Transkript
EDITORIAL
Psychopharmakotherapie: Ein kritischer Diskurs ist unabdingbar
Z unehmende Verordnungszahlen von Psychopharmaka wie Antidepressiva bei Erwachsenen, aber auch Ritalin oder Antipsychotika bei Kindern und Jugendlichen, beschäftigen derzeit nicht nur die Laienpresse. Die Tatsache beispielsweise, dass die Anzahl verkaufter Packungen Antidepressiva in den letzten 10 Jahren verdoppelt wurde, lädt zum Nachdenken ein. Droht das Optimierungs- und Effizienzsteigerungsbedürfnis unserer Zeit aus der ästhetischen Dermatokosmetik, die keine Grenzen mehr zu kennen scheint und selbst vor dem Vulgären nicht zurückschreckt, nun zunehmend auf die Leistungsfähigkeit unseres wichtigsten Organs, des Gehirns, überzugreifen? Wird der subjektive Krankheitsbegriff neben einem als mangelhaft empfundenen Aussehen auf vollkommenes Wohlbefinden sowie andauernd perfektes Funktionieren ausgedehnt? So stellt die mediale Konzentration auf Modebegriffe wie beispielsweise «Burn-out» und die hieraus resultierende zunehmende Selbstdiagnose Betroffener behandelnde Ärzte häufig vor die schwierige Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Therapie gerechtfertigt und sinnvoll ist, und wann einer kostenintensiven Medikalisierung von Befindlichkeitsstörungen oder Lebenskrisen entgegengetreten werden sollte. Gleichzeitig taucht im Rahmen zunehmender Anstrengungen im Bereich der Früherkennung und Frühintervention sowie der Aufklärung über psychische Beschwerden immer häufiger die Frage auf, ab wann und zu welchem Risiko eine pharmakologische Behandlung eingeleitet werden und gegebenenfalls von den Krankenkassen auch erstattet werden soll. Auch die sinnvolle Behandlung von Schlafstörungen mit Antidepressiva, welche die gestörte Schlafarchitektur normalisieren, anstelle von Benzodiazepinen oder Z-Substanzen, trägt zur häufigeren Verordnung bei.
Marktkonformes Angebot ist kein moderner
Auswuchs
Das Bemühen um ein marktkonformes und nach-
frageorientiertes Angebot ist keineswegs eine Folge
der zunehmenden Unterwanderung der Medizin
durch andernorts gescheiterte Ökonomen, son-
dern altbekannt, man denke nur an Phänomene
wie die durch keinerlei Evidenz belegte Frischzellen-
therapie des letzten Jahrhunderts, Pharmaka unse-
rer Zeit wie Sildenafil oder Finasterid zur Abhilfe
bei – horribile dictu – Impotentia coeundi sowie an-
drogenetischer Alopezie oder die Hufelandsche
Makrobiotik des 18. Jahrhunderts. Zur Wahrung
des hohen Ansehens und des Vertrauens, welche
der akademischen und naturwissenschaftlich ge-
prägten Medizin entgegengebracht werden, ist ein
kritischer Diskurs daher unabdingbar.
G
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Martin E. Keck, eMBA UZH
Ärztlicher Direktor und Chefarzt Privatstationen Clienia Privatklinik Schlössli, Klinik für Psychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie, Oetwil am See/Zürich
Themenverweise aus dem neurologischen Schwerpunkt:
G Was spricht für eine (frühe) Sprachtherapie mit Kindern: Eine Sprachtherapie mit individueller entwicklungsanstossender, erwerbsnachholender oder kompensatorischer Zielsetzung hat gute Aussichten auf Erfolg. Sie nutzt effektiv die frühen Phasen des impliziten Sprachlernens. Seite 25 ff.
G Sprachstörungen nach Schlaganfall: Sprache schafft direkten Zugang zum Mitmenschen und hat in jedem Leben eine zentrale Bedeutung. Die Rehabilitation beginnt bereits während der ersten Tage und dauert oftmals viele Monate. Der Ergotherapie kommt in der Rehabilitation eine entscheidende Rolle zu. Seite 31 ff.
5/2013
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
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