen werden neuerdings auch die Fibromyalgie und die Kaliumkanalantikörper als Ursache gebracht.
Christian Geber
von Christian Geber und Verena Speck
Definition neuropathischer Schmerz
G emäss der revidierten Definition von 2008 sind neuropathische Schmerzen die direkte Folge einer Schädigung oder einer Erkrankung somatosensorischer Nervenstrukturen im peripheren oder im zentralen Nervensystem (1). Durch die Präzisierung der Schädigung auf das somatosensorische System können neuropathische Schmerzen von den nozizeptiven Schmerzen abgegrenzt werden, die zum Beispiel sekundär infolge einer Schädigung des motorischen Systems (z.B. Schmerzen bei Spastiken), des extrapyramidalmotorischen Systems (z.B. muskuloskeletale Schmerzen bei Rigor) oder des autonomen Nervensystems entstehen. Bei Schädigung des autonomen Nervensystems können beispielsweise Schmerzen nach exzessiver Vasokonstriktion auftreten, die zu einer Gewebehypoxie und einer Aktivierung chemosensitiver Nozizeptoren führen können (2). Typische Ursachen für neuropathische Schmerzsyndrome sind strumpf-/handschuhförmige Schmerzen bei Polyneuropathien, radikuläre Schmerzen, Schmerzen nach mechanischen Nervenläsionen, Post-ZosterNeuralgie, Schmerzen nach Amputationen, Trigeminusneuralgie und zentrale Schmerzsyndrome (Central PostStroke Pain [CPSP], Rückenmarksverletzungen oder Encephalomyelitis dissiminata) (3). Prinzipiell kann die strukturelle Läsion bei neuropathischen Schmerzen entlang der gesamten neuroanatomischen Achse des somatosensorischen Systems – vom primär afferenten Neuron bis zum Kortex – lokalisiert sein.
Diagnostik Neben der Anamnese, bei der sich möglicherweise bereits Hinweise für eine relevante Läsion oder eine Erkrankung des peripheren oder des zentralen somatosensorischen Systems ergeben, kommt der Schmerz-
lokalisation bei der Diagnostik von neuropathischen Schmerzen eine wichtige Rolle zu. Die Schmerzlokalisation sollte ein neuroanatomisch plausibles Verteilungsmuster aufweisen (1). Als Screeninginstrumente können validierte Fragebögen eingesetzt werden (4), die auch eine Schmerzzeichnung enthalten sollten. Die am häufigsten verwendeten Fragebögen sind: DN4 (Douleur Neuropathique en 4 Questions), LANSS (Leeds Assessment of Neuropathic Symptoms and Signs), NPQ (Neuropathic Pain Questionnaire), NPSI (Neuropathic Pain Symptom Inventory) und painDETECT. Diese Screeningbögen können jedoch die klinische Untersuchung nicht ersetzen. Ziel der klinisch-neurologischen Untersuchung ist es, somatosensorische Auffälligkeiten wie das Vorliegen einer Hypästhesie/Hypalgesie (Negativzeichen) und/oder einer Hyperalgesie/Allodynie (Positivzeichen) zu detektieren, deren Verteilungsmuster zumindest teilweise mit der Schmerzlokalisation übereinstimmen sollten. Der klinische Befund kann durch apparative Untersuchungen unterstützt werden. Ist beides pathologisch, liegt ein «definitiver neuropathischer Schmerz» vor. Ist nur der diagnostische Test oder nur die Untersuchung pathologisch, spricht man von «wahrscheinlichen neuropathischen Schmerzen» (1). Ein geeignetes Routineverfahren zum Nachweis einer Läsion im peripheren somatosensorischen System ist die Neurografie der betroffenen Nerven (4). Die konventionelle Neurografie erfasst allerdings ausschliesslich die schnell leitenden, myelinisierten motorischen und afferenten Fasern (Aα- und Aβ-Spektrum), die aber nur 15 bis 25 Prozent der Axone im peripheren Nerv ausmachen. Eine Small-Fiber-Neuropathie (SFN), bei der isoliert die kleinkalibrigen, unmyelinisierten oder dünn myelinisierten Nervenfasern (Aδ- und C-Fasern) geschädigt sind, kann damit nicht detektiert werden (5–7). Für die Diagnose einer SFN werden üblicherweise zwei der folgenden Kriterien gefordert: klinische Hinweise wie Hypalgesie und Thermhypästhesie, Allodynie
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und/oder Hyperalgesie, pathologische Befunde der Warm- und der Kaltempfindungsschwellen am Fuss in der quantitativ sensorischen Testung (QST) beziehungsweise eine am distalen Unterschenkel reduzierte intraepidermale Nervenfaserdichte (5, 8). Bei klinischem Verdacht auf SFN sollte daher die Diagnose zunächst mithilfe einer QST (9, 10) und der Bestimmung der intraepidermalen Nervenfaserdichte mittels Hautbiopsie gesichert werden (11, 12). Typischerweise ist bei der SFN die intraepidermale Nervenfaserdichte in den betroffenen Hautpartien reduziert (8, 11). Die Sensitivität und die Spezifität der Hautbiopsie liegt bei über 80 Prozent (5, 13), bei der QST sind die Angaben kontrovers diskutiert und schwanken hinsichtlich der Sensitivität zwischen 36 und 85 Prozent (14). In einer Arbeit von Devigili et al. betrug beispielsweise die Sensitivität 56,7 Prozent und die Spezifität 36,5% (5). Mithilfe Laser-evozierter Potenziale (LEP) (15), hitzeevozierter Potenziale (Contact Heat Evoked Potentials [CHEPS] [16]); oder schmerzevozierter Potenziale (Pain-Related Evoked Potentials [PREP]) lassen sich Aδ-Nozizeptoren untersuchen (17). Diese Methoden finden zunehmend klinische Verbreitung. Nur wenige neurophysiologische Labore können die direkte mikroneurografische Ableitung unbemarkter Nervenfasern durchführen. Eine neue nicht invasive Methode zur Einschätzung des Schweregrades der SFN ist die konfokale korneale Mikroskopie (CCN), bei der die Nervenfasern in der Kornea dargestellt werden. Die morphologischen Veränderungen korrelieren mit dem Schweregrad der SFN (18–22). Mit der Methode wird der subbasale Nervenplexus zwischen der Basal- und der Bowman-Membran dargestellt. Die wesentlichen Untersuchungsparameter sind die Länge, die Anzahl von Hauptfasern und Ästen, die Tortuositas (vermehrte Schlängelung) sowie die Anzahl der End- und Kreuzungsstellen (18–21). Diese Parameter unterschieden sich signifikant zwischen Normalprobanden und Patienten mit diabetischer Neuropathie. Auch diese Methode wird bis anhin nur in wenigen Spezialkliniken angeboten. Die CCN könnte zukünftig jedoch einen wichtigen Stellenwert bei der Früherkennung und beim Monitoring der diabetischen Neuropathie erlangen. In einer aktuellen Studie wurden 86 Patienten mit kürzlich diagnostiziertem Typ-2-Diabetes zeitgleich mit CCN und Hautbiopsie untersucht (23). Eine abnorme korneale Nervenfaserdichte in Kombination mit einem normalen Befund der Hautbiopsie zeigte sich bei 20,5 Prozent der Patienten mit Typ-2-Diabetes (Range 13,1–29,9%), während eine normale korneale Nervenfaserdichte zusammen mit einem abnormen Befund der Hautbiopsie bei 11 Prozent der Patienten (Range 5,6–18,9%) beobachtet wurde. Diese Ergebnisse sprechen für ein uneinheitliches Manifestationsschema der Neuropathie der kleinen Fasern in verschiedenen Organen, geben jedoch auch Hinweise, dass ein früher Nervenfaserverlust bei Typ-2-Diabetikerin mit CCN etwas früher angezeigt werden könnte. Prospektive Verlaufsuntersuchungen über mehrere Jahre sind jedoch noch ausstehend, um den Stellenwert dieser Methode abschliessend beurteilen zu können.
Klinik und Ursachen der SFN Die SFN manifestiert sich mit neuropathischen Schmerzen und autonomen Störungen (11). Als Symptome
geben die Patienten häufig schmerzhafte und unangenehme Missempfindungen («Ameisenlaufen, Stechen oder Brennen») an (7, 11). Im Gegensatz zu nozizeptiven Schmerzen ist die Symptomatik typischerweise nicht von physischer Belastung oder Bewegung abhängig; im Gegenteil, treten die Schmerzen häufig in Ruhe oder nachts verstärkt auf, ist der Schlaf oft beeinträchtigt (6, 11). Die Schmerzen sind häufig symmetrisch und zeigen typischerweise eine «längenabhängige» Verteilung, das heisst, die Beschwerden beginnen an den Füssen und breiten sich nach proximal aus (24). Es zeigen sich oft auch autonome Funktionsstörungen, die sich in Form einer verminderten Schweissbildung, trockener Schleimhäute, Miktionsstörungen oder einer gestörten Blutdruckregulation äussern können. Häufigste Ursachen der SFN sind Diabetes mellitus sowie Alkoholkonsum (11). Zu den seltenen Ursachen gehören M. Fabry, die amyloidassoziierte SFN oder Autoimmunerkrankungen wie das Sjögren-Syndrom und die Sarkoidose (11, 25, 26). Bis anhin wurde geschätzt, dass sich bei 20 bis 40 Prozent der Patienten mit SFN keine Ursache finden lässt, sodass von einer idiopathischen SFN gesprochen wird (27). Kürzlich konnte jedoch in einer Studie bei 8 von 28 Patienten, die in die Kategorie «idiopathische SFN» eingeordnet waren, herausgefunden werden, dass ihre SFN durch eine Veränderung des Natriumkanals Nav 1.7 aufgrund verschiedener molekulargenetisch nachweisbarer Punktmutationen im SCN9A-Gen bedingt gewesen ist (28). Nav-1.7-Mutationen sind auch ursächlich für die primäre Erythromelalgie und die paroxysmale extreme Schmerzstörung – zwei seltene neuropathische Schmerzerkrankungen (29–32). In einer Folgestudie der gleichen Arbeitsgruppe konnten in einer weiteren Kohorte an Patienten mit idiopathischer SFN bei mindestens 3 Prozent der Patienten Mutationen im SCN10AGen, welches für den Nav-1.8-Kanal kodiert, festgestellt werden (33). Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass neuropathische Schmerzen häufiger genetisch bedingt sind als bisher angenommen (34).
Pathomechanismen neuropathischer Schmerzen Ein ausführlicher Artikel zur Pathophysiologie neuropathischer Schmerzen wurde kürzlich von Prof. C. Sommer in dieser Zeitschrift veröffentlicht (35). Die wichtigsten pathophysiologischen Mechanismen sind die zentrale und die periphere Sensibilisierung, die Disinhibition der Nozizeption und die kortikalen Reorganisationsphänomene. Diese Mechanismen können bei Patienten isoliert oder kombiniert vorliegen und sind unabhängig von der zugrunde liegenden Ätiologie der neuropathischen Schmerzen (9). Im Folgenden möchten wir die Pathomechanismen, die bei den Punktmutationen im Nav 1.7 und 1.8 auftreten, erläutern. Durch die Öffnung von spannungsabhängigen Natriumkanälen und den resultierenden Einwärtsstrom von positiv geladenen Natriumionen erfolgt physiologischerweise die Depolarisierung der Axonmembran (36, 37). Nach Inaktivierung der Natriumkanäle beziehungsweise der Aktivierung spannungsabhängiger Kaliumkanäle wird das negative Ruhepotenzial wieder erreicht (36, 37). Aufgrund seiner physiologischen Eigenschaften verstärkt Nav 1.7 unterschwellige Reize
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und erhöht so die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neuron die Schwelle zur Auslösung eines Aktionspotenzials erreicht (36). Je nach Mutation kann eine verminderte Funktion (Loss-of-Function-Mutation) oder eine pathologische Übererregbarkeit (Gain-of-Function-Mutation) die Folge sein. Eine mangelnde Inaktivierung von Natriumkanälen hat somit eine pathologische Erregbarkeit der Membran zur Folge (36, 37), die zu den für neuropathische Schmerzen typischen Spontanschmerzen führt (36). Eine selektive Blockade von Nav-1.7-Känalen stellt somit ein wichtiges pharmakologisches Target dar. Bis solche Medikamente zur Verfügung stehen, sollte die Therapie gemäss aktueller Leitlinien zur Behandlung neuropathischer Schmerzen erfolgen (13, 38, 39). Ein wichtiger Pathomechanismus, der bei Patienten mit schmerzhafter diabetischer Neuropathie zur peripheren Sensibilisierung beiträgt, konnte kürzlich entschlüsselt werden. Das Stoffwechselprodukt Methylglyoxal (40) wird bei erhöhten Blutzuckerspiegeln vermehrt gebildet und durch die Enzyme Glyoxylase GLO-1 und GLO-2 zu Laktat abgebaut. Da periphere Nerven eine niedrige GLO-1-Aktivität aufweisen, kann Methylglyoxal hier kumulieren. Methylglyoxal führt wahrscheinlich aufgrund einer Sensibilisierung von Nav-1.8-Kanälen und einer Aktivierung von TRPA1-Rezeptoren zu einer vermehrten Schmerzempfindlichkeit (40, 48).
Fibromyalgie und Small-Fiber-Pathologie Die Weiterentwicklung der Diagnosemethoden neuropathischer Schmerzen, wie zum Beispiel die Hautbiopsie, führte dazu, dass auch bei Patienten mit Fibromyalgie – eine Schmerzerkrankung, die bisher nicht als neuropathisch klassifiziert wurde – strukturelle Schädigungen des Nervensystems, nämlich eine verminderte intraepidermale Nervenfaserdichte, detektiert werden konnten. Die Fibromyalgie ist bis anhin eine rein klinische Ausschlussdiagnose: Es werden chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen (widespread pain) angegeben, die bei Druck auf die sogenannten Tender-Points provoziert werden können. Die Fibromyalgie könnte jedoch neuen Studien zufolge durch eine Small-Fiber-Pathologie ausgelöst werden (41, 42). In Abgrenzung zur SFN wird der Begriff Small-Fiber-Pathologie verwendet, da die Symptomatik bei der Fibromyalgie nicht längenabhängig verteilt ist. Diese neuen Ergebnisse würden bedeuten, dass die Schmerzen bei Fibromyalgie auch neuropathischer Natur sein könnten, da somit eine Schädigung des peripheren Nervensystems vorläge. In einer Studie mit 25 Fibromyalgiepatienten wiesen diese in der QST erhöhte Warm- und Kaltschwellen im Vergleich zu 10 Patienten mit Depressionen ohne Schmerzen auf (41). Zudem war die Weiterleitung der Schmerzimpulse zum Gehirn in der Ableitung schmerzassoziierter evozierter Potenziale (PREP) verzögert (41). Die Hautbiopsie ergab zudem pathologische Befunde mit deutlicher Verminderung der Small Fibers (41). In einer weiteren Studie einer anderen Arbeitsgruppe wurden 27 Patienten mit Fibromyalgie untersucht (42). Auch hier waren die Hautbiopsien bei 11 Patienten im Sinne einer SFN deutlich pathologisch. In einer ganz aktuellen Studie wurden 41 Fibromyalgiepatienten mit 47 Kontrollpersonen verglichen (43, 46). Es zeigte sich eine vergleichsweise geringere intraepidermale Nervenfaserdichte in der Hautbiopsie bei den
Fibromyalgiepatienten (43). Unklar bleibt jedoch, ob es sich um eine zufällige Koexistenz der Fibromyalgie und der Small-Fiber-Pathologie handelt oder ob diese die bis anhin nicht eindeutig zuordnungsbaren Schmerzen bei Fibromyalgie ursächlich erklären könnte.
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und Kaliumkanalantikörper
Auch Antikörper gegen spannungsabhängige Kalium-
kanäle (anti-VGKC für anti Voltage Gated K+-Channels)
beziehungsweise ihre assoziierten Proteine (Leucine-
rich, Glioma inactivated-1-Protein [LGI1] und Contactin-
associated Protein 2 [CASPR2]) beeinträchtigen die
Signaltransduktion an der Synapse und damit die neu-
ronale Erregbarkeit. Das könnte sich klinisch mit neuro-
pathischen Schmerzen manifestieren. In einer aktuellen
Studie wurden 316 VGKC-Komplex-IgG-positive Patien-
ten genauer untersucht (44). 159 Patienten hatten
Schmerzen, dabei trat bei 28 Prozent der Schmerz iso-
liert und bei 72 Prozent in Zusammenhang mit anderen
neurologischen Manifestationen auf (44). Die Patienten
berichteten über Schmerzen in den Extremitäten (49%),
über Ganzkörperschmerz (27%) oder über Kopf- oder
Gesichtsschmerz (12%) (44). Neben dem als «tief» emp-
fundenen nozizeptiven Schmerz berichteten die Patien-
ten von neuropathischem Schmerz, der als brennend
(33%), kribbelnd (21%) oder stechend (19%) empfun-
den wurde (44). Eine signifikante Assoziation mit
Schmerz zeigte sich für die CASPR2-IgG-Positivität (44).
Interessanterweise erzielte eine Immuntherapie bei
81 Prozent eine Schmerzlinderung und eine Reduzie-
rung der VGKC-Komplex-IgG-Serumspiegel um 50 Pro-
zent im Rahmen einer 18-wöchigen Nachbeobach-
tungszeit von 16 Patienten (44). Diese Studie zeigte,
dass die Entstehung neuropathischer Schmerzen nicht
zwangsläufig mit einer (irreversiblen) strukturellen Lä-
sion des Nervensystems zusammenhängen muss. Denn
die Bindung von Autoantikörpern an neuronale Ober-
flächenrezeptoren bewirkt sehr wahrscheinlich eine
funktionelle Veränderung neuronaler Zellfunktionen,
die Schmerzen hervorrufen, ohne dass die Neurone
zwangsläufig beschädigt wurden. Vorteilhafterweise
scheinen die oben beschriebenen, durch eine Funk-
tionsstörung der Neurone hervorgerufenen neuropa-
thischen Schmerzen mit Immuntherapien gut behan-
delbar zu sein.
Ein weiteres Beispiel neuer Therapiemöglichkeiten bei
immunvermittelten neuropathischen Schmerzen zeigt
sich bei der durch Sarkoidose hervorgerufenen SFN.
Hier konnte kürzlich die Wirksamkeit des Erythropoetin-
analogons ARA 290 gezeigt werden (45, 46). Dieses Ana-
logon besitzt wie das Hormon Erythropoetin zusätzlich
zu seinen lange bekannten hämatopoetischen Effekten
auch organprotektive und antiinflammatorische Eigen-
schaften (47).
G
Korrespondenzadresse:
Dr. Christian Geber
Klinik und Poliklinik für Neurologie
Universitätsmedizin Mainz
Langenbeckstr. 1
D-55131 Mainz
E-Mail: christian.geber@unimedizin-mainz.de
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Merksätze:
G Bei neuropathischen Schmerzen kann die strukturelle Läsion entlang der ge-
samten neuroanatomischen Achse des somatosensorischen Systems – vom
primär afferenten Neuron bis zum Kortex – lokalisiert sein.
G Die Standarddiagnostik beinhaltet Anamnese, klinische Untersuchung und
je nach vermuteter Lokalisation und Ätiologie weitere apparative Diagnostik
(z.B. Neurografie, bildgebende Verfahren, Labordiagostik). Zum Nachweis
einer Small-Fiber-Neuropathie sind die quantitative sensorische Testung und
gegebenenfalls eine Hautbiopsie sinnvoll.
G Die konfokale korneale Mikroskopie könnte zukünftig die Standarddia-
gnostik ergänzen.
G Häufigste Ursachen der Small-Fiber-Neuropathie sind Diabetes mellitus
sowie Alkoholkonsum.
G Bei der Fibromyalgie lassen sich in Subgruppen Schädigungen des periphe-
ren Nervensystems und der Small-Fiber-Funktion nachweisen. Die patho-
physiologische Bedeutung ist noch nicht abschliessend geklärt.
G Die wichtigsten pathophysiologischen Mechanismen neuropathischer
Schmerzen sind zentrale und periphere Sensibilisierung, Disinhibition der
Nozizeption und kortikale Reorganisationsphänomene.
G Ein wichtiger Pathomechanismus, der bei Patienten mit schmerzhafter dia-
betischer Neuropathie zur peripheren Sensibilisierung beiträgt, konnte kürz-
lich entschlüsselt werden. Das Stoffwechselprodukt Methylglyoxal führt
wahrscheinlich aufgrund einer Aktivierung von TRPA1-Rezeptoren und einer
Sensibilisierung von Nav-1.8-Kanälen zu einer vermehrten Schmerzempfind-
lichkeit.
G Kaliumkanalantikörper können ursächlich für neuropathische Schmerzen
sein, die gut auf Immuntherapien ansprechen.
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