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Behandlung komorbider psychischer Störungen bei Alkoholabhängigkeit
Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit leiden häufig an einer psychiatrischen Komorbidität. Eine parallele oder integrative Behandlung der beiden psychiatrischen Erkrankungsbilder ist meist indiziert und therapeutisch – insbesondere im Hinblick auf eine gute Compliance bei der Behandlung und zur Reduktion des Alkoholrückfallrisikos – sinnvoll. Dieser Artikel gibt eine Übersicht über die häufigsten psychiatrischen Komorbiditäten bei Alkoholabhängigkeit und einen Überblick über die störungsspezifische pharmokologische Therapie der entsprechenden Komorbidität.
Julian Herrmann Stefan Bleich Thomas Hillemacher
von Julian Herrmann, Stefan Bleich und Thomas Hillemacher
D er schädliche Gebrauch von Alkohol wie auch die Alkoholabhängigkeit stellen nicht nur in Europa, sondern auch global eine der häufigsten Abhängigkeitserkrankungen dar. Neben den vielfältigen somatischen Folge- beziehungsweise Begleiterkrankungen des übermässigen Alkolkonsums und den bekannteren alkoholassoziierten (neuro-)psychiatrischen Symptomen wie beispielsweise Ataxie, Polyneuropathie, Delir, Alkoholhalluzinose und Korsakow-Syndrom, sind auch andere psychische Erkrankungen häufig (1). Epidemiologische Studien zeigen, dass bei rund 28,6 Prozent der Patienten mit Alkoholabhängigkeit die (Neben-)Diagnose einer Persönlichkeitsstörung (NESARC-Studie [2]) gestellt werden kann; bei zirka 32,2 Prozent der bipolar affektiv erkrankten Patienten konnte eine Alkoholabhängigkeit in der Vorgeschichte eruiert werden (STEP-BD-Studie), und 11,8 Prozent der Patienten mit selbiger Diagnose litten aktuell an einer Alkoholabhängigkeit (3). Das Risiko, eine bipolar-affektive oder Angst- und Panikstörung zu entwickeln, ist um den Faktor 3 bis 4, das Risiko, an einer depressiven Episode zu erkranken, ist um den Faktor 2 erhöht (jeweils im Vergleich zur Normalbevölkerung). Zudem ist laut aktuellen Studien von einem 4- bis 6-fach erhöhten Suizidrisiko auszugehen.
Modelle der Komorbiditätsentstehung Neben der chronologischen Differenzierung (primäre vs. sekundäre Abhängigkeit, je nachdem, wann die Alkoholabhängigkeit auftrat) gibt es weitere Modelle, die versuchen, differenzierter einen chronologischen Zusammenhang zwischen Komorbidität und Alkoholkrankheit zu erfassen. Klinisch relevant sind das sogenannte integrative Modell, bei dem die zeitliche Reihenfolge des Auftretens der psychischen Erkrankungen nicht sicher eruiert werden kann, und das bidirektionale Modell. Letzteres geht von einer beidseitigen
Verstärkung der psychischen Erkrankungen aus und fordert deswegen eine parallele beziehungsweise integrative Therapie beider Erkrankungen. Das Modell der sekundären psychischen Störungen stellt die Erkrankungen in einen kausalen Zusammenhang. In Studien konnte ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten von affektiven Störungen bei vorbestehender Alkoholkrankheit nachgewiesen werden. So besteht nach Fergusson et al. (4) bei Alkoholabhängigkeit ein erhöhtes Risiko für eine Depression, der Umkehrschluss liess sich in dieser Untersuchung nicht ziehen.
Klinik Klinisch besonders hervorzuheben sind neben den Persönlichkeitsstörungen und den Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis die häufigen affektiven Störungen (5). Zumeist sind psychotische Erkrankungen in der Anamnese der Patienten vorbekannt, differenzialdiagnostisch ist eine psychotische Alkoholfolgeerkrankung (insbesondere eine Alkoholhalluzinose) auszuschliessen. Hinsichtlich affektiver Symptome kann es im Rahmen der qualifizierten Entzugsbehandlung zu depressiven Stimmungsschwankungen kommen, die für die Dauer von 2 bis 4 Wochen anhalten können. Frühestens nach dieser Zeit kann unter anderem mittels (neuro-)psychologischer Testdiagnostik die sicherere Abgrenzung einer manifesten affektiven Störung von einer im Rahmen des Alkoholentzuges aufgetretenen vorübergehenden depressiven Stimmungslage erfolgen (entsprechend der deutschen S3-Leitlinie «Unipolare Depression»). Die britischen NICE-Guidelines empfehlen ebenfalls, zunächst die qualifizierte Entzugstherapie durchzuführen, da sich im Anschluss und im Rahmen der Abstinenz eine deutliche Verbesserung der affektiven Stimmungslage einstellen kann. Eine weiterführende Diagnostik – bei Persistenz der depressiven Symptomatik – wird auch hier in einem Intervall von 3 bis 4 Wochen empfohlen. Bei Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit und einer weiteren psychiatrischen Komorbidität sollte die füh-
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rende Diagnose zuerst behandelt werden. Sind beide Erkrankungen hinsichtlich der Behandlungswürdigkeit gleichwertig (bidirektionales Modell), sollte eine störungsspezifische Therapie beider Erkrankungen erfolgen. Bei der medikamentösen Therapie können prinzipiell alle Medikamente zum Einsatz kommen, die für beide Erkrankungen indiziert beziehungsweise zugelassen sind.
Medikamentöse Therapie Antipsychotika Bei der Behandlung von psychotischen Symptomen im Rahmen eines Alkoholdelirs oder einer Alkoholhalluzinose empfiehlt sich die Therapie mit einem Antipsychotikum aus der Butyrophenongruppe wie zum Beispiel Haloperidol. Bei der Alkoholhalluzinose kann auch – wie bei der Schizophrenie – ein Atypikum eingesetzt werden, wobei der therapeutische Erfolg meist leider nur begrenzt ist. Vorzüge der Atypika sind vor allem ein geringeres Nebenwirkungsspektrum (insbesondere weniger extrapyramidal-motorische Symptome) und möglicherweise positive Effekte (insbes. für Aripiprazol und Quetiapin) auf das Risiko einer Alkoholrückfälligkeit (6, 7). Bei der Wahl des Antipsychotikums sollte aufgrund des erhöhten kardiovaskulären Risikos auf anticholinerg wirksame Präparate eher verzichtet werden.
Antidepressiva Bei der Behandlung von affektiven Störungen des alkoholabhängigen Patienten sind Antidepressiva aus der Substanzgruppe der Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI, z.B. Sertralin) im Allgemeinen die erste Wahl. Sie haben keine sedierende Komponente, machen weniger Interaktionen als Antidepressiva anderer Substanzgruppen und scheinen einen positiven Effekt auf das Rückfallrisiko zu haben, zumindest für die Gruppe von Alkoholabhängigen mit komorbider depressiver Störung (8). Zu beachten ist eine mögliche QT-Zeit-Verlängerung (am ggf. durch die Alkoholabhängigkeit vorgeschädigten Herzen) unter der Therapie mit einem SSRI, weshalb vor Beginn und unter der Therapie EKGKontrollen durchgeführt werden sollten. Alternativ können unter Berücksichtigung derselben Risikofaktoren Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI, z.B. Venlafaxin, Duloxetin) eingesetzt werden. Eine weitere Möglichkeit bietet der Melatoninagonist Agomelatin. Die meist deutlich gestörte zirkadiane Rhythmik bei den betroffenen Patienten kann hier eventuell positiv beeinflusst werden. Aufgrund der beschriebenen Transaminase-Erhöhungen unter Behandlung mit Agomelatin sind regelmässige Kontrollen dringend anzuraten. Trizyklische Antidepressiva (TZA) mit anticholinergen Nebenwirkungen sind aufgrund der möglichen Interaktionen mit Alkohol sowie des erhöhten Risikos von Herzrhythmusstörungen eher zu vermeiden. Problematisch können auch generell Medikamente mit einer sedierenden Komponente sein – aufgrund der möglichen Wirkungspotenzierung im Falle eines erneuten Alkoholkonsums. Kontraindiziert sind diese Antidepressiva allerdings nicht und können durchaus im Einzelfall zum Einsatz kommen – insbesondere bei längerfristig bestehenden Schlafstörungen und Unruhezuständen im Rahmen der komorbiden affektiven Störung.
Phasenprophylaktika In der Behandlung bipolarer Störungen bei zudem bestehender Alkoholabhängigkeit haben sich die Wirkstoffe Valproat und Topimarat bewährt. Für Valproat konnte in einzelnen Studien nachgewiesen werden, dass der exzessive Alkoholkonsum abnahm (9). Unter der Therapie mit Valproat sind Kontrollen der Transaminasen (Hepatotoxizität), des Blutbildes und der Gerinnung sowie Valproat-Spiegelbestimmungen (zur Vermeidung von u.a. einer Valproatenzephalopathie bei Dauertherapie) indiziert. Für Topiramat konnte eine Trinkmengenreduktion nachgewiesen werden (10). Aufgrund der leider nicht ausreichenden phasenprohylaktischen Wirkung bei der bipolaren Störung ist eine Monotherapie mit Topiramat allerdings nicht zu empfehlen. Aber auch andere Phasenprophylaktika wie Lamotrigin, Lithium oder Carbamazepin können bei alkoholabhängigen Patienten zum Einsatz kommen – zu beachten ist dabei jedoch die bei komorbid suchtkranken Patienten häufig schlechte Compliance, was insbesondere bei einer Behandlung mit Lithium problematisch sein kann.
Medikamente zur Alkoholrückfallprophylaxe Zur medikamentösen Behandlung der Alkoholrückfallprophylaxe stehen derzeit in Deutschland drei Präparate mit der entsprechenden Zulassung und in Studien nachgewiesener Effektivität zur Verfügung. Hierbei handelt es sich um Acamprosat (Glutamat-Rezeptor-Modulator) und die Opioid-Rezeptor-Antagonisten Naltrexon und Nalmefene (Nalmefene zur Reduktion der Trinkmenge, keine Zulassung in der Schweiz). Gute Ergebnisse wurden nach einer aktuellen Studie bei an einer Alkoholabhängigkeit an einer bipolaren Störung erkrankten Patienten mit der Kombination der Wirkstoffe Sertralin und Naltrexon erreicht (11). Bei Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit und einer Schizophrenie konnte für die Kombination von Naltrexon und einem Antipsychotikum eine gute Wirksamkeit nachgewiesen werden (12). Für Nalmefene liegen bis heute keine Daten für die Anwendung bei Patienten mit komorbiden psychischen Störungen vor. Als weiteres mögliches Präparat zur Rückfallprophylaxe steht Disulfiram zur Verfügung (in Deutschland nicht mehr zugelassen, hingegen in der Schweiz). Aufgrund der Nebenwirkungen (u.a. Übelkeit, Erbrechen, Hypotonie und Herzrhythmusstörungen) setzt der sichere Einsatz von Disulfam insbesondere eine ausreichende Compliance des Patienten voraus. Daher ist Disulfiram bei Patienten mit komorbider psychotischer Störung eher nicht geeignet, bei Patienten mit affektiver Störung kann der Einsatz hingegen durchaus erwogen werden. Keine sicheren Daten liegen für andere Substanzen wie zum Beispiel Topiramat oder Baclofen zur Behandlung der Alkoholrückfallprophylaxe vor.
Fazit Alkoholabhängigkeit geht häufig mit psychiatrischen Komorbiditäten einher. Da sich die Alkoholabhängigkeit und die psychiatrische (Neben-)Erkrankung synergistisch im Sinne eines «Teufelskreises» verstärken können, ist die parallele beziehungsweise integrative Behandlung beider Erkrankungen in den meisten Fällen indiziert.
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Hierzu liegen für die entsprechenden psychiatrischen
Störungsbilder entsprechende pharmakologische The-
rapieoptionen vor, in Abhängigkeit vom jeweiligen Wir-
kungs- und Nebenwirkungsprofil der entsprechenden
Substanz sowie der Symptomatik und den Begleiter-
krankungen des Patienten. Durch eine zielgerichtete
pharmakologische Behandlung der psychiatrischen Ko-
morbidität in Kombination mit einem integrativen psy-
chotherapeutischen Behandlungskonzept kann eine
erfolgreiche Behandlung dieser oft schwer betroffenen
Patienten gelingen.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Julian Herrmann
Center for Addiction Research (CARe)
Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
Zentrum für Seelische Gesundheit
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Strasse 1
D-30625 Hannover
Tel. +49-511-532 35 29
Fax +49-511-532 82 66
E-Mail: herrmann.julian@mh-hannover.de
Literatur:
1. Hillemacher T, Bleich S: Alkoholabhängigkeit und komorbide psychische Störungen. Psychische Störungen und Suchterkrankungen, Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. PD Dr. Marc Walter, Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank (Hrsg.), 1. Auflage, 2013, Kohlhammer 2013, Verlag C.H. Beck: 149–159.
2. Grant BF, Stinson FS, Dawson DA, Chou SP, Ruan WJ, Pickering RP: Cooccurrence of 12-month alcohol and drug use disorders and personality disorders in the United States: results from the National Epidemiologic Survey on Alcohol and Related Conditions. Arch Gen Psychiatry 2004; 61: 361–8.
3. Ostacher MJ, Perlis RH, Nierenberg AA, Calabrese J, Stange JP, Salloum I, Weiss RD, Sachs GS: Impact of substance use disorders on recovery from episodes of depression in bipolar disorder patients: prospective data from the Systematic Treatment Enhancement Program for Bipolar Disorder (STEP-BD). Am J Psychiatry 2010; 167: 289–97.
4. Fergusson DM, Boden JM, Horwood LJ (2009) Tests of causal links between alcohol abuse or dependence and major depression. Arch Gen Psychiatry 66: 260–6.
Merksätze:
G Alkoholabhängigkeit geht häufig mit psychia-
trischen Komorbiditäten einher.
G Eine parallele beziehungsweise integrative Be-
handlung beider Erkrankungen ist in den meis-
ten Fällen indiziert.
G Für die entsprechenden psychiatrischen Stö-
rungsbilder liegen pharmakologische Thera-
pieoptionen vor.
G Durch die pharmakologische Behandlung in
Kombination mit einem integrativen psycho-
therapeutischen Behandlungskonzept kann
eine erfolgreiche Behandlung gelingen.
5. Hillemacher T, Wilhelm J, Heberlein A: Depression und Alkoholabhängigkeit – eine therapeutische Herausforderung. Nervenheilkunde 2012, 31(5): 305–310
6. Martinotti G, Andreoli S, Di Nicola M, Di Giannantonio M, Sarchiapone M, Janiri L: Quetiapine decreases alcohol consumption, craving, and psychiatric symptoms in dually diagnosed alcoholics. Hum Psychopharmacol 2008, 23: 417–24.
7. Martinotti G, Di Nicola M, Di Giannantonio M, Janiri L: Aripiprazole in the treatment of patients with alcohol dependence: a double-blind, comparison trial vs. naltrexone. J Psychopharmacol 2009; 23: 123–9.
8. Kenna GA: Medications acting on the serotonergic system for the treatment of alcohol dependent patients. Curr Pharm Des 2010, 16: 2126–35.
9. Salloum IM, Cornelius JR, Daley DC, Kirisci L, Himmelhoch JM, Thase ME: Efficacy of valproate maintenance in patients with bipolar disorder and alcoholism: a double-blind placebo-controlled study. Arch Gen Psychiatry 2005; 62: 37–45.
10. Johnson BA, Rosenthal N, Capece JA, Wiegand F, Mao L, Beyers K, McKay A, Ait-Daoud N, Anton RF, Ciraulo DA, Kranzler HR, Mann K, O’Malley SS, Swift RM: Topiramate for treating alcohol dependence: a randomized controlled trial. JAMA 2007; 298: 1641–51.
11. Pettinati HM, Oslin DW, Kampman KM, Dundon WD, Xie H, Gallis TL, Dackis CA, O’Brien CP: A double-blind, placebo-controlled trial combining sertraline and naltrexone for treating co-occurring depression and alcohol dependence. Am J Psychiatry 2010; 167: 668–75.
12. Petrakis IL, O’Malley S, Rounsaville B, Poling J, McHugh-Strong C, Krystal JH: Naltrexone augmentation of neuroleptic treatment in alcohol abusing patients with schizophrenia. Psychopharmacology 2004; (Berl) 172: 291–7.
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