Transkript
&K U R Z B Ü N D I G
Aktuelle Studien – kurz gefasst
Psychopathologische Frühzeichen – Auswirkungen auf Diagnose und Therapie
In seinem Editorial im «American Journal of Psychiatry» (1) zeigt Prof. Jim van Os, Maastricht/NL, die Herausforderungen der kommenden Jahre auf: Es gelte, früheste psychopathologische Zeichen zu erkennen, da diese sich über Jahre hinweg zu voll ausgebildeten psychischen Störungen entwickeln könnten. Die Evidenz für die Annahme, dass psychische Störungen ein Kontinuum darstellten, welche sich schon früh als «unterschwellige extendierte Phänotypen» manifestierten, welche miteinander in Verbindung stünden und sich gegenseitig beeinflussen könnten, nehme zu, wie das Forschungsarbeiten über Psychosen, affektive Störungen und Abhängigkeitserkrankungen zeigten. Diese unterschwelligen Phänotypen seien jedoch nicht identisch mit den «Risikopatienten», die deutliche Anzeichen für definierte Krankheitsentitäten zeigten und Hilfe aufsuchten. Die ersten psychopathologischen Veränderungen seien aber nicht spezifisch, sondern ein Mix von affektiver Dysregulation, Angst, Motivationsmangel und anderen Frühsymptomen. Im Verlaufe der Zeit bildeten sich spezifischere Symptombilder heraus. So liessen sich schwere Depressionen dann oft auf früh aufgetretene, leichte deprimierte Zustände zurückführen, häufige psychische Störungen auf unterschwellige neurotische Symptome, bipolare affektive Störungen auf hypomanische Zustände, Autismus auf autistisch anmutende Charaktereigentümlichkeiten, floride Psychosen auf vereinzeltes vorausgegangenes psychotisches Erleben. Die Symptome seien miteinander vernetzt, beeinflussten einander sowie den Verlauf der Störung. So beeinflussten Schlafstörungen, die durch eine Dysregulation des Affekts bedingt seien, nicht selten Verfolgungsgedanken und Beeinträchtigungsempfindungen. Unterschwellige Psychosen seien oft mit unterschwelligen Depressionen oder Angstzuständen verbunden, genauso wie mit unterschwelligen manischen Zustandsbildern oder mit Motivationsschwäche als frühes Negativsymptom. Früheste Symptome könnten die Dynamik reflektieren, die von neuralen Regelkreisen ausgehe, welche der Affektregulation, der Bedeutungszumessung, der Motivation und der Sozialkompetenz dienten. Von grossem Interesse sei insbesondere, wie sich die subtilen Änderungen in der neuralen Dynamik auf das
Funktionsniveau auswirkten, wie sie das Krankheitsempfinden und damit das Aufsuchen von Hilfsangeboten beeinflussten. Würde die frühe Dynamik der Symptome erfasst, die einander über die Zeit hinweg beeinflussten, könnten Diagnostik und Therapie früher einsetzen und für die betroffenen Einzelpersonen massgeschneidert werden.
Kommentar Van Os rührt hier an die aktuelle Diskussion im Rahmen der Neuauflage des DSM-5, inwieweit minime Auffälligkeiten schon als Prodrome einer Erkrankung angesehen werden sollten. Wann endet Normalität, wann beginnt eine Störung? In weiten Kreisen der Psychiatrie wird be-
fürchtet, dass man hier «das Gras wachsen hört» und dass viele Gesunde zu psychisch Kranken gemacht werden. Der Vorteil einer frühen Diagnose mit schneller einsetzender Therapie müsse sehr kritisch abgewogen werden gegenüber einer Stigmatisierung, die gravierende Folgen im Leben eines «Überdiagnostizierten» haben könne. Doch verdient das Modell der Vernetzung unterschwelliger Symptome Aufmerksamkeit.
Der Autor ist dem Verlag bekannt.
1. van Os, Jim: The Dynamics of Subthreshold Psychopathology: Implications for Diagnosis and Treatment. Am J Psychiatry 2013; 170: 7.
Unspezifische psychische Belastung
Frühe Therapie
Schlaflosigkeit
Antriebslosigkeit, Energiemangel
Angst
Sorge
verlangsamtes Denken
Angst
Sorge
Antriebslosigkeit, Energiemangel
Antriebslosigkeit, Energiemangel
schlechte Laune,
Gereiztheit
fehlende Willenskraft
abweichende Prioritäten-
setzung
Niedergestimmtheit
Sinnestäuschungen
Vermeidung
Schuldgefühle
Wahn
Spezifisches psychisches Syndrom
Panik Angstsyndrom
Niedergestimmtheit
Stimmungssyndrom
Psychotisches Syndrom
Abbildung: Stufenmodell kausaler Symptomkreisläufe
Psychiatrische Syndrome setzen sich aus verschiedenen Symptomen zusammen, wobei unterschiedliche Farben unterschiedliche Symptome repräsentieren und die Grösse den Schweregrad anzeigt. Mit Pfeilen dargestellt werden die kausalen Beziehungen zwischen den Syndromen. Dadurch differenzieren sich unspezifische Zustandsbilder von frühen psychischen Belastungszuständen nach und nach zu diagnostizierbaren Entitäten wie Angst, Depression und Psychose. Liesse sich die Abfolge der kausalen Beeinflussungen im Symptomkreislauf vermeiden, könnte das der Ausbildung von psychischen Störungsbildern vorbeugend entgegenwirken.
&44 5/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
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Vitamin-D-Mangel und Multiple Sklerose
Die Gruppe um Vittorio Martinelli untersuchte in einer retrospektiven Studie Serumwerte von Vitamin D bei Patienten mit einem klinisch isolierten Syndrom (engl. Clinically Isolated Syndrome, CIS) und den Einfluss der Vitamin-DWerte auf den Übergang in eine klinisch gesicherte Multiple Sklerose (MS).
Methode Zwischen Januar 2000 und Dezember 2008 wurden 100 Patienten (Alter zwischen 18 und 60 Jahren) mit einem CIS eingeschlossen. Neben der Bestimmung der Serumkonzentration von Vitamin D (25-Hydroxy-Vitamin D) in diesem Kollektiv erfolgten auch Liquoranalysen und kranielle MRT-Untersuchungen.
Ergebnisse Bereits initial fand sich bei 52 Prozent der CISPatienten ein Vitamin-D-Mangel (< 50 nmol/l, Referenzwerte des Institute of Medicine, Washington). Von den 100 CIS-Patienten entwickelten 21 Prozent der Patienten nach einem Jahr, 36 Prozent nach zwei Jahren und 44 Pro-
zent nach fünf Jahren eine klinisch manifeste MS. Dabei wiesen CIS-Patienten, bei welchen im Verlauf die Diagnose einer definitiven MS gestellt wurde, signifikant niedrigere Vitamin-DSpiegel im Vergleich zu Patienten ohne weitere schubverdächtige Ereignisse auf. Zudem kam es in der Vitamin-D-defizienten Patientengruppe ebenso nicht zu einer Erhöhung der Vitamin-D-Spiegel in den Sommermonaten. Auch waren niedrigere Vitamin-D-Spiegel vor allem bei Frauen mit einem rascheren Übergang in eine MS assoziiert. Patienten mit Vitamin-D-Mangel wiesen darüber hinaus häufiger einen multifokalen klinischen Beginn und mehr kontrastmittelaufnehmende und T2-hyperintense Läsionen im MRT auf, was sich auch in einer höheren jährlichen Schubrate niederschlug. Zusammenfassend zeigte die Studie, dass ein Vitamin-D-Mangel einen Einfluss auf das Krankheitsgeschehen der MS zu besitzen scheint: Die Daten sprechen dafür, dass niedrige Vitamin-DSpiegel mit einem rascherem Übergang von einem CIS zu einer definitiven MS assoziiert sind.
Kommentar Was sich bereits in früheren Studien andeutete, wird durch die Ergebnisse dieser Studie weiter bestätigt: Sie zeigt einen Effekt von Vitamin D auf den MS-Krankheitsverlauf. Es handelt sich wiederum um eine kleine Studie (mit insgesamt 100 Patienten), die gut durchgeführt wurde (bspw. wurden auch jahreszeitliche Effekte, welche für den Vitamin-D-Haushalt relevant sind, beachtet). Die Rolle des Vitamin D und dessen Mechanismen bei CIS respektive MS-Patienten sollten in einer prospektiven, randomisierten Studie mit einer grösseren Studienpopulation überprüft werden.
Dr. med. Helen Katharina Könnecke Dr. Könnecke ist Assistenzärztin in der Klinik für Neurologie am Universitätsspital in Zürich
Quelle: Vittorio Martinelli et al.: Vitamin D levels and risk of multiple sclerosis in patients with clinically isolated syndromes; MSJ, July 2013.
Oft überschätztes Nebenwirkungsrisiko auf dem Beipackzettel
Beipackzettel für Medikamente sind häufig für Patienten unverständlich. Dass selbst Experten Schwierigkeiten haben, die Häufigkeit von Nebenwirkungen richtig einzuschätzen, haben jetzt Wissenschaftler des Instituts für Medizinische Biometrie und Statistik der Universität zu Lübeck und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) gezeigt.
Ärzte, Apotheker und Juristen überschätzen das Nebenwirkungsrisiko deutlich. Die Studie wurde im «Deutschen Ärzteblatt International» veröffentlicht. Häufigkeitsangaben zu Nebenwirkungen sind Bestandteil eines jeden Medikamentenbeipackzettels. Ein Team um Professor Andreas Ziegler, Direktor des Instituts für Medizinische Biometrie und Statistik, hat 600 Mediziner, 200 Apotheker und 200 Juristen zufällig ausgewählt und mit Fragebogen angeschrieben. Die Experten sollten im Kontext von Nebenwirkungen an-
geben, was es bedeutet, wenn ein Medikament «häufig», «gelegentlich» oder «selten» Nebenwirkungen hat. Die Definitionen für sämtliche Beipackzettel hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vorgegeben, und sie sind Bestandteil jedes Beipackzettels. So sind Nebenwirkungen «häufig», wenn Patienten sie in einem bis zu unter zehn Prozent der Fälle entwickeln. «Gelegentlich» treten Nebenwirkungen auf, wenn sie 0,1 bis weniger als 1 Prozent der Fälle betreffen. Und «selten» sind Nebenwirkungen gemäss BfArM dann, wenn sie bei 0,01 bis unter 0,1 Prozent der Patienten auftreten. Die Ergebnisse der Studie waren für die Forscher überraschend: «Nur wenige Experten haben den Begriffen ‹häufig›, ‹gelegentlich› und ‹selten› im Kontext von Nebenwirkungen den richtigen Prozentwert zugeordnet», sagt Andreas Ziegler. Professorin Inke König, Mitautorin der Studie, betont: «Die grössten Probleme gab es beim Begriff
‹häufig›. Hier haben Ärztinnen und Ärzte im Mittel eine Nebenwirkungsrate von 60 Prozent angegeben.» «Die richtige Antwort lautet hier bis zehn Prozent, und weniger als 4 von 100 befragten Ärztinnen und Ärzte lagen dabei richtig», so Inke König. «Auch wenn Apothekerinnen und Apotheker bei allen Begriffen am besten abgeschnitten haben, ist es überraschend, wie häufig Experten die Nebenwirkungsrisiken überschätzt haben», führt Andreas Ziegler aus. Überschätzen Patienten das Risiko von Nebenwirkungen, verzichten sie eher auf ein Medikament. Dieses Problem ist womöglich noch weitreichender, weil auch die Berufsgruppen, die über die Wahrscheinlichkeiten von Nebenwirkungen informieren, diese überschätzen.
Quelle: Ziegler A. et al.: Comprehension of the description of side effects in drug information leaflets – a survey of doctors, pharmacists and lawyers. Dtsch Ärztebl Int 2013; 110(40): 669–673.
5/2013
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
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Aktuelle Studien – kurz gefasst
Soziales Umfeld ist ein Schlüssel zur Kreativität
Kreativität und Genialität werden allgemein als Eigenschaften des Einzelnen gesehen. Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Rolle des sozialen Umfelds hierfür eine ebenso wichtige Rolle spielen könnte.
Teil einer Gruppe zu sein oder nicht, bewege Menschen dazu, sich besonders kreativen Herausforderungen zu stellen, sagt Professor Alex Haslam vom Psychologielehrstuhl der University of Queensland in Australien. Laut Haslam sei die Gruppenzugehörigkeit eine Grundlage dafür, dass bestimmte Formen von Originalität ange-
sehen oder zurückgewiesen werden. Gemeinsam mit internationalen Kollegen arbeitete er an einem kürzlich im «Personality and Social Psychology Review» erschienenen Artikel. Die Forschungsergebnisse unterstützen das Argument, dass Genies und kreative Menschen zu einem grossen Teil Produkte der Gruppen und Gesellschaften sind, in denen sie leben. Als Beispiel gelten die Sex Pistols, die ihre Kreativität darauf aufbauten, Konventionen zu brechen und Altbewährtes infrage zu stellen. Allerdings ergibt Punk nur im Zusammenhang mit dem Sinn, wovon er sich distanzieren will.
Man kann die Kreativität des Punk deshalb nicht ohne Bezug zu etabliertem Denken verstehen. Die Rolle der Gruppe oder Gemeinschaft besteht auch darin, ein Publikum für Kreativität zu sein und das Umfeld zu bilden, in dem Kreativität sich entfalten kann, argumentieren die Forscher. Eine wichtige Erkenntnis der Studie sei es, dass die Gesellschaft in Gruppen investieren müsse, die bestimmte Formen von Kreativität erst ermöglichen, um das Beste aus kreativen Menschen herauszuholen.
Quelle: idw-online.de 15.10.2013
Abnorme Organisationsstrukturen und Hirnfunktion bei Schizophrenie
Methoden Martijn Pieter van den Heuvel und Kollegen untersuchten mittels Diffusions-Tensor-Imaging (DTI) und funktioneller (resting state)-Magnetresonanztomografie strukturelle und funktionelle Konnektivitätsmuster bei Patienten mit Schizophrenie. Die Studienpopulation umfasste 48 Patienten mit Schizophrenie und 45 gesunde Probanden sowie 41 Patienten mit Schizophrenie und 51 gesunde Probanden in einer unabhängigen Replikationsgruppe. Hirnregionen mit den meisten ein- und ausgehenden Verbindungen wurden als Knotenpunkte/Hubs definiert. Innerhalb und zwischen verschiedenen Hubs ist die Konnektivitätsdichte (Nervenbahnen/Flächeneinheit) am höchsten, weswegen sie in der englischen Literatur auch als «Rich Club» bezeichnet werden. Im Folgenden werden die Begriffe Hub (vgl. Airport Hub im Sinne eines Drehkreuzes) und neuronaler Knotenpunkt synonym verwendet.
Ergebnisse Die Daten der strukturellen Bildgebung zeigten übereinstimmend folgende neuronalen Knotenpunkte bei Patienten und Probanden auf: Precuneus, superior-frontaler Kortex, superiorparietaler Kortex und Insula.
Die genauere Analyse zeigte eine Veränderung der neuronalen Hubs bei den Patienten mit Schizophrenie: Die Regionen mit der höchsten Konnektivität (Hubs) wiesen bei den Erkrankten weniger Verbindungen zu anderen Knotenpunkten auf. Die Konnektivitätsdichte war in der Replikationsgruppe bei den Schizophreniepatienten ebenfalls vermindert. Die Konnektivitätsunterschiede innerhalb der weissen Substanz waren nur zwischen den oben aufgeführten neuronalen Hubs vorhanden. Die Konnektivitätsdichte zwischen neuronalen Hubs und regionalen Hirnbereichen sowie die Verbindungsdichte regionaler Hirnbereiche untereinander zeigte keine Veränderung im Vergleich der Gruppen auf.
Kommentar Die Studie besitzt aufgrund der angewandten Methode (DTI und fMRI) sowie der eingebauten Replikationsgruppe eine hohe Validität und Reliabilität. Die neuronalen Hubs sind wohl in besonderer Weise dazu befugt, Informationen zu integrieren und zu prozessieren. Sie benötigen für diese Aufgabe jedoch physische Ressourcen im Sinne eines weitverzweigten, funktionstüchtigen Nervenbahnnetzwerkes, welches bei der Schizo-
phrenie aus unterschiedlichen ätiopathogenetischen Gründen, insbesondere im Bereich neuronaler Hubs, nicht vorhanden zu sein scheint. Die zugrunde liegende Pathophysiologie mit strukturellen Veränderungen neuronaler Hubs könnte in Verbindung mit der klinisch greifbaren Psychopathologie stehen. Die Patienten waren relativ jung (durchschnittlich 30 Jahre) und zum Messzeitpunkt meist mit einem Antipsychotikum behandelt. Eine Differenzierung zwischen den aktuell viel diskutierten Volumenverlusten/Konnektivitätsdichteverlusten in Abhängigkeit von Krankheitsdauer und kumulativer neuroleptischer Dosis kann im Rahmen dieser Studie dementsprechend kaum vorgenommen werden.
Dr. med. Lorenz Deutschenbaur Dr. Deutschenbaur arbeitet als Assistenzarzt an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel.
Quelle: Van den Heuvel, M.P. et al.: Abnormal rich club organization and functional brain dynamics in schizophrenia. JAMA Psychiatry 70, 783–792, doi:10.1001/jamapsychiatry. 2013.1328 (2013).
&46 5/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE