Transkript
FORTBILDUNG
Transkulturelle Psychiatrie: «Die Präventionsarbeit wird vernachlässigt»
Prof. Dr. phil. Andrea Lanfranchi setzt sich seit Jahren für Präventionsaufgaben in der Arbeit mit Migranten ein. Er ist Fachpsychologe für Psychotherapie (FSP), Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie (FSP) und Dozent an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich sowie am Ausbildungsinstitut Meilen.
Psychiatrie & Neurologie: Sind die heutigen präventiven Massnahmen im Bereich der transkulturellen Psychiatrie ausreichend? Prof. Andrea Lanfranchi: Die Prävention von Entwicklungsproblemen im Bereich Mental Health sowie von Lern- und Verhaltensproblemen wird meiner Ansicht nach in Organisationen der psychiatrischen und psychologischen Versorgung generell vernachlässigt. Dies ist zum Teil durch den Handlungsdruck in der institutionellen Routine begründet. Bei Psychiatern, wie auch in kinderpsychiatrischen und schulpsychologischen Diensten, bleibt dadurch zu wenig Zeit. Geht man von der präventiven Arbeit bei Migranten aus, sind zwei Dinge wichtig: Wir müssen die Kinder erreichen, wenn diese klein sind. Die Präventionsarbeit müssen wir dementsprechend bei den Familien ansetzen, wobei dieser Zugang nur mit einer grossen Portion transkultureller Kompetenz möglich ist. Zudem benötigen wir Modelle der Unterstützung von Familien in Risikosituationen. Gerade bei sozialer Vernachlässigung haben wir heute neue Forschungsbefunde, die auf diese Zusammenhänge hinweisen. Sind Kinder über eine längere Zeit starken sozialen Belastungen ausgesetzt, hat das Folgeschäden bis ins Erwachsenenalter.
Meinen Sie mit Folgeschäden beispielsweise Depressionen, die auftreten können? Andrea Lanfranchi: Ja, aber nicht nur Depressionen. Epidemiologische Studien weisen darauf hin, dass viele psychische Krankheiten und viele psychische Leiden ihren Ursprung in der frühen Kindheit haben. Beispielsweise fehlt es den Kindern aufgrund psychosozialer Probleme in der Ursprungsfamilie an emotionaler Sicherheit, sodass sie auch nicht lernen, ihre Umwelt zu explorieren, und somit in ihrer Entwicklung gefährdet sind. Bei Migrantenkindern aus früheren Kriegsgebieten wissen wir, dass die belastenden Ereignisse noch Jahre später zu posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) führen können. Viele Migranten aus Krisengebieten sind aus den widrigen Umständen jedoch auch gestärkt hervorgegangen, weil selbstwirksame Faktoren vorlagen, die bei der Verarbeitung des Ereignisses geholfen haben. Wir kennen das aus der Resi-
Andrea Lanfranchi
lienzforschung. Solche Faktoren müsste man genauer untersuchen. Dante Cicchetti von der University of Minnesota (USA) war einer der ersten Forscher, der im Rahmen der Entwicklungspsychopathologie mehrstufige Analysen zur Erklärung von Resilienzphänomenen bei misshandelten Kindern vorgenommen hat (1). Nach neuesten Forschungsbefunden im Bereich der Epigenetik kann Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zu «toxischem» Stress führen, der in späteren Lebensabschnitten in Form von Schädigungen und Krankheiten biologisch nachweisbar ist. Bao-Zhu Yang et al. (2) konnten nachweisen, dass misshandelte Kinder häufiger an Krebs, kardiovaskulären Krankheiten, Diabetes und psychiatrischen Leiden erkranken. Für diese Studien untersuchten die Autoren Methylierungsprofile von 96 Misshandelten im Vergleich zu einer gleich grossen Kontrollgruppe. Dadurch konnte eine grössere Gruppe von CpG-Orten an einem Genstrang untersucht werden, die im Prozess der Genregulation involviert sind. Shonkoff (5) von der Harvard University weist gestützt auf Dube et al. (3, 4) nach, dass Kinder in belasteten Familien im Erwachsenenleben mehr Alkohol und illegale Drogen konsumieren. Das Problem der Alkoholabhängigkeit und des Missbrauchs von Substanzen beginnt demnach in den frühen Kindheitsjahren.
&16 4/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Welche Formen der Intervention eignen sich dann für psychosozial belastete Familien mit Migrationshintergrund? Andrea Lanfranchi: Bei Migranten in Risikosituationen geht es nicht nur um Sprachprobleme, sondern auch um die eingeschränkte Öffnung für Aussenkontakte. Viele dieser Familien sind nach innen orientiert und nach aussen abgeschottet. Dolmetscher können gute Dienste leisten, wenn sie sozial kompetent sind und interkulturell, das heisst «jenseits der Worte» übersetzen, im Sinne von «Interprète» und nicht von «Traducteur». Das Wichtigste ist, behutsam in Beziehung zur Familie zu treten, etwa dadurch, dass man sich Zeit nimmt für die erste Begegnung, nicht sofort die Probleme anpeilt, und versucht, «von innen heraus» die besondere Situation der Familie zu verstehen. In unserem Praxishandbuch (siehe Kasten) gibt es Anleitungen, wie man mit Übersetzern arbeitet, eine migrationsspezifische Anamnese erhebt und migrationssensible Fragen stellt. Ein weiteres Problem ist, dass Migrantenfamilien sehr oft von Denkmodellen geleitet sind, die einer externalen Kontrollüberzeugung entsprechen. Dieser sogenannte Fatalismus, das Gefühl, an seinem Schicksal nichts ändern zu können, zieht sich wie ein roter Faden durch diese Familien und hemmt sie, fremde Hilfe anzunehmen. Dann kommt erschwerend hinzu, dass wir im Forschungsbereich zu wenige Daten haben. Migration hat sehr viele Facetten, und Forschung in diesem Bereich ist arbeitsintensiv und teuer. Etwa dann, wenn mit der Hilfe von Übersetzern Interviews durchgeführt werden oder wenn Messinstrumente in verschiedene Sprachen zu übersetzen sind. Viele wichtige, mit öffentlichem Geld finanzierte Studien, wie beispielsweise die Mannheimer Risikokinderstudie, haben nicht deutsch sprechende Ausländer gar nicht im Sample berücksichtigt. Die gewonnenen Daten weisen somit eine eingeschränkte Validität auf, weil die Studien relativ grosse, für die psychologische, soziale und psychiatrische Versorgung wichtige Bevölkerungssektoren schlichtweg ausschliessen. Die Forschung müsste in diesem Bereich optimiert werden. Das fängt schon mit der Einbettung von Forschungsprojekten in bestehende Hilfsstrukturen und mit der Planung des Vorgehens in interdisziplinären Netzwerken an, in denen unter anderem Repräsentanten der «ethnic communities» vertreten sind. Wir haben das mit einem vor zwei Jahren gestarteten Projekt in Familien mit kleinen Kindern rund um den Flughafen Zürich ausprobiert, und es funktioniert dank der Zusammenarbeit mit den kantonalen Kleinkind-Beratungsstellen.
Sie sprechen von ZEPPELIN 0–3, Förderung ab Geburt? Andrea Lanfranchi: Genau. Wir möchten mit ZEPPELIN 0–3 Kindern, die vorwiegend aus Migrantenfamilien in sozialen Risikolagen stammen, mit einem intensiven Unterstützungsprogramm nachweisbar bessere Bildungschancen ermöglichen und bei ihnen Entwicklungsbeeinträchtigungen sowie Vernachlässigung minimieren. Die Schweiz ist nach Deutschland und Österreich das Land, dem es in Europa am schlechtesten gelingt, die von der sozialen Herkunft der Eltern ausgehenden Nachteile auszugleichen. Das Forschungsprojekt ZEPPELIN der Hochschule für Heilpä-
Kasten:
Informationen zum Bereich Prävention
Die Tagung «Wie viel Prävention braucht der Mensch? Und was sind Risiken und Nebenwirkungen von Prävention?» vom 29. und 30. November 2013 in Zürich Oerlikon (HfH) setzt sich mit dem Thema Prävention kritisch auseinander. Hinterfragt werden folgende Aspekte: G Wo schränkt eine überbordende Präven-
tion die autonomen Gestaltungs- und Resilienzpotenziale von Einzelnen und Familien ein? G Welche Gefahr einer Normierung von Normalität liegt in einer rigiden Prävention? Wer legt fest, was normal ist? G In welchen Fällen sollte eingegriffen, Hilfe «verordnet» werden? G Wie und wann wird gut gemeinte Hilfe stigmatisierend, diskriminierend und exkludierend? Weitere Informationen und Auskunft: Sekretariat Klosbachstrasse 123, 8032 Zürich Tel. 044-923 03 20 E-Mail: mail@ausbildungsinstitut.ch Internet: www.ausbildungsinstitut.ch
Buchtipp: Therapie und Beratung von Migranten, Systemisch-interkulturell denken und handeln, Janine Radice von Wogau, Hanna Eimmermacher, Andrea Lanfranchi (Hrsg.), Beltz PVU, 2004, 279 Seiten, 61 Franken, ISBN 3-621-27542-8.
dagogik, welches in Kooperation mit der Bildungsdirektion des Kantons Zürich (AJB) stattfindet, ist die erste europäische Langzeitstudie zur Frühförderung von Kleinkindern ab Geburt. ZEPPELIN (Zürcher Equity-Präventionsprojekt Elternbeteiligung und Integration, www.zeppelin-hfh.ch) unterstützt und begleitet Eltern in Risikosituationen mit dem Ziel, ihre Erziehungskompetenz zu erhöhen. Gemeint sind zum Beispiel sehr junge oder alleinerziehende Mütter oder Eltern mit Migrationshintergrund, die isoliert leben, oder wegen Arbeitslosigkeit stark belastete und gestresste Familien, weil beispielsweise die Mutter depressiv ist. Die Eltern sprechen und spielen etwa kaum mit dem Kind, weil sie zu stark mit den eigenen Problemen beschäftigt sind, können die Bedürfnisse des Kindes nicht «lesen» oder haben Schwierigkeiten, eine Beziehung zum Kind aufzubauen. Eine speziell weitergebildete Mütterberaterin besucht die Familien alle zwei Wochen zu Hause während dreier Jahre. Das eingesetzte evidenzbasierte Programm heisst «PAT – Mit Eltern lernen». Es wurde von den USA übernommen und auf Schweizer Verhältnisse adaptiert. Durch die Hausbesucherin lernen die Eltern unter anderem, die altersgemässe Bewegung des Kleinkindes zu fördern, die Sprachentwicklung zu unterstützen oder bei Wutanfäl-
4/2013
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
17
FORTBILDUNG
len das Kind nicht zu schlagen. Insgesamt wurden 252 Familien aus Zürcher Regionen mit hohen Ausländeranteilen erreicht und nach der Methode der kontrollierten Randomisierung in eine Interventions- und eine Kontrollgruppe aufgeteilt. Nach der Erhebung der Baseline im 3. Lebensmonat erfolgen die Messungen im 12., 24. und 36. Lebensmonat. Bei einer Weiterführung der Studie sind Messungen auch bei Schuleintritt und beim Übergang in die Sekundarstufe I vorgesehen.
Inwiefern ist diese Studie für die Praxis relevant? Andrea Lanfranchi: Wir konnten in der Phase der Rekrutierung unserer Stichprobe 12 Prozent aller in Opfikon, Dübendorf, Dietikon, Schlieren und zehn weiteren Gemeinden geborenen Kinder beziehungsweise ihre Eltern für die Studie gewinnen. Aufgrund eines Screenings zur Erfassung psychosozialer Belastungen handelt es sich mehrheitlich um Familie mit Migrationshintergrund und grossem Unterstützungsbedarf, für die sich die Investitionen also lohnen dürften. Somit liefert unsere Studie dank ihrer gut gelungenen Programmreichweite nützliche Hinweise auf die Qualität des Zugangs zu Familien, die mit den üblichen Methoden kaum erreicht werden. Hier sehe ich einen direkten Link zur Praxis der Psychiatrie in den Fällen, in denen Familien Widerstand leisten, auf Einladungen gar nicht reagieren und die Beziehung zu den Professionellen nach der Erstbegegnung abbrechen.
Wie kann der Zugang zu Familien mit Migrationshintergrund erleichtert werden? Andrea Lanfranchi: Wir knüpfen an bestehende Einrichtungen wie Soziale Dienste und Migrantenvereine an und gehen interdisziplinären Kooperationen ein. Es hat meist verschiedene Gründe, warum Migrantenfamilien auf schriftliche Einladungen und Telefonanrufe nicht reagieren. Wichtig ist, dass wir uns nicht entmutigen lassen und die üblichen institutionellen «Komm»Strukturen mit «Geh»-Strukturen ergänzen. Also gehen wir bei Bedarf hin, zu den Menschen nach Hause, um «widerspenstige» Personen zur Beratung, zur Therapie und zur Partizipation an Studien zu ermutigen. Dazu braucht es oftmals besondere Anstrengungen und eine gewisse Hartnäckigkeit. Wir lassen uns auch nicht von einer Logik des Verdachts leiten, sondern von einer Kultur der Anerkennung. Zum Beispiel fragen wir nach Krisen in der Vergangenheit, die überwunden werden konnten, und nach den eigenen Lösungen, die dazu geführt haben.
Notwendige Bedingung ist der Aufbau von transkultu-
reller Kompetenz. Sie besteht im Wesentlichen darin,
dass die Eigenart und die spezifischen Sichtweisen der
Klienten und nicht die «fremde Kultur» im Zentrum ste-
hen. Nach dem im Meilener Institut für systemische
Therapie und Beratung entwickelten Konzept des «Fall-
verstehens in der Begegnung» umfasst transkulturelle
Kompetenz den Austausch von Zugehörigkeit und die
Rahmung von Interaktionen in einem emotional siche-
ren Raum. Das Ziel ist es, den Anderen in der Spezifität
seiner Geschichte und Situation so zu verstehen, dass
Wandel möglich wird, also eine Transformation von we-
nig nützlichen Denkmodellen in taugliche Handlungs-
strategien.
Transkulturelle Kompetenz heisst auch: Wissen zum All-
gemeinen abrufen, wie etwa Kulturinformationen, und
gleichzeitig offen sein für das Besondere, das nur für
diese Familie, für diese Ratsuchenden gilt. Schliesslich
gehören zur transkulturellen Kompetenz massge-
schneiderte Werkzeuge, wie die Arbeit mit Genogram-
men, um Lebensthemen zu erschliessen, sowie Techni-
ken der Gesprächsführung, bei Bedarf zusammen mit
interkulturellen Übersetzern.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. phil. Andrea Lanfranchi
Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich
Schaffhauserstrasse 239
Postfach 5850
8050 Zürich
E-Mail: andrea.lanfranchi@hfh.ch
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Referenzen:
1. Cicchetti, D.: Annual Research Review: Resilient functioning in maltreated children – past, present, and future perspectives. Journal of Child Psychology and Psychiatry 2013, 54(4), 402–422. doi: 10.1111/ j.1469-7610.2012.02608.x
2. Yang, B.Z., Zhang, H., Ge, W., Weder, N., Douglas-Palumberi, H., Perepletchikova, F., Gelernter, J., & Kaufman, J.: Child abuse and epigenetic mechanisms of disease risk. American Journal of Preventive Medicine 2013, 44(2), 101–107. doi: 10.1016/j.ame pre.2012.10.012.
3. Dube, S.R., Anda, R.F., Felitti, V.J., Edwards, V.J., & Croft, J.B.: Adverse Childhood Experiences and personal alcohol abuse as an adult. Addictive Behaviors 2002, 27(5), 713–725.
4. Dube, S.R., Felitti, V.J., Dong, M., Chapman, D.P., Giles, W.H., & Anda, R.F.: Childhood abuse, neglect and household dysfunction and the risk of illicit drug use: The Adverse Childhood Experience Study. Pediatrics 2003, 111(3), 564–572.
5. Shonkoff, J.P., Boyce, W.T., & McEwen, B.S.: Neuroscience, molecular biology, and the childhood roots of health disparities: building a new framework for health promotion and disease prevention. JAMA 2009, 301(21), 2252–2259. doi: 0.1001/jama.2009.754.
&18 4/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE