Transkript
Abhängigkeitsproblematiken in der Sozialversicherung
FORTBILDUNG
Leistungsvoraussetzungen im schweizerischen Sozialversicherungssystem fallen je nach Versicherungszweig sehr unterschiedlich aus. In Bezug auf Abhängigkeitsproblematiken bestehen beispielsweise erhebliche Unterschiede zwischen der Kranken- und der Invalidenversicherung.
Hans-Jakob Mosimann
von Hans-Jakob Mosimann
Allgemeines
D as schweizerische Sozialversicherungssystem ist historisch gewachsen und deshalb in verschiedene Zweige gegliedert. Daraus folgt, dass die Leistungsvoraussetzungen und der Leistungsumfang je nach Versicherungszweig unterschiedlich ausfallen können. Prägend ist sodann der Umstand, dass ein Leistungsanspruch nur besteht, wenn die dafür geforderten – zweigspezifischen – Voraussetzungen erfüllt sind; das klassische Beispiel dürfte die Unfallversicherung sein, die nur Leistungen erbringt für Gesundheitsschäden, die mit einem versicherten Unfall in rechtsgenüglichem Kausalzusammenhang stehen. Bezogen auf Abhängigkeitsproblematiken bedeutet dies, dass erhebliche Unterschiede zwischen der Krankenversicherung (KV) und der Invalidenversicherung (IV) bestehen. In der KV wird eine Abhängigkeitsproblematik in der Regel als Krankheit im Rechtssinn aufgefasst und vermag – mit noch zu erläuternden Einschränkungen – Leistungsansprüche auszulösen. In der IV sind die Hürden für einen Anspruch auf Eingliederungs- oder Rentenleistungen bedeutend höher.
Krankenversicherung Die soziale Krankenversicherung gewährt Leistungen unter anderem bei Krankheit (1). Als Krankheit definiert ist – abgesehen von Unfallfolgen – jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (2). Für Leistungen, welche von Ärzten erbracht oder verordnet werden, gilt eine sogenannte Pflichtleistungsvermutung: Sie gelten als wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich, sofern nicht etwas anderes festgelegt ist (3) oder der Krankenversicherer im Einzelfall den Nachweis des Gegenteils erbringt, womit sie vom Krankenversicherer zu vergüten sind. Die Ausnahmen von dieser Pflichtleistungsvermutung sind im Anhang zur Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) einzeln genannt (4). Eine Sucht besteht gemäss der Rechtsprechung – seit Langem (und an den «Pschyrembel» angelehnt) – «im unbezwingbaren Verlangen zur fortgesetzten Einnahme mit Entziehungserscheinungen nach Absetzen, Tendenz zur Steigerung der Dosis, Schäden für Indivi-
duum und Gesellschaft» (5), was sowohl die Alkohol- als auch die Drogenabhängigkeit umfasst (6). Die damals als solche bezeichnete Trunksucht gilt gemäss jahrzehntelang gefestigter Rechtsprechung an sich schon prinzipiell als Krankheit und nicht erst dann, wenn sie Symptom oder Ursache einer anderen Erkrankung ist (7); die Heroinsucht wurde erstmals im Jahr 1992 als leistungsauslösende Krankheit eingestuft (8). Soweit ersichtlich, enthält der Anhang zur KLV keine Einschränkungen der Pflichtleistungsvermutung bezüglich der Behandlung von Alkohol- und Medikamentenabhängigkeitsproblematiken. Hingegen bestehen bestimmte Limiten bezüglich der Behandlung von Rauschgiftsüchtigen. So sind Leistungskürzungen bei nachgewiesenem schwerem Selbstverschulden zulässig, und die Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigkeit wird von der Einhaltung einzelner Bestimmungen, Richtlinien und Empfehlungen abhängig gemacht (9); für Opiatentzugs-Eilverfahren unter Sedation oder Narkose wird eine Leistungspflicht ausdrücklich verneint.
Invalidenversicherung Seit Bestehen der IV (also seit 1960) unterscheidet die Rechtsprechung zwischen Beeinträchtigungen, welche zu einem Leistungsanspruch führen können, und solchen, die sozusagen nicht in die Zuständigkeit der IV fallen, wie beispielsweise Erwerbseinbussen aus konjunkturellen Gründen (10). So gelten seit je ein fortgeschrittenes Alter, mangelnde Schul- oder Berufsbildung und Schwierigkeiten sprachlicher Art, die auf dem Arbeitsmarkt zweifellos ein Handicap sind, als sogenannt invaliditätsfremde Gründe, für welche die IV nicht einzustehen hat (11). Bei den Abhängigkeitsproblematiken ist eine weitere Grenzziehung ersichtlich, die ebenfalls schon früh eingesetzt hat und die ein ausgesprochen wertendes Element enthält. Bereits ab 1962 hielt das damals zuständige Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG; heute: Bundesgericht) nämlich fest, dass der übermässige und chronische Konsum von Alkohol als grobfahrlässiges Verhalten zu werten sei, was Leistungskürzungen bis zu 50 Prozent rechtfertigte (12). Ausnahmsweise wurde von einer Kürzung abgesehen, etwa bei einem an chronischen Schmerzen leidenden und psychisch belasteten Versicherten, der als Wirt überdies besonders gefährdet war (13). Diese Kürzungspraxis wurde 1993 aufgegeben, weil nach dem Beitritt
&34 1/2014
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
der Schweiz zu einem entsprechenden internationalen Abkommen Leistungskürzungen bei Fahrlässigkeit nicht mehr zulässig waren. Eine zweite Ab- und Ausgrenzung wurde erstmals 1968 vorgenommen: Trunksucht (in der damaligen Terminologie) vermag für sich allein betrachtet keine Invalidität zu begründen. Sie ist nur dann relevant, wenn sie eine Krankheit (oder einen Unfall) bewirkt hat, «in deren Gefolge ein körperlicher oder geistiger Gesundheitsschaden eingetreten ist, oder falls sie selber die Folge eines Gesundheitsschadens ist, dem Krankheitswert zukommt» (14). Dies gilt bis heute und prägt die IV-Rechtsprechung zu den Abhängigkeitsproblematiken: Sogenannt «reines Suchtgeschehen» bleibt in der IV unberücksichtigt. Eine Abhängigkeitsproblematik ist also nur dann IV-relevant, wenn sie ihrerseits einen krankheitswertigen Gesundheitsschaden bewirkt hat oder wenn sie die Folge einer vorbestehenden (wohl psychischen) Beeinträchtigung mit Krankheitswert ist. Bei der ersten Variante (suchtinduzierter Gesundheitsschaden) bewirkt der resultierende krankheitswertige Gesundheitsschaden eine Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit, die losgelöst von der Frage ihrer Entstehung einen Leistungsanspruch begründen kann. Von Bedeutung ist deshalb praktisch gesehen vor allem die zweite Variante (durch eine psychische Krankheit bewirktes, sekundäres Suchtgeschehen). Hier ist erforderlich, dass der Suchterkrankung eine ausreichend schwere und ihrer Natur nach für die Entwicklung einer solchen geeignete Gesundheitsstörung zugrunde liegt, welche zumindest eine erhebliche Teilursache der Sucht darstellt (15). Mit dem Erfordernis des Krankheitswerts einer allfälligen verursachenden psychischen Krankheit wird verlangt, dass diese die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit einschränkt (16).
Eine IV-relevante Abhängigkeitsproblematik wurde etwa in folgenden Fällen bejaht: G Diagnostiziert waren eine chronische Hepatitis C
und Störungen durch Alkohol (F10), durch Opioide (F11.2) sowie durch Kokain (F14.2), die beiden Letzteren mit Abhängigkeitssyndrom, und eine abhängige Persönlichkeitsstörung (F60.7) beziehungsweise eine chronische Hepatitis C, eine Polytoxikomanie (F19.21) sowie eine schwere Entwicklungsstörung der Persönlichkeit mit abhängigen, haltarmen, unreifen, impulsiven und dissozialen Zügen (F60.8). Laut Gutachten war von einer psychischen Grundproblematik mit Krankheitswert auszugehen, welche sich einerseits prädisponierend auf die Suchterkrankung, anderseits aber auch auf die allgemeine Lebensbewährung und besonders auf den schulischen sowie beruflichen Werdegang auswirkte. Dies führte zu einem Zusammenwirken der pathologischen Grundvoraussetzungen mit den (ebenfalls pathologischen) Folgen des Suchtmittelkonsums, womit für das Bundesgericht die schwere Entwicklungsstörung der Persönlichkeit zumindest im Sinne eines wesentlichen Teilzusammenhangs an schulischen Problemen, der vorzeitigen Beendigung der Lehre wie auch der Drogenabhängigkeit beteiligt war (17). G Diagnostiziert waren eine langjährige Opiatabhängigkeit, aktuell substituiert durch Methadon (F11.22), und Benzodiazepinabhängigkeit (Rohypnol; F13.25),
eine ängstliche Persönlichkeitsstörung (F60.6) sowie eine soziale Phobie (F40.1), und es wurden deutliche Störungen des Verhaltens, des Affektes und der kognitiven Funktionen berichtet. Gemäss Gutachten konnte nach gängigen Krankheitskonzepten die Abhängigkeitserkrankung als sekundär zu der vorbestehenden ängstlichen Persönlichkeitsstörung und sozialen Phobie betrachtet werden. Dies wurde in einem weiteren Gutachten bestätigt mit der Diagnose einer Mehrfachabhängigkeit sowie einer ausgeprägten ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung mit zusätzlichen asthenischen und passiv-aggressiven Zügen, welche prämorbid (vor der Suchterkrankung) klar vorhanden gewesen sei (18). G Diagnostiziert waren eine Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen, narzisstischen und dissoziativen Zügen (F 61) und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte depressive Episode (F 33.0) sowie ein schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden.
In den folgenden Fällen wurde umgekehrt eine IVrelevante Abhängigkeitsproblematik verneint (und damit «reines Suchtgeschehen» angenommen): G Die Gutachter führten die Arbeitsunfähigkeit einzig
auf die Drogensucht zurück; sie diagnostizierten eine Störung durch multiplen Substanzgebrauch (F19.25). Eine fremdanamnestisch vermutete Angsterkrankung konnten sie nicht bestätigen, und lediglich anamnestisch erwähnten sie Hinweise auf rezidivierende depressive Verstimmungen (19). G Eine krankheitswertige Gesundheitsschädigung, die zur Drogensucht geführt hätte, wurde verneint, weil dafür die geltend gemachten Probleme familiärer Natur und bei der Integration mit mehrfachem Landeswechsel wie auch ein allfälliges und nicht gesichertes ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) im Kindesalter nicht ausreichten. Zudem war der Versicherte imstande, die obligatorische Schule zu besuchen, eine Lehre mit gutem Zeugnis der Lehrfirma, wenn auch ohne erfolgreichen Abschluss, zu absolvieren und in der Folge verschiedene Erwerbstätigkeiten mit durchwegs positiven Zeugnissen auszuüben (20). G Diagnostiziert waren ein Abhängigkeitssyndrom mit multiplem Substanzgebrauch und eine seit Kindheit bestehende spezifisch isolierte Phobie im Sinne einer Miktionsphobie. Dies genügte ebenso wenig wie die geltend gemachte Veranlagung zu labiler Psyche, familiäre Umstände, der Abbruch einer Ausbildung und eine erfolgte Ausweitung/Verlagerung von weichen auf harte Drogen (21). G Diagnostiziert waren ein Abhängigkeitssyndrom durch Opioide bei gegenwärtiger Teilnahme an einem ärztlich überwachten Ersatzdrogenprogramm sowie ein schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden bei paranoider Persönlichkeitsstörung. Laut Gutachter war es unwahrscheinlich, dass eine psychiatrische Grundkrankheit sekundär zum Drogenabusus geführt habe; vielmehr hätten primär sehr wahrscheinlich typische Merkmale wie Entwurzelung, fehlende Geborgenheit und innere Leere bestanden (22). G Diagnostiziert war nebst einer Drogensucht eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Weitere Befunde,
1/2014
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
35
FORTBILDUNG
aus denen zuvor auf eine mittelgradige Episode einer rezidivierenden depressiven Störung und auf eine posttraumatische Belastungsstörung geschlossen worden war, waren laut Gutachten als Suchtfolgen zu verstehen. Lediglich aufgrund der (an sich nicht schweren) Persönlichkeitsstörung konnte die Drogensucht aus medizinischer Sicht nicht als Symptom oder als integrierender Bestandteil des psychischen Gesundheitsschadens aufgefasst werden (23).
Fazit
Die Rechtsprechung zur Frage, ob ein primär psychischer
Gesundheitsschaden zum Abhängigkeitsgeschehen ge-
führt hat, ist – wie man sieht – stark einzelfallbezogen.
Dementsprechend gewichtig ist, was dazu in den medi-
zinischen Beurteilungen und insbesondere den psych-
iatrischen Gutachten ausgeführt wird.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. iur. M.A. Hans-Jakob Mosimann
Richter am Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
Lagerhausstrasse 19
Postfach
8401 Winterthur
Tel. 052-268 10 11
Fax 052 268 10 09
E-Mail: Hans-Jakob.Mosimann@svger-zh.ch
Ich danke Sarah Willi, Studentin im Studiengang Wirtschaftsrecht der School of Management and Law, Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW), für wertvolle Vorarbeiten.
Referenzen:
1. Art. 1a Abs. 2 lit. a des Bundesgesetzes über die Krankversicherung (KVG).
2. Art. 3 des Bundesgesetzes über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG).
3. BGE 136 V V 84 E. 2.1 (zugänglich via www.bger.ch > Rechtsprechung > BGE > Index).
4. Die KLV steht (wie die vorstehend genannten Gesetze) als PDF zur Verfügung via www.admin.ch > Systematische Rechtssammlung > Suche: Abkürzung eingeben.
5. BGE 118 V 107 E. 1b.
6. BGE 137 V 295 E. 5.3.2; auch die Nikotinsucht fällt mittlerweile darunter; sie gilt aber rechtlich nur dann als Krankheit, wenn sie aus medizinischer Sicht behandlungsbedürftig ist (BGE 137 V 295 E. 5.3.3).
7. BGE 101 V 77 E. 1a.
8. BGE 118 V 107.
9. Sie sind in Ziffer 8 (Psychiatrie) des Anhangs zur KLV (vgl. Anm. 4) detailliert aufgelistet.
10. BGE 104 V 135 E. 3c.
11. BGE 107 V 17 E. 2c.
12. EVGE 1962 S. 101, Urteil vom 21. Mai 1962; Zeitschrift für die Ausgleichskassen (ZAK) 1970 S. 235 ff., Urteil vom 8. September 1969; BGE 97 V 226; BGE 104 V 1.
13. BGE 98 V 31.
14. So erstmals Zeitschrift für die Ausgleichskassen (ZAK) 1969 S. 258; sodann auch BGE 99 V 28 E. 2b.
15. Urteil des Bundesgerichts I 192/02 vom 23. Oktober 2002 E. 1.2.2 (zugänglich via www.bger.ch > Rechtsprechung > Rechtsprechung [gratis] > weitere Urteile ab 2000 > Suche: Fall-Nummer).
16. BGE 99 V 28 E. 2; Urteil I 940/05 vom 10. März 2006 E. 2.2; Urteil I 758/01 vom 5. November 2002 E. 3.1.
17. Urteil I 390/01 vom 19. Juni 2002.
18. Urteil I 758/01 vom 5. November 2002.
19. Urteil I 940/05 vom 10. März 2006.
20. Urteil I 955/05 vom 6. November 2006.
21. Urteil 8C_582/2008 vom 14. Januar 2009.
22. Urteil 8C_694/2008 vom 5. März 2009.
23. Urteil 9C_856/2012 vom 19. August 2013.
&36 1/2014
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE