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Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) als integratives Behandlungskonzept für die Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen
Die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) wurde primär für die Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen entwickelt, da das Mentalisieren als Voraussetzung für wirksames psychotherapeutisches Arbeiten in der Behandlung dieser Patienten besonders gefährdet ist. Dem gemeinsamen Mentalisieren ist durch den Therapeuten deshalb besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der vorliegende Übersichtsartikel vermittelt den konzeptionellen Hintergrund sowie einen Überblick über die zentralen therapeutischen Interventionstechniken der MBT mit Anwendungsbeispielen. Abschliessend werden einige Spezifika der Anwendung der MBT in der stationären Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen herausgearbeitet, wie sie auf der Psychotherapieabteilung PTA der UPK Basel praktiziert werden.
Sebastian Euler
von Sebastian Euler
D ie Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) ist eines der vier grossen evidenzbasierten Behandlungsverfahren («Big 4», neben der dialektisch-behavioralen Therapie [DBT], der übertragungsfokussierten Therapie [TFP] und der schemafokussierten Psychotherapie [SFT]) für die Psychotherapie von Patienten mit einer Borderline-Störung als Prototyp schwerer Persönlichkeitsstörungen (1, 2). Sie wurde von Anthony Bateman und Peter Fonagy auf der Basis eines psychodynamischen Behandlungskonzepts vor gut 15 Jahren in einer Londoner Tagesklinik entwickelt (3). Obwohl Fonagy und seine Arbeitsgruppe wesentliche theoretische Vorarbeiten geleistet haben, zeichnet sich die MBT durch ihre Orientierung an der klinischen Praxis und den Leitgedanken einer steten Weiterentwicklung des Modells im Sinne eines «Work in Progress» aus (4); MBT repräsentiert kein abgeschlossenes Modell. Gleichzeitig wurden beeindruckende klinische Daten zur Überlegenheit der MBT gegenüber der Standardbehandlung von Borderline-Patienten im Langzeitverlauf (5, 6) unter Berücksichtigung gesundheitsökonomischer (z. B. Häufigkeit psychiatrischer Hospitalisationen) und psychosozialer Aspekte (z. B. Erwerbstätigkeit) publiziert, die inzwischen von einer anderen Forschungsgruppe repliziert werden konnten (7). Auf dieser Grundlage hat sich die MBT vor allem in Europa und den USA rasch verbreitet und stetig weiter differenziert (8, 4). Inzwischen liegen auch für andere psychische Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen, psychosomatischen Störungen und Schizophrenie klinische Befunde für die Wirksamkeit der MBT vor (8–10).
1. Konzeptioneller Hintergrund der MBT Mentalisieren Mentalisieren ist ein jüngeres psychologisches Konstrukt, das viele Elemente aus den Kognitionswissenschaften, der Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie, der Affektforschung und der Neurobiologie berücksichtigt. Mentalisieren heisst, sich auf die inneren, «mentalen» Zustände (Gedanken, Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, Überzeugungen etc.) von sich selbst und anderen zu beziehen, diese als dem Verhalten zugrunde liegend zu begreifen und darüber nachdenken zu können. Beeinflusst ist das Konzept unter anderem durch die «Theory of Mind», die Bindungsforschung und die intersubjektive Psychoanalyse. Neurobiologische Untersuchungen liefern beeindruckende Resultate zur Unterstützung des Modells (11, 12).
Beeinträchtigtes Mentalisieren Zentral in der Ätiopathogenese schwerer Persönlichkeitsstörungen ist die Beeinträchtigung des Mentalisierens aufgrund von repetitiven Fehlabstimmungen entwicklungspsychologisch zentraler Spiegelungsvorgänge in den frühen Bindungsbeziehungen (13). Durch diese Fehlabstimmungen kommt es zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung des Mentalisierens, insbesondere in Situationen, in denen das Bindungssystem aktiviert wird. Daraus ergeben sich schwerwiegende Störungen der Affekt- und Selbstregulation im interpersonellen Kontext in Verbindung mit dem Auftreten prämentalistischer Modi und projektiver Identifikation zur Externalisierung des fremden Selbst («Alien Self»). Wenn in bindungsrelevanten Situationen das Mentalisieren zusammenbricht, treten als Ausdruck einer bedrohten Selbstkohärenz sogenannte prämentalistische Modi
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(Teleologischer Modus, Äquivalenzmodus, Als-obModus) auf (weiterführende Konzeptualisierung u.a. bei 13–15). Im Als-ob-Modus kann es zu Gesprächen über Gedanken und Gefühle kommen, ohne dass eine «innere Berührung» erfolgt beziehungsweise Veränderungsprozesse induziert werden. Insbesondere wenn eine psychologisierte Sprache verwendet wird, spricht man auch vom «Pseudomentalisieren» (4). Da vor allem zwischenmenschlich signifikante Situationen das Bindungssystem aktivieren, ist die Berücksichtigung der prämentalistischen Modi für jede psychotherapeutische Begegnung höchst relevant.
2. Haltung und Technik der MBT Ausgehend von der Überzeugung, dass psychische Veränderungsprozesse nur induziert werden können, wenn mentalisiert wird, ist der Fokus auf das gemeinsame Mentalisieren das Spezifikum und Innovative an der MBT (16, 17). Da das Modell gleichzeitig davon ausgeht, dass die Beeinträchtigung der Fähigkeit zu mentalisieren bei Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen (z.B. Borderline- und die meisten narzisstischen Persönlichkeitsstörungen) den Kernaspekt der zugrunde liegenden Pathologie darstellt, gilt die MBT für ihre Behandlung als Methode der Wahl. Bei anderen Persönlichkeitsstörungen (z.B. ängstlich-vermeidende oder dependente Persönlichkeitsstörung) beziehungsweise anderen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen (z.B. Depressionen, Essstörungen, somatoforme Störungen etc.) ist die Mentalisierungsfähigkeit ebenfalls spezifisch und auf besondere Weise beeinträchtigt (18, 9). Psychotherapien können auch hier nur erfolgreich sein, wenn dem Mentalisieren ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird.
Mentalisieren im Fokus Sämtliche Interventionen der MBT sind auf die (Wieder)herstellung oder Verbesserung des gemeinsamen Mentalisierens ausgerichtet. Der Therapeut stimmt sich stets auf die aktuelle Mentalisierungskapazität des oder der Patienten ein und gestaltet seine Interventionen entsprechend. Das bedeutet: Je niedriger das Mentalisierungsniveau in der therapeutischen Situation ist, desto einfacher und prägnanter sollte die Intervention sein. Der Therapeut versucht kontinuierlich, die eigene Mentalisierungsfähigkeit zu monitorisieren und ihr besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der Therapeut identifiziert Als-ob- und Äquivalenz-Modus und interveniert, um ins Mentalisieren zurückzufinden. Er verlangsamt ggf. das Geschehen und geht mit dem Patienten Schritt für Schritt durch das Narrativ («Stop and Stand») beziehungsweise lenkt aktiv an einen Punkt im Gespräch zurück, an dem zuletzt mentalisiert wurde («Stop and Rewind»). Der Therapeut merkt ausserdem positiv an, wenn mentalisiert wird, und dient selbst als Modell für gelungenes Mentalisieren.
Haltung des Nicht-Wissens («Not knowing Stance») Der Therapeut exploriert aus einer natürlichen Haltung des «Nicht-Wissens» heraus und fördert die Neugier des Patienten auf innere Motive von sich und anderen. Zentral ist, dass er eigenes Nicht-Verstehen akzeptiert und offenbart, eine Fähigkeit, die gerade erfahrenen oder
stark an einem theoretischen Konzept oder Ausbildungscurriculum orientierten Psychotherapeuten verloren gehen kann. Der Wunsch, zu verstehen und mehr zu wissen, wird aktiv gezeigt. Das Stellen einfacher Fragen ist eine zentrale Intervention der MBT (vor allem «wer/was/wie/wo [genau]? Mehrere gleichzeitige, zu komplexe oder «warum»-Fragen induzieren ggf. Pseudomentalisieren).
Mentalisieren der Affektivität («Mentalized Affectivity») Der Therapeut fokussiert mit seinen Fragen immer wieder den Affekt, insbesondere auch das latente affektive Geschehen zwischen Patient und Therapeut während der Sitzung. Er verbindet auftretende Affekte mit aktuellen oder früheren interpersonellen Situationen. Dabei werden die Affekte des Patienten nicht primär gedeutet. Überschiessende «negative» Affekte werden nicht für den Patienten benannt, sondern Schritt für Schritt gemeinsam mentalisiert. Der Therapeut übernimmt eine aktive Rolle dabei, das affektive Spannungsniveau im optimalen Bereich zu halten (nicht zu «heiss» und nicht zu «kalt»), das heisst, die affektive Intensität der Sitzung wird vom Therapeuten mentalisierungsfördernd austitriert.
Begegnung auf Augenhöhe («Collaborative Stance») In der MBT wird ein «therapeutischer Habitus» nach Möglichkeit vermieden. Der Therapeut beteiligt sich offenherzig am Gespräch, bringt sich aktiv ein und zeigt sich authentisch und ehrlich interessiert. Er gleicht das eigene Verständnis immer wieder mit dem des Patienten ab, spricht (drohende) Missverständnisse aktiv an und erkennt an, dass er nicht über eine Deutungshoheit verfügt.
Mentalisieren der Übertragung In der MBT stimuliert der Therapeut die Untersuchung der therapeutischen Beziehung durch Exploration der Sichtweise des Patienten und regt die Reflexion über alternative Perspektiven an. Die Untersuchung des Beziehungserlebens im Hier und Jetzt spielt eine zentrale Rolle. Das Übertragungsgeschehen ist auch für die MBT höchst bedeutsam, die Arbeit damit unterscheidet sich aber deutlich von der psychoanalytischen Technik der Übertragungsdeutung, der zentralen Intervention in der TFP.
Selbstoffenbarung («Self Disclosure») Der Therapeut äussert eigene Gefühle und Gedanken über die Beziehung zum Patienten, um die Untersuchung des Beziehungsgeschehens zu fördern. Bei der Selbstoffenbarung geht es nicht darum, Rede und Antwort zu stehen, um den Realitätscharakter der Beziehung zu betonen, sondern das Ziel ist – wie bei sämtlichen anderen Interventionen – die Förderung des gemeinsamen Mentalisierens. Das heisst, der Therapeut bedient sich dieser Intervention dann, wenn es den Zugang zu Gedanken und Gefühlen des Patienten und den gemeinsamen Prozess des Nachdenkens darüber fördert.
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Beispiel Selbstoffenbarung Eine Patientin unterbricht ihren Redefluss abrupt und wendet sich an den Therapeuten: «Sie langweilen sich mit mir.» Der Therapeut antwortet (wenn er sich tatsächlich gelangweilt hat): «Jetzt, wo Sie es sagen, habe ich mich tatsächlich gerade ein wenig gelangweilt, und ich bin mir nicht sicher, woher das kommt. Hat es mit dem zu tun, worüber Sie gerade reden oder wie Sie es sagen, oder hat es mehr mit mir und meiner augenblicklichen Verfassung zu tun? Wissen Sie, ich bin mir da gar nicht so sicher.» Oder (wenn er sich nicht gelangweilt hat): «Soweit ich mir bewusst bin, habe ich mich gerade nicht gelangweilt, ich habe sogar versucht, zu begreifen, was Sie meinten. Ich war etwas verwirrt. Aber jetzt bin ich fasziniert davon, dass wir beide diesen Moment so unterschiedlich erleben.» (Beispiel leicht modifiziert nach 19, S. 573/574)
Irritierendes Infragestellen («Challenging») Der MBT-Therapeut stellt Vorstellungen des Patienten bezogen auf sich selbst und andere sowie seine emotionalen Reaktionen infrage, nachdem die subjektive Erlebnisweise ausreichend untersucht und validiert wurde. Zum «Challenging» gehören spielerische, humorvolle und durchaus auch unkonventionelle Interventionen. Ziel ist ein Überraschungsmoment, das den Patienten im Als-ob- oder Äquivalenzmodus so stark irritiert, dass er ins Mentalisieren zurückfindet.
Beispiel Challenging Ein Patient berichtet kurz vor der Klinikentlassung monoton und weitschweifig über die gemachten Therapiefortschritte und was sich dadurch im realen Leben alles bald ändern wird (Als-ob-Modus). In einer minimalen Sprechpause beugt sich der Therapeut vor und flüstert – durch eine gewisse Manieriertheit den spielerischen Aspekt der Intervention markierend – ihm zu: «Guter Freund, glauben Sie das alles, was Sie uns da erzählen, denn selbst?» Der Patient schaut überrascht auf, denkt einen Moment nach und sagt dann: «Na ja, ich glaube, ich habe auch ein wenig Angst davor, dass sich durch die Therapie gar nichts verändert hat.»
Mentalisierungsbasierte Gruppentherapie Die Gruppentherapie ist zentraler Bestandteil der MBT und in ihrer Konzeptualisierung von Anfang an angelegt (20, 4, 21). Dabei kann die Gruppe vom gleichen («Combined») oder einem anderen («Conjoint») Therapeuten als die begleitende Einzeltherapie durchgeführt werden. In der Gruppenarbeit mit schweren Persönlichkeitsstörungen kommt es aufgrund der Bedrohung der Selbstkohärenz rasch zur Mobilisierung unreifer Abwehrmechanismen mit der Gefahr eines Abgleitens in eine destruktive Gruppendynamik. Auf der anderen Seite kann eine oberflächliche Anpassung an die Gruppennormen erfolgen, die gar nicht so selten als therapeutischer Erfolg missgedeutet wird, jedoch im Als-obModus nicht mit inneren Veränderungsprozessen einhergeht. Beide möglichen Entwicklungen erfordern einen aktiven, mentalisierungsfördernden Leitungsstil des oder der Therapeuten. Grundlage der mentalisierungsbasierten Gruppentherapie ist die Schaffung eines basalen Sicherheitsgefühls, regressive Entwicklungen werden begrenzt, Schweigephasen vermieden (Therapeut als «Resonating Mind»). Der Therapeut sorgt mit seinen Interventionen aktiv dafür, dass seine Beziehung
zu den Patienten und die Beziehung der Patienten untereinander aufrechterhalten wird («Connecting»). Wenn die Gruppe gut mentalisiert, drückt der Leiter seine Freude darüber aus. Besonderen Stellenwert als Intervention in der Gruppe hat neben dem «Challenging» das aktive Austitrieren des Affektniveaus. Dies erfolgt in der Gruppe in spannungsreichen Situationen zum Beispiel durch das Befragen anderer, aktuell nicht Affekt-betroffener Gruppenteilnehmer («Recruiting»). Ein mentalisierungsfördernder Gruppenleiter zeichnet sich durch Humor, Selbstironie und Natürlichkeit aus. In Deutschland hat das Konzept der MBT besonders die Theorie und Praxis der Gruppenanalyse als traditionell stark auf die intersubjektive Begegnung im Hier und Jetzt ausgerichtetes Verfahren beeinflusst und sich als Mentalisierungsbasierte Gruppentherapie (MBGT) beziehungsweise «Mentalization-Informed Group-Analysis» etabliert (21–24).
Beispiel Recruiting In einer stationären Borderline-Gruppe greift eine Patientin eine andere massiv an. Diese reagiert nicht minder heftig, sodass beide beginnen, sich lautstark zu beschimpfen. Eine dritte Patientin ergreift Partei für die Angegriffene und versucht, sie durch noch lauteres Schreien zu übertönen. Die Co-Therapeutin ruft laut «Stopp. Schluss. Ruhe!!» In der eintretenden Stille sagt der Therapeut: «Ich glaube, es wäre gut, wir würden hier kurz innehalten und einmal diejenigen fragen, die im Moment an der Auseinandersetzung nicht beteiligt sind, was sie beobachtet haben. Wer fühlt sich denn bereit, wie ein Zuschauer zu sagen, was er wahrgenommen hat? Anstatt die Frage offen zu stellen, bietet sich auch an, konkret Einzelne anzusprechen und dazu einzuladen, etwa in diesem Sinne: «Frau B., ich fände es wunderbar, wenn Sie uns Ihre Beobachtung der Situation zur Verfügung stellen würden. Mögen Sie?»
In den dargestellten Interventionen erkennt jeder Psychotherapeut zentrale Aspekte seiner täglichen Praxis wieder. Konzept und Anwendung der MBT liefern also nichts vollkommen Neues, was ihr den Vorwurf eingebracht hat, «alter Wein in neuen Schläuchen» zu sein (vgl. 25). Diesen Anspruch erhebt die MBT aber auch gar nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Form der Systematisierung bestehender Theorien, klinischer Erfahrungen und aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse unterschiedlicher Provenienz, zentriert um das Konzept des Mentalisierens, mit dem Ziel, Psychotherapien wirksamer zu gestalten.
3. Stellenwert der MBT für die stationäre Psychotherapie Commitment-förderndes Beziehungsangebot: Die MBT wurde speziell für Situationen entwickelt, in denen Patienten ein psychotherapeutisches Angebot nicht annehmen können oder dieses als nicht hilfreich erleben. Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, bei denen eine ambulante Behandlung nicht ausreichend ist, gelangen oft mehr oder weniger freiwillig in eine stationäre Behandlung. Häufig erfolgt die Behandlung auf Initiative Dritter oder aufgrund der mangelnden Bewerkstelligung des Lebensalltags und weniger aufgrund von einer genuinen Therapie- beziehungsweise Veränderungsmotivation. Insofern ist das Commitment der Patienten mit
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dem Therapieangebot häufig sehr ambivalent, nicht zuletzt weil viele Störungsanteile als Ich-synton erlebt werden und ihren Ausdruck vor allem in projektiven Mechanismen finden. Stationäre Teams sind in der Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen also mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, was die Zurverfügungstellung eines als hilfreich erlebten Beziehungsangebots angeht. Häufige komorbide Suchterkrankungen potenzieren diese Problematik, da der Konsum psychotroper Substanzen als Bewältigungsstrategie nicht ohne grosse Widerstände aufgegeben werden kann. Die MBT fördert durch ihr validierendes, wohlwollend (hinter)fragendes Beziehungsangebot, das sich immer an der aktuellen Mentalisierungskapazität orientiert, die Entwicklung einer neugierig selbstexplorativen Haltung des Patienten. Die mit inneren Veränderungsprozessen einhergehenden Ängste und Widerstände und deren Implikation für die Etablierung einer tragfähigen und entwicklungsfördernden therapeutischen Beziehung finden hierbei besondere Berücksichtigung.
Aktivierung des Bindungsmusters: Keine Psychotherapie ist wirksam ohne Aktivierung des Bindungssystems. Patienten mit Persönlichkeitsstörungen verfügen in der Regel über ein unsicheres Bindungsmuster, dessen Aktivierung häufig zum Zusammenbruch des Mentalisierens führt. Gerade in der stationären Psychotherapie wird durch das Multipersonensystem das Bindungssystem in besonderer Weise aktiviert. Der Rückzug in die soziale Isolation oder die Begrenzung der zwischenmenschlichen Kontakte auf solche, die als sicher gelten, ist nicht möglich. Die Patienten sind in der verdichteten interpersonellen Situation ständig mit Affektüberflutungen und prämentalistischen Zuständen konfrontiert. Therapeutische Haltung und Technik der MBT widmen den damit verbundenen Risiken für den mentalen Zustand der Patienten und die therapeutische Beziehung besondere Aufmerksamkeit und nutzen die krisenhafte Aktivierung des Bindungssystems explizit als therapeutische Chance.
Monitorisieren der eigenen Mentalisierungsfähigkeit: Die Mentalisierungsfähigkeit des Therapeuten spielt in der MBT eine zentrale Rolle. Es ist immer wieder eine besondere Art der Öffnung gegenüber dem Erleben des Patienten gefordert, die auch mit Überraschungen und Irritationen auf Seiten des Therapeuten einhergehen kann. Auch dieser Aspekt ist in der stationären Behandlung besonders bedeutsam, da es sich hier um ein Behandlungsteam handelt, dessen Mentalisierungsfähigkeit von multiplen – und nur zum Teil patientenassoziierten – Faktoren abhängt. Teams in prämentalistischen Zuständen können Patienten erheblich schaden. Es ist daher die Aufgabe des Behandlungsteams, die eigene Mentalisierungsfähigkeit kontinuierlich zu monitorisieren und damit die eigene Wirksamkeit zu überprüfen. Dabei spielen der kontinuierliche interdisziplinäre Austausch und Teamsupervisionen eine besonders zentrale Rolle.
Prozess vor Inhalt: In der MBT steht die Prozessorientierung im Vordergrund. Das ist ein wesentlicher Unterschied gegenüber den anderen evidenzbasierten
Therapien für Persönlichkeitsstörungen, in denen das therapeutische Handeln stärker von einer inhaltlichen Ausrichtung bestimmt wird. Je stärker aber auf ein theoretisches Modell rekurriert wird, desto grösser ist die Gefahr, dass bei Patienten mit Defiziten in der psychischen Struktur und fragiler Identität auch durch Psychotherapie ein «fremdes Selbst» induziert wird, mit für die soziale Realität des Patienten ausserhalb des Behandlungskontexts bestenfalls bedeutungslosen Repräsentanzen. Während einer stationären Psychotherapie erfolgt eine hoch verdichtete Behandlung über eine relativ kurze Zeitspanne in der Vorstellung, dass möglichst vieles auch nachher mental repräsentiert bleibt. Die Wirksamkeit stationärer Psychotherapie zeigt sich letztlich daran, inwieweit sie sich auf die Lebensrealität der Patienten übertragen lässt. Die Haltung der MBT berücksichtigt in besonderer Weise, dass die inhaltliche Ausrichtung der Therapie nur so weit hilfreich sein kann, wie die damit verbundenen Interventionen von den Patienten mentalisiert werden können und dadurch als «echte Repräsentanzen» auch anschliessend nutzbar sind. Zentrale Behandlungsaspekte wie die Anwendung von Skills, die Einsicht in maladaptive Schemata oder die Deutung von Übertragungsmustern sind nur dann bedeutungsvoll, wenn sie von den Patienten nicht in einem Als-ob-Modus übernommen werden, sondern Behandlungsteam und Patienten sie innerhalb der therapeutischen Begegnung gemeinsam mentalisieren.
Stellenwert der Gruppentherapie: Die MBT konzeptualisiert die Gruppentherapie als gleichwertig gegenüber der Einzeltherapie und eignet sich damit besonders für die Gestaltung eines stationären Psychotherapiekonzepts, bei dem gruppenpsychotherapeutische Behandlungen einen zentralen Bestandteil bilden. Die Behandlung wird stets als Gruppenbehandlung «gedacht» (vgl. 26: «Jede Therapie im stationären Setting ist Gruppentherapie»). Die Gruppentherapie hat in der MBT nicht den Status eines adjuvanten Verfahrens, sondern wird als zentrale Behandlungsform verstanden.
4. MBT in der UPK Basel Die Psychotherapieabteilung PTA der UPK verfolgt seit ihrer Eröffnung 1998 das Ziel, Patienten ein schulenübergreifendes stationäres Behandlungskonzept mit psychodynamischen und verhaltenstherapeutischen Bestandteilen anzubieten (vgl. 27), was heute für das Patientenklientel stationärer Psychotherapie mit Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen und psychosomatischen Erkrankungen als «Common Sense» gelten kann. Auf der PTA werden Gruppenangebote wie Achtsamkeits- und Fertigkeitentrainings nach DBT, soziales Kompetenztraining, nonverbale Therapien wie Körper-, Gestaltungs- und Musiktherapie mit psychodynamischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen in der ärztlichen oder psychologischen Einzeltherapie sowie einer bezugspflegerischen Alltagsbegleitung kombiniert. Das Mentalisierungskonzept und die besondere Gewichtung der mentalisierungsbasierten Gruppentherapie stellen eine übergeordnete Integration dieser verschiedenen Behandlungsansätze und die störungsspezifische Ausrichtung der Gesamtbehandlung sicher. Ihr Zusammenspiel wird stets im Hinblick auf seine Wirksamkeit in Bezug auf das gemeinsame Mentalisieren
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von Patienten und Team überprüft. Je schwerer das aufgrund einer strukturellen Störung oder krisenhaften Zuspitzung bestehende Mentalisierungsdefizit , desto mehr geht es in der stationären Psychotherapie um eine prozessorientierte Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit als Basis für Integration und Wirksamkeit verschiedener inhaltlicher Interventionen. Das Ziel einer verbesserten Mentalisierungsfähigkeit dient nicht zuletzt dazu, auch Patienten mit schweren Störungen der Persönlichkeit eine ambulante Behandlung zu ermöglichen beziehungsweise deren Wirksamkeit zu erhöhen und damit langfristig psychisches Leiden zu vermindern und die psychosoziale Funktionsfähigkeit der Patienten zu verbessern. G
Korrespondenz: Dr. med. Sebastian Euler Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Wilhelm Klein-Strasse 27
CH-4012 Basel Tel. 061-325 55 92 E-Mail: sebastian.euler@upkbs.ch
Möglichkeiten zur Fort- und Weiterbildung in Mentalisierungsbasierter Therapie können beim Autor unter der Korrespondenzadresse erfragt werden.
Merksätze:
G Mentalisieren heisst, sich auf die inneren, «mentalen» Zustände von sich selbst und von anderen zu beziehen, diese als dem Verhalten zugrunde liegend zu begreifen und darüber nachdenken zu können.
G Die Mentalisierungsbasierte Therapie ist für die Psychotherapie der Borderline-Störung als Prototyp schwerer Persönlichkeitsstörungen evidenzbasiert.
G Die Kombination von Einzel- und Gruppenpsychotherapie ist zentraler Bestandteil des MBTKonzepts.
G Die MBT eignet sich besonders für eine übergeordnete Integration verschiedener Behandlungsansätze im institutionellen Setting.
G Besonderes Augenmerk wird in der MBT darauf gerichtet, psychotherapeutische Interventionen wirksam zu gestalten.
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