Transkript
FORTBILDUNG
Was spricht für eine (frühe) Sprachtherapie mit Kindern?
Eine Sprachtherapie mit individueller entwicklungsanstossender, erwerbsnachholender oder kompensatorischer Zielsetzung hat gute Aussichten auf Erfolg. Diese braucht nicht mit Rücksicht auf die Reife eines Kindes für eine vermeintliche Übungstherapie auf das Vorschulalter verschoben zu werden. Vielmehr nutzt sie effektiv die frühen Phasen des impliziten Sprachlernens. Bei bilingualen Kindern erfolgt sie idealerweise in beiden Sprachen.
Simone Kannengieser
von Simone Kannengieser
N ach Schätzungen haben zirka 6 bis 8 Prozent der Kinder eines Jahrgangs nachhaltige Schwierigkeiten beim Spracherwerb. Im Rahmen einer logopädischen Diagnostik wird ein detailliertes Sprachentwicklungsprofil des Kindes erstellt. Daraus können erwerbslogisch, das heisst, in Übereinstimmung mit bekannten typischen Spracherwerbsabfolgen, nächste linguistische Ziele abgeleitet werden. Die Wirkweise der logopädischen Therapie beruht auf der selektiven Auseinandersetzung mit der ausgewählten sprachlichen Zielstruktur. Angebot und Verwendung des entsprechenden sprachlichen Materials finden vorzugsweise funktional, das heisst innerhalb von sinnvoller Kommunikation beziehungsweise im Spiel statt. Sprachbewusstheit ist bei dieser Methodik nicht erforderlich, sodass die Sprachtherapie sofort bei Erkennen eines untypischen Sprachentwicklungsverlaufs ab zirka zwei Jahren beginnen kann.
Erschwerter Spracherwerb Sprachkompetenz beruht auf der kognitiven Repräsentation des einzelsprachlichen Systems, bestehend aus den Elementen Laut, Lautcluster, Silbe, Wortbaustein, Wortform, Wortbedeutung sowie Regeln für deren Verbindung, und auf der funktionierenden Sprachverarbeitung, das heisst der Verwendung dieses Wissens während der Produktions- und Rezeptionsprozesse. Beeinträchtigungen dieser Kompetenz führen zu Sprachentwicklungsstagnationen beziehungsweise Sprachentwicklungsverzögerungen oder zu untypischen sprachlichen Fehlern in der Kindersprache. Bestehen besondere Schwierigkeiten bei der Verarbeitung und beim Erwerb von Sprache ohne Beeinträchtigungen in anderen Entwicklungsbereichen, spricht man von einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES, englisch SLI: Specific Language Impairment). Die fünf Kinder, von denen in Abbildung 1 die Rede ist, haben eine solche spezifische Sprachentwicklungsstörung.
Prognostisch bleiben nach einem erschwerten Spracherwerb die Sprachverarbeitung, der Umgang mit Schriftsprache, späte Erwerbsaufgaben wie die Aneignung von Fachwortschätzen, von variablen und komplexer werdenden Ausdrucks- und Kommunikationsformen erschwert (11–14). Die Ursachensuche für spezifische Sprachentwicklungsstörungen konzentriert sich spätestens seit den Neunzigerjahren auf die internalen Faktoren. Sprachanregungsarmut wird als mögliche soziale Ursache der spezifischen Sprachentwicklungsstörung ausgeschlossen (1). Dannenbauer unterscheidet Ursachenvermutungen auf vier Ebenen (2): G Hypothesen über hirnorganische und genetische
Ursachen auf der biologischen Ebene; G Hypothesen über perzeptive beziehungsweise
auditive Dysfunktionen auf der basalen Ebene; G Hypothesen über Einschränkungen der mentalen
Informationsverarbeitung auf der kognitionspsychologischen Ebene; G Hypothesen über sprachkognitionsspezifische Ursachen auf der linguistischen Ebene.
In letzter Zeit werden genetische Einflüsse durch Familien- und Zwillingsstudien als belegt angesehen. Man nimmt an, dass Spracherwerbsstörungen über Gene vererbt werden, die für neuronale Reifungsprozesse oder auch für spezielle Fähigkeiten wie das verbale Gedächtnis eine Rolle spielen (3, 4). Immer wieder wird auch diskutiert, ob übergreifende exekutive Funktionen eine Sprachentwicklungsstörung bedingen könnten: das Arbeitsgedächtnis, das prozedurale und deklarative Gedächtnis, die Verarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeit und Inhibition (5–7). Bei spezifischen Sprachentwicklungsstörungen zeigen sich fast immer Einschränkungen bei verbalen Imitationsaufgaben (8–10). Lexikalische und phonologische Symptome, das heisst, Schwierigkeiten beim Aufbau des Wortschatzes, können direkt mit einem Defizit des phonologischen Gedächtnisses in Verbindung gebracht
5/2013
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
25
FORTBILDUNG
Kasten 1: Die Sprachdiagnostik umfasst die: G Prüfung der auditiven Voraussetzungen: Wie gelingen die auditive Aufmerk-
samkeitslenkung, Selektion, Richtungshören, Lautdiskrimination und auditive Speicherung von Lautgebilden? Wie gross ist die Merkspanne für sprachliche Einheiten? G Erhebung und genaue Analyse der Aussprache: Welche Laute werden gebildet, fehlgebildet, ersetzt, wodurch ersetzt? Welche lautlichen und silbischen Strukturen werden verwendet, welche fehlen? G Erhebung und Analyse des Wortschatzes: Wie ist der Wortschatzumfang einzuschätzen? Wie ist das Wortverstehen? In welchem Verhältnis stehen Wortproduktion und Wortverstehen zueinander? Wie gut sind die Wörter miteinander vernetzt? Wie funktionieren Wortspeicherung und Wortabruf? G Erhebung und Analyse der Grammatik: In welcher Grammatikerwerbsphase befindet sich das Kind? Welche Wort-, Phrasen- und Satzstrukturen bildet es in der Spontansprache? G Prüfung des Sprachverstehens: Welche Satzstrukturen versteht das Kind? Wie ist das Textverstehen? Wie gut versteht das Kind kommunikative Äusserungen? Wie geht das Kind mit Sprachverständnishindernissen um? G Ermittlung der kommunikativen und Erzählkompetenzen: Wie verfolgt das Kind Intentionen mithilfe von Sprache, wie handelt es sprachlich? Wie organisiert es Gespräche? Wie baut es mündliche beziehungsweise schriftliche Texte auf? G Erhebung der schriftsprachlichen Fähigkeiten: Welche Lese- und Schreibtechniken beherrscht das Kind? In welcher Schriftspracherwerbsphase befindet es sich? Welche Schreibfehler macht es? Wie ist das Lesesinnverstehen?
Kasten 2: Bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache empfehlen sich diese diagnostischen Schritte: G Einschätzung des Erst- und Zweitspracherwerbsverlaufs mithilfe anamne-
stischer und sprachenbiografischer Informationen; G Orientierung über erstsprachliche Fähigkeiten durch gezielte Befragung der
Eltern oder dolmetschender Personen zu phonologischen Realisierungen, Benennleistungen und Sprachverständnisleistungen mithilfe von einschlägigem Bildmaterial; G Prüfung erstsprachlicher Fähigkeiten durch Einsatz diagnostischer Instrumente, sofern für die jeweilige Erstsprache vorhanden (24–26), G Diagnostik beziehungsweise Einschätzung einzelsprachenübergreifender Leistungen: phonologisches Arbeitsgedächtnis, auditive Merkspanne, phonologische Bewusstheit, Sprachenbewusstheit, Kommunikationsstrategien; G im Vorschul- und Einschulungsalter Einschätzung des Zweitspracherwerbsstands mit dem Instrument LiSe-DaZ (27); G Einschätzung des Zweitspracherwerbs mithilfe einer Spontansprachanalyse.
werden. Ein eingeschränktes verbales Arbeitsgedächtnis kann aber auch grammatikalische Symptome erklären. Wird Gehörtes nicht ausreichend lang im Kurzzeitgedächtnis aufrechterhalten, oder sind die phonologischen Repräsentationen der Wörter undeutlich, steht das linguistische Material für die morphologische und syntaktische Analyse nicht lang oder nicht stabil genug zur Verfügung. Eingeschränkte verbale Imitationsleistungen haben allerdings keine hinreichende Spezifität in der Abgrenzung von anderen Entwicklungsstörungen, da sie auch bei Kindern mit nicht primär sprachlichen Entwick-
lungsstörungen vorkommen. In der Praxis ist jedoch zunächst die Abgrenzung von der unauffälligen Sprachentwicklung, also die Sensitivität, wichtiger, wenn es um die Einleitung von Interventionen geht, daher sind Nachsprechaufgaben in Sprachentwicklungstests nach wie vor aktuell. Neben spezifischen Sprachentwicklungsstörungen kommen im Kindesalter auch Beeinträchtigungen der Sprechmotorik, der Stimme, des Redeflusses sowie sekundäre Spracherwerbs- und Sprechschwierigkeiten vor.
Logopädische Diagnostik der Kindersprache Verschiedene Forschungsergebnisse zeigen, dass elterliche Sorgen um die Sprachentwicklung ihrer oft noch jungen Kinder äusserst ernst zu nehmen sind (15, 16). Vor diesem Hintergrund ist auch der Einsatz von Elternfragebögen zur Feststellung des Spracherwerbsstands bei jungen Kindern empfehlenswert, bei denen eine Testung noch an methodische Grenzen stösst (17, 18). Die gute Einschätzungsfähigkeit von Eltern gilt allerdings nur für die expressiven sprachlichen Aktivitäten der Kinder, nicht für deren Sprachverstehen, hier werden die Kinder eher überschätzt (19). Für die Feststellung einer Sprachentwicklungsstörung stehen für Altersgruppen zwischen 2 und 11 Jahren deutschsprachig standardisierte Tests zur Verfügung, die für jene Teilkompetenzen Altersnormen angeben, die charakteristischerweise von einer Sprachentwicklungsstörung betroffen sind (20–22). Auf der Grundlage eines solchen Sprachentwicklungstests ist noch keine Therapieplanung möglich. Für die Feststellung von individuell sinnvollen Therapiezielen muss ein detailliertes Profil der Leistungen und Defizite auf allen sprachlichen Ebenen erstellt werden (Kasten 1). Der Sprachentwicklungsverlauf, Ressourcen und behindernde oder fördernde Umweltfaktoren werden anamnestisch erfragt. Darüber hinaus werden insbesondere bei Lautbildungsfehlern orofaziale Funktionen wie Atmung, Schlucken, Willkürmotorik sowie Stimme und Prosodie geprüft. Eine Differenzialdiagnostik zwischen Übergangsphänomenen beim sukzessiven Zweitspracherwerb und einer Sprachentwicklungsstörung erfordert eine logopädische Diagnostik in der Erstsprache, die in vielen Fällen mangels Erstsprachkompetenz der Fachperson oder mangels diagnostischer Materialien für die Erstsprache nicht möglich ist. Es ist ein mehrteiliges Vorgehen zu empfehlen, mit dem erst- und zweitsprachliche, aber auch sprachenübergreifende Fähigkeiten eingeschätzt werden können (Kasten 2). Braun und Steiner (23) zeigen in dieser Ausgabe der «Psychiatrie & Neurologie», dass die logopädische Diagnostik, Massnahmenplanung und Therapie nicht isoliert greifen kann, sondern eingebunden ist in die Arbeit interprofessioneller Teams und die Kooperation mit den Eltern.
Ziele und Wirksamkeit der Sprachtherapie mit Kindern Das Anliegen, Kindern mit sprachlichen und kommunikativen Schwierigkeiten im Hinblick auf ihren Lern- und Lebensweg therapeutische Unterstützung zukommen zu lassen, bedarf kaum einer ausführlichen Begrün-
&26 5/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Marco (10 Jahre) erzählt von einem Computerspiel, im Erzähl uss wird er einige Male durch eine Wortabrufblockade gestört, er
bricht seine Äusserung ab, klopft sich gewohnheitsmässig mit der Faust gegen die Stirn
und wechselt schliesslich das Thema.
Hanna (26 Monate) verständigt sich mit ihren Eltern und Geschwistern mit gezielten Gesten und meist mit der Äusserung «ba» – mal kurz und
schnell, mal langgezogen gesprochen, mal fragend, mal fordernd intoniert. Sie versteht die
Wörter und Sätze eines Sprachentwicklungstests knapp altersgemäss. O enbar ndet sie aber keinen Einstieg in die
lautlichen beziehungsweise silbischen Produktionsvarianten der Sprache.
Jos (8 Jahre) wird als oppositionell und aggressiv erlebt, er versuche «seinen Kopf durchzusetzen», befolge Direktiven und
Instruktionen nicht. Nach einem sehr schwierigen ersten Schuljahr werden grosse Beeinträchtigungen des Sprachverstehens
festgestellt.
Lisa (4 Jahre) «liest» begeistert ein Bilderbuch. Sähe man die Bilder nicht, auf die sie zeigt und zu denen sie sich äussert, wäre es sehr schwer, ihr zu folgen. Sie produziert lange Äusserungen, es sind aber kaum Satzstrukturen zu erkennen.
Enver (5 Jahre) wird von vielen nicht verstanden, er ersetzt viele Laute. Seine Eltern
sind besorgt, sie glauben, dass die beiden Sprachen, mit denen Enver gross wird, ihn überfordern. Auch im Albanischen spreche er die Wörter nicht richtig aus. O enbar hat Enver eine Lauterwerbsstörung, die sich in beiden
Sprachen auswirkt.
Abbildung 1: Fünf Kinder mit unterschiedlichen sprachlichen Beeinträchtigungen
dung. Gleichwohl ist angesichts des Ressourceneinsatzes, auch der Kinder und Familien selbst, ein kritischer Blick auf die Zielsetzungen und auf die Wirkungen einer Sprachtherapie notwendig. Dabei gehört es zur Komplexität menschlicher Entwicklung, dass nicht bei allen sinnvollen Zielen ihre Erreichung objektiv gemessen und eindeutig auf ein bestimmtes therapeutisches Vorgehen zurückgeführt werden kann. G Bei sogenannten Late Talkern ist das Ziel der Einstieg
in die Sprachentwicklung, und das heisst vornehmlich der Aufbau des frühen Wortschatzes und erster Wortverbindungen, da bei Late Talkern das Risiko einer Sprachentwicklungsstörung besteht. Die erwiesene gute Wirksamkeit von Elterntrainings (28–30), bei denen Eltern zur Entwicklung ihres Kommunikationsverhaltens und sprachanregender Angebote angeleitet werden, ist in dieser Phase gut erklärbar mit dem Hauptinhalt des frühen Spracherwerbs, Wörter zu lernen. G Bei diagnostizierten Besonderheiten und Schwierigkeiten beim Spracherwerb geht es um die systematische Reduzierung der Erwerbsaufgaben des Kindes und um die Erarbeitung ausgewählter konkreter Erwerbsziele. Diese Aufgabe kann nur die linguistisch versierte Fachperson leisten. Entsprechende Symptome können ab einem Alter von 2 Jahren erkennbar sein und erfordern angesichts der besonderen Bereitschaft für den Spracherwerb in frühen Hirnreifungsphasen eine sofortige Therapie bei Erkennen der Sprachentwicklungsstörung (31).
G Bei bestehender Sprachentwicklungsstörung geht es auch um eine kontinuierliche Erleichterung des erschwerten Spracherwerbs und der erschwerten Sprachverarbeitung und Kommunikation. Ziele sind das Erreichen erhöhter Aufmerksamkeit für sprachliche Strukturen, die Entwicklung eines selbstbewusstseinsstärkenden Störungsbewusstseins und der Erwerb von Strategien im Umgang mit den Schwierigkeiten.
G Bei nicht erwartungsgemässer Sprachentwicklung geht es auch um die Prävention einer ungünstigen Anpassung des Kommunikationsstils dem Kind gegenüber (31, 32). Auch hier bieten sich elternbasierte Interventionsprogramme an, aber auch die Arbeit mit dem Kind kann die Eltern entlasten und geht mit der begleitenden Beratung der Eltern einher (23).
So berechtigt die Forderung nach Wirksamkeitsnachweisen sein mag, so schwierig lassen diese sich in einem für die Praxis erforderlichen Umfang erbringen. Die folgenden Einflussvariablen müssen in Evaluationsstudien kontrolliert werden: G Alter der Kinder G Art und Ausprägung der Sprach- oder Sprechpro-
bleme G Therapieansatz und Therapiemethoden G Personenabhängige Umsetzung der Methodik und
Techniken G Beziehung zwischen Therapeut, Therapeutin und
Kind
&28 5/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Marco tut es gut, in der Sprachtherapie zu erfahren, dass eine Fachperson über seine Wortabrufstörungen Bescheid weiss.
Er und seine Therapeutin experimentieren in seinem Interessengebiet mit Wörterketten und -netzen, wobei sie verschiedene Merkmale benutzen, mit denen sie von Wort zu
Wort kommen: inhaltliche Verwandtschaft, situative Zusammengehörigkeit, gleiche Wortbausteine, gleiche Anfangsbuchstaben. Ein Therapieerfolg besteht darin, dass Marco im Moment einer Wortsuche seine Aufmerksamkeit nicht mehr angespannt auf seinen «Kopf» richtet, der ihn «im Stich lässt», sondern dass er auf das schaut, was er sagen möchte, und benachbarte Wörter oder Umschreibungen sucht.
Hanna freut sich über ein Haus aus Karton im Therapieraum, das sie mit Fingerfarbe anmalt und mit dem die Therapeutin und sie spielen. Die Therapeutin hat die schweizerdeutschen Wörter «moole», «Bääbi», «ine» und «use» als erste Zielwörter
ausgewählt, die ein silbisches Grundmuster und früh erworbene Laute enthalten und die vokalisch kontrastieren. Hanna hört immer und immer wieder die genannten Wörter,
z.T. melodisch hervorgehoben. Und sie bekommt viele Gelegenheiten, das Spiel nach ihren Wünschen zu lenken,
wozu ihr nach und nach Imitationsversuche der Wörter dienen sollen. Hanna bekommt die Möglichkeit, ihr lautstrukturelles Repertoire an sehr reduziertem Wortmaterial zu erweitern.
Jos beschäftigt sich in der Sprachverständnistherapie derzeit mit dem Unterschied zwischen Sätzen im Präsens und Sätzen
im Perfekt. Sein Therapeut und er nennen sich gegenseitig solche Sätze, und der andere stellt entsprechend eine kleine Szene. Sie üben dabei auch, bei Unsicherheiten gezielt beim anderen nachzufragen: «Ist es schon vorbei?» Jos achtet durch
diese Übungen viel genauer auf sprachliche Formen und Feinheiten.
Lisas Lernziel in der Sprachtherapie sind zurzeit Ortsangaben, bei denen sie eine vollständige Phrase mit
Präposition, Artikel und Nomen realisieren muss. Die Therapeutin spielt mit ihr Bewegungs- und Versteckspiele, bei denen diese Ortsangaben gebraucht werden. Ausserdem
erzählt sie zu Bilderbüchern so, dass die Ortsangaben im Mittelpunkt stehen.
Für Enver hat die Therapeutin eine eigene Geschichte geschrieben, in der die Lautgruppe, die er regelmässig
ersetzt, sehr häu g vorkommt. Enver liebt die Lauterkennungsspiele am Computer besonders. Die Therapeutin und er «programmieren» den Computer gemeinsam auf ausgesuchte Wörter. Dabei müssen sie sich
zwischen Ausspracheversionen mit den Ziel- und Ersatzlauten entscheiden. Die Therapeutin hält sich bei Envers Eltern auf dem Laufenden, ob sich die Aussprache der albanischen Wörter verändert. Über ihren Berufsverband hat sie die Suche nach einer albanisch-sprachigen Kollegin in Gang gesetzt, um eine zweite Therapiephase in Envers
anderer Sprache zu ermöglichen.
Abbildung 2: Einblicke in die Sprachtherapie der fünf Kinder
G Frequenz der Therapie G Dauer der Therapie G Erfolgskriterium (z.B. Aufholen des Rückstands, Ver-
besserung der geübten Leistungen, Transfer in den Alltag, Generalisierung von Leistungen auf nicht geübtes sprachliches Material, Verbesserung der Verarbeitungsfunktionen, langfristige Anhebung des Sprachentwicklungsniveaus). Entsprechend eingeschränkt ist die Aussagekraft von Einzelstudien (33, 34). Überblicksarbeiten kommen dennoch insgesamt zu einer eher positiven Bewertung der Beeinflussbarkeit von Sprachentwicklungsstörungen durch gezielte Sprachtherapie (29, 35).
Methodik in der Sprachtherapie mit Kindern Im Unterschied zu natürlichen Spracherwerbsprozessen, aber auch zu Sprachförderansätzen und zur Didaktik, etwa des Fremdsprachlernens, kommen in der Sprachtherapie zwei besondere Merkmale zum Tragen: G Die Zielstruktur ist individuell befundbasiert und den
Erwerbsphasen folgend ausgesucht. G Der Therapeut gestaltet den Input, das Modell mit
einer bewussten Kontrolle von Inhalt und Form und modelliert die Äusserungen des Kindes. Das geschulte therapeutische Vorgehen sorgt für eine hohe Frequenz und Prägnanz der Zielstruktur und für ein intensives Feedback. Zielstrukturen sind nicht Einzelelemente oder -formen, sondern Kategorien oder Regeln. So werden zum Bei-
spiel nicht die Artikelformen «den, die, das» gelernt, sondern die rollendifferenzierende Funktion der grammatischen Fälle wird vermittelt. Nicht eine bestimmte Abfolge von Satzteilen wird eingeübt, sondern es wird sprachliches Material angeboten, an dem das Kind die Stellungsregeln erkennen kann. Es wird nicht die Bildung von Einzellauten trainiert, sondern Therapieinhalt sind bestimmte Laute oder Silbenstrukturen in ihrer sprachlichen Verwendungsfunktion. Wichtige Therapiemethoden sind die dosierte und hervorgehobene Präsentation der Zielstruktur sowie deren Kontrastierung mit einer oppositionellen sprachlichen Struktur. Die Auseinandersetzung mit einer sprachlichen Zielstruktur kann explizit angeleitet und reflexiv erfolgen. Im natürlichen Spracherwerb erfolgt sie jedoch implizit und bewusstseinsfern. Diesen Weg macht sich die Sprachtherapie insbesondere mit kleinen Kindern zunutze. Lerngegenstand, aber auch Lernmedium ist die Sprache im kommunikativen Gebrauch. Aufgabe des Therapeuten ist es, dem Kind im Spiel und im Dialog sein spezielles nächstes Sprachlernziel zu vermitteln, indem er im sprachlichen Austausch immer wieder diese Struktur fokussiert. Das heisst wiederum nicht umgekehrt, dass die indirekte Arbeit an Sprache immer das Mittel der Wahl ist. Je nach Symptom und Ziel kann die bewusste Selbststeuerung beim Sprachlernen oder auch die Kompensation von Schwächen auf kindgerechte Weise angebahnt werden (Abbildung 2).
5/2013
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
29
FORTBILDUNG
Fazit
Eine Sprachtherapie mit individueller entwicklungsan-
stossender, erwerbsnachholender oder kompensatori-
scher Zielsetzung hat gute Aussichten auf Erfolg. Sie
lässt sich nicht durch breit angelegte Sprachförderung
ersetzen. Sie braucht nicht mit Rücksicht auf die Reife
eines Kindes für eine vermeintliche Übungstherapie auf
das Vorschulalter verschoben zu werden. Vielmehr nutzt
sie effektiv die frühen Phasen des impliziten Sprachler-
nens. Bei bilingualen Kindern erfolgt sie idealerweise in
beiden Sprachen. Sie begleitet Kinder und Eltern in
einem Bereich, der unumstritten fundamental für die
soziale, kognitive und emotionale Entwicklung, aber
auch für den Bildungsweg ist.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. Simone Kannengieser
Pädagogische Hochschule Basel
Institut für spezielle Pädagogik und Psychologie
Elisabethenstrasse 53
4002 Basel
Tel. 061-206 90 67
E-Mail: simone.kannengieser@fhnw.ch
Literatur:
1. Ritterfeld, U.: Interventionsparadigmen bei Spracherwerbsstörungen: Therapeutische Dilemmata und deren Begründung. Heilpädagogik 2005 online 02/05, 4–25.
2. Dannenbauer, F.M.: Probleme der ätiologischen Forschung bei spezifischer Sprachentwicklungsstörung. Logos Interdisziplinär 2004; 12, 164–176.
3. Newbury, D.F., Bishop, D.V. M. & Monaco, A.P.: Genetic influences on language impairment and phonological short-term memory. Trends in Cognitive Sciences 2005; 9 (11), 528–534.
4. Rosenfeld, J. & Horn, D.: Genetische Faktoren bei spezifischer Sprachentwicklungsstörung. Sprache, Stimme, Gehör 2011; 35 (2), 84–90.
5. Montgomery, J.W., Magimairaj, B.M. & Finney, M.C.: Working Memory and Specific Language Impairment: An Update on the Relation and Perspectives on Assessment and Treatment. American Journal of Speech-Language Pathology 2010; 19, 78–94.
6. Lum, J. A.G., Gelgic, C. & Conti-Ramsden, G.: Procedural and declarative memory in children with and without specific language impairment. International Journal of Language and Communication Disorders 2010; 45 (1), 96–107.
7. Henry, L.A., Messer, D. J. & Nash, G.: Executive functioning in children with specific language impairment. Journal of Child Psychology and Psychiatry 2012; 53 (1), 37–45.
8. Grimm, H.: Entwicklungsdysphasie: Kinder mit spezifischer Sprachstörung. In: Dies. (Hrsg.): Sprachentwicklung. Enzyklopädie der Psychologie. Sprache, Bd. 3. Göttingen: Hogrefe 2000a, 603–640.
9. Conti-Ramsden, G., Botting, N. & Faragher, B.: Psycholinguistic Markers for Specific Language Impairment. Journal of Child Psychology and Psychiatry 2001; 42 (6), 741–748.
10. Thordardottir, E. & Brandeker, M.: The effect of bilingual exposure versus language impairment on nonverbal repetition and sentence imitation scores. Journal of Communication Disorders 2012. http:// dx.doi.org/10.1016/j.jcomdis.2012.08.002, abgerufen am 28.12.12.
11. Glogowska, M., Roulstone, S., Peters, T.J. & Enderby, P.: Early speechand language-impaired children: linguistic, literacy, and social outcomes. Developmental Medicine & Child Neurology 2006; 48, 489–494.
12. Simkin, Z. & Conti-Ramsden, G.: Evidence of reading difficulty in subgroups of children with specific language impairment. Child Language Teaching and Therapy 2006; 22 (3), 315–331.
13. Law, J., Rush, R., Schoon, I. & Parsons, S.: Modeling Developmental Language Difficulties From School Entry Into Adulthood: Literacy, Mental Health, and Employment Outcomes. Journal of Speech, Language and Hearing Research 2009; 52, 1401–1416.
14. Kolonko, B. & Seglias, T.: Jugendliche mit Spracherwerbsstörungen. Luzern: Edition SZH, 2008.
15. Bishop, D.V. M. & McDonald, D.: Identifying language impairment in children: combining language test scores with parental report. International Journal of Language and Communication Disorders 2009; 44 (5), 600–615.
16. Kasper, J., Kreis, J., Scheibler, F., Möller, D., Skipka, G., Lange, S. & Knesebeck, O. von der: Population-Based Screening of Specific Speech and Language Impairment in Germany: A Systematic Review. Folia Phoniatrica et Logopaedica 2011; 63, 247–263.
17. Grimm, H. & Doil, H.: ELFRA-1, ELFRA-2, Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern. Göttingen: Hogrefe 2001.
18. Szagun, G., Stumper, B. & Schramm, S. A.: Fragebogen zur frühkindlichen Entwicklung. Frankfurt a.M.: Pearson Assessment, 2009.
19. Möller, D., Furche, G., Slabon-Lieberz, S., Gaumert, G., Breitfuss, A. & Licht, K.: Blickdiagnose Sprachverständnisstörungen – Die diagnos-
tische Güte von Experten- und Elternurteilen. Sprache, Stimme, Gehör 2008; 32, 129–135. 20. Grimm, H.: SETK 2, Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder. Göttingen: Hogrefe 2000. 21. Grimm, H.: SETK 3-5, Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder. Diagnose von Sprachverarbeitungsfähigkeiten und auditiven Gedächtnisleistungen. Göttingen: Hogrefe 2010. 22. Petermann, F.: SET 5-10. Sprachstandserhebungstest für Kinder im Alter zwischen 5 und 10 Jahren. Göttingen: Hogrefe 2010. 23. Braun, W. & Steiner, J.: Kooperative Sorge um den frühen Spracherwerb. Schweizerische Zeitschrift für Psychiatrie & Neurologie 2013; 5/13. 24. Suchodoletz, W.v., Kademann, S. & Tippelt, S. (2010): SBE-3-KT. Sprachbeurteilung durch Eltern. Kurztest für die U7a. http://www.kjp.med. uni-muenchen.de/sprachstoerungen/SBE-3-KT.php, abgerufen am 1.8.2013. 25. Motsch, H.J.: ESGRAF-MK. Evozierte Diagnostik grammatischer Fähigkeiten bei mehrsprachigen Kindern. München: Reinhardt, 2011. 26. Glück, Ch. W.: Wortschatz- und Wortfindungstest für 6- bis 10-Jährige. WWT. 2. Auflage. München, Jena: Elsevier, Urban & Fischer, 2012. 27. Schulz, P. & Tracy, R., in Verbindung mit der Baden-Württemberg Stiftung (Hrsg.): LiSe-DaZ. Linguistische Sprachstandserhebung. Deutsch als Fremdsprache. Göttingen: Hogrefe, 2011. 28. Buschmann, A.: Frühe Sprachförderung bei Late Talkers. Effektivität des Heidelberger Elterntrainings bei rezeptiv-expressiver Sprachentwicklungsverzögerung. Pädiatrische Praxis 2012; 78, 377–389. 29. Suchodoletz, W. v.: Therapie von Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen. In: Ders. (Hrsg.): Therapie von Entwicklungsstörungen. Was hilft wirklich? Göttingen: Hogrefe 2010, 57–88. 30. Roberts, M.Y. & Kaiser, A.P.: The Effectiveness of Parent-Implemented Language Interventions: A Meta-Analysis. American Journal of Speech-Language Pathology 2011; 20 (3), 180–199. 31. Dannenbauer, F.M.: Chancen der Frühintervention bei spezifischer Sprachentwicklungsstörung. Die Sprachheilarbeit 2001; 46 (3), 103– 111. 32. Kiening, D. (2011): Ausgewählte Aspekte der sprachlichen MutterKind-Interaktion bei 2-jährigen Kindern mit spätem Sprechbeginn. Dissertation LMU München. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de: bvb:19–135170. 33. Zeng, B., Law, J. & Lindsay, G.: Characterizing optimal intervention intensity: The relationship between dosage and effect size in interventions for children with developmental speech and language difficulties. International Journal of Speech-Language Pathology 2012; 14 (5), 471–477. 34. Boyle, J.M., McCartney, E., O’Hare, A. & Forbes, J.: Direct versus indirect and individual versus group modes of language therapy for children with primary language impairment: principal outcomes from a randomized controlled trial and economic evaluation. International Journal of Language and Communication Disorders. 2009; 44 (6), 826–846. 35. Law, J., Garrett, Z. & Nye, Ch.: The Efficacy of Treatment for Children With Developmental Speech and Language Delay/Disorder: A MetaAnalysis. Journal of Speech, Language and Hearing Research 2004; 47, 924–943.
Merksätze:
G Sprachkompetenz beruht auf der kognitiven
Repräsentation des einzelsprachlichen Sys-
tems und auf funktionierenden Sprachverar-
beitungsprozessen.
G Die Ursachensuche für spezifische Sprach-
entwicklungsstörungen konzentriert sich auf
internale Faktoren.
G Für die Feststellung einer Sprachentwick-
lungsstörung stehen für Altersgruppen zwi-
schen 2 und 11 Jahren standardisierte Tests
zur Verfügung.
G Die gute Einschätzungsfähigkeit von Eltern
gilt nur für die expressiven sprachlichen Ak-
tivitäten der Kinder, nicht für deren Sprach-
verstehen, hier werden die Kinder eher
überschätzt.
G Wirksame sprachtherapeutische Methoden
stehen bereits für Kinder ab 2 Jahren zur Ver-
fügung.
&30 5/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE