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FORTBILDUNG
Neue orale Antikoagulanzien in der Neurologie – wann und für wen?
Durch den Einsatz zur Hirnschlagprävention beim Vorhofflimmern und im Rahmen der Behandlung einer Dissektion der hirnversorgenden Arterien oder einer Sinusvenenthrombose sind orale Antikoagulanzien auch in der Neurologie von grosser Bedeutung. Die bekannten Limitationen einer Behandlung mit Vitamin-K-Antagonisten wie beispielsweise das Risiko für Hirnblutungen und Interaktionen führten zur Entwicklung neuer direkter oraler Antikoagulanzien (NOAK).
David Seiffge Stefan Engelter Philippe Lyrer
von David Seiffge, Stefan Engelter, Philippe Lyrer
D ie orale Antikoagulation mit einem Vitamin-KAntagonisten (VKA) war für Jahrzehnte die einzige Option für die langfristige Primär- und Sekundärprophylaxe einer Vielzahl thrombembolischer Erkrankungen. Durch den Einsatz zur Hirnschlagprävention beim Vorhofflimmern (1) und im Rahmen der Behandlung einer Dissektion der hirnversorgenden Arterien oder einer Sinusvenenthrombose sind orale Antikoagulanzien auch in der Neurologie von grosser Bedeutung. Die bekannten Limitationen einer Behandlung mit VKA wie zum Beispiel das Risiko für Hirnblutungen, viele Interaktionen mit Nahrungsmitteln und Medikamenten und die Notwendigkeit eines Monitorings der antikoagulatorischen Wirkung mittels INR haben zur Entwicklung neuer direkter oraler Antikoagulanzien (NOAK) geführt (2). Diese Substanzen greifen gezielt in die Gerinnungskaskade ein (Abbildung) und hemmen einzelne Faktoren wie zum Beispiel die direkten Thrombininhibitoren (Dabigatran) oder Faktor-Xa-Inhibitoren (Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban). Seit April beziehungsweise Mai 2012 stehen mit Rivaroxaban beziehungsweise Dabigatran auf dem Schweizer Markt die ersten Vertreter dieser neuen Substanzen zur Verfügung. Weitere Substanzen wie Apixaban und Edoxaban sind kurz vor der Zulassung beziehungsweise befinden sich in einem fortgeschrittenen Stadium der klinischen Erforschung. Nutzen und Einsatz der NOAK, insbesondere im Bereich neurologischer Erkrankungen, sind Inhalte dieses Artikels.
Epidemiologie und Hirnschlagrisiko des Vorhofflimmerns Die Prävalenz des Vorhofflimmerns beträgt zirka 1 Prozent in der erwachsenen Bevölkerung und steigt mit dem Alter an (3). Risikofaktoren für ein Vorhofflimmern sind insbesondere die arterielle Hypertonie, eine ischämische Kardiopathie und eine valvuläre Herzkrank-
heit. Vorhofflimmern ist mit einem bis zu 5-fach erhöhten Risiko für einen Hirnschlag verbunden (4). Hirnschläge kardioembolischer Genese sind schwerer und oft fataler als Hirnschläge anderer Ätiologie, insbesondere weil aufgrund der grossen Embolie häufig grosse, proximale hirnversorgende Gefässe verschlossen werden (5). Das jährliche Hirnschlagrisiko variiert individuell stark und ist abhängig von verschiedenen Faktoren und Erkrankungen. Es beträgt 0,2 Prozent pro Jahr bei Patienten «nur» mit Vorhofflimmern und kann bis auf mehr als 10 Prozent pro Jahr in Abhängigkeit von der Komorbidität ansteigen. Der grösste Risikofaktor für einen Hirnschlag ist ein bereits passierter Hirnschlag oder eine transitorische ischämische Attacke (TIA) in der Vorgeschichte. Im klinischen Alltag wird der sogenannte CHADS2-Score verwendet. Für eine genauere Diskriminierung im Bereich des niedrigen beziehungsweise mittleren Risikos erfolgte die Weiterentwicklung zum CHA2DS2-VASc-Score (6) (Kasten 1). In beiden Scores zählt ein Hirnschlag beziehungsweise eine TIA 2 Punkte. Internationale Guidelines empfehlen eine orale Antikoagulation ab einem Score von 2 Punkten (7), was formal nach einer TIA oder einem Hirnschlag bereits erfüllt ist. Idealerweise sollte das Risiko für eine (intrazerebrale) Blutung mit und ohne Antikoagulation quantifiziert und gegen das Risiko für einen Hirnschlag mit und ohne Antikoagulation abgewogen werden. Alle Modelle zur Einschätzung des Blutungsrisikos unter einer oralen Antikoagulation haben eine beschränkte Präzision, und häufig überlappen sich Risikofaktoren für einen Hirnschlag und für eine Blutung (Alter, arterieller Hypertonus, Hirnschlag in der Vorgeschichte). In der klinischen Praxis hat sich als Score der sogenannte HASBLED (8, 9) als nützliches und praktikables Instrument zur Abschätzung des jährlichen Blutungsrisikos unter oraler Antikoagulation etabliert (Kasten 2). Ab einem Score von 3 Punkten und mehr spricht man von einem hohen Risiko, und eine spezielle Sorgfalt bei der Einstellung der einzelnen, modifizierbaren Risikofaktoren (insbesondere Ko-Medikation, Monitoring und Blut-
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druck) ist geboten. Inhalt aktueller Forschung ist die Verfeinerung der Vorhersagewahrscheinlichkeit insbesondere in Hinblick auf Faktoren wie Ethnie, chronische Niereninsuffizienz, Leukoaraiosis und den prädiktiven Wert zerebraler Mikroblutungen (sogenannte «microbleeds»).
Die Substanzen im Überblick Apixaban Apixaban (Handelsname: Eliquis®) ist ein direkter Faktor-Xa-Inhibitor. Es wird weitgehend hepatobiliär eliminiert, wobei zirka 25 Prozent renal ausgeschieden werden (10). Die Wirkung von Apixaban in der Prävention des Hirnschlags wurde in zwei grossen klinischen Studien getestet. In der Studie ARISTOTLE (Apixaban for Reduction in Stroke and Other Thromboembolic Events in Atrial Fibrillation) wurden 18 201 Patienten mit VHF mit einer Dosis von 5 mg Apixaban zweimal pro Tag beziehungsweise mit Warfarin behandelt (11). Die Rate von primären Endpunktereignissen (Hirnschlag oder systemische Embolie) betrug nach einer durchschnittlichen Beobachtungszeit von 1,8 Jahren 1,37 Prozent in der Apixabangruppe und 1,60 Prozent in der Warfaringruppe (Hazard Ratio [HR] = 0,79, 95%-Konfidenz-Intervall [KI]: 0,66–0,95; p = 0,01 für Überlegenheit). Grosse Blutungen traten mit 2,13 Prozent pro Jahr in der Apixabangruppe statistisch signifikant seltener auf als mit 3,09 Prozent pro Jahr in der Warfaringruppe (HR = 0,69; 95%-KI: 0,60–0,80; p < 0,001). Die Mortalität wurde um 11 Prozent reduziert (HR = 0,89; 95%-KI: 0,80–0,99; p = 0,047). In der Studie AVERROES (Apixaban versus Acetylsalicylic Acid to Prevent Stroke in Atrial Fibrillation Patients Who Have Failed or Are Unsuitable for Vitamin K Antagonist Treatment) wurde die Wirkung von Apixaban (Dosierung zweimal täglich 5 mg) im Vergleich zu Azetylsalizylsäure (ASS, Dosierung 81–324 mg täglich) bei 5599 Patienten mit VHF untersucht, die entweder Kontraindikationen gegen eine Therapie mit Warfarin aufwiesen oder nicht willens waren, eine solche Therapie durchzuführen (12). Der primäre Endpunkt (Hirnschlag oder systemische Embolie) war identisch mit der ARISTOTLE-Studie. Die Studie wurde vorzeitig durch das Daten- und Sicherheitskomitee abgebrochen, da sich eine klare Überlegenheit von Apixaban errechnen liess. Die durchschnittliche Beobachtungszeit betrug 1,1 Jahre. Insgesamt wurden 51 Endpunktereignisse in der Apixabangruppe (1,6% pro Jahr) und 113 in der ASS-Gruppe (3,7% pro Jahr) beobachtet (HR = 0,45; 95%-KI: 0,32–0,62; p < 0,001). Die Blutungsrate zeigte sich mit 44 Fällen (11 intrazerebrale Blutungen, [ICB]) in der Apixabangruppe (1,4% beziehungsweise 0,4% ICB pro Jahr) gegenüber 39 (13 ICB) Fällen in der ASS-Gruppe (1,2% beziehungsweise 0,4% ICB pro Jahr) nicht statistisch signifikant unterschiedlich (HR für Apixaban = 1,13; 95%-KI: 0,74–1,75; p = 0,57).
Dabigatran Dabigatran-etexilat (Prodrug) beziehungsweise Dabigatran (Handelsname: Pradaxa®) ist ein direkter Thrombininhibitor, welcher seit 2008 auf dem europäischen Markt erhältlich und seit Mai 2012 auch für die Prophylaxe von Embolien bei VHF in der Schweiz zugelassen ist. Dabigatran wird zu zirka 80 Prozent über die Niere
Gerinnungskaskade
Substanz
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Abbildung: Gerinnungskaskade und Ansatzpunkt verschiedener oraler Antikoagulanzien Faktor-Xa-Inhibitoren (Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban) blockieren die Konversion von Prothrombin (Faktor II) zu Thrombin (Faktor IIa) durch den Faktor Xa, welcher Teil des Prothrombinase-Komplexes ist. Thrombininhibitoren (Dabigatran) blockieren die Thrombin-vermittelte Konversion von Fibrinogen zu Fibrin. Modifiziert nach (2).
Kasten 1:
CHA2DS2-VASc Score
Dieser dient der Einschätzung des jährlichen Hirnschlagrisikos bei Vorhofflimmern. Mit der Summe der Punkte steigt das Hirnschlagrisiko von 1,3 Prozent (1 Punkt) auf 4,0 Prozent (4 Punkte) bis maximal auf 15,2 Prozent (9 Punkte) pro Jahr (6).
C
Herzinsuffizienz/linksventrikuläre Dysfunktion
1 Punkt
H Hypertonie
1 Punkt
A2 Alter ≥ 75 Jahre D Diabetes mellitus
2 Punkte 1 Punkt
S2 Hirnschlag/TIA/Embolie V Herzinfarkt/pAVK/Aortenplaques
2 Punkte 1 Punkt
A Alter 65–74 Jahre
1 Punkt
S Weibliches Geschlecht
1 Punkt
ausgeschieden und wird nicht über CYP3A4 metabolisiert. In der EU ist Dabigatran bei schwerer Niereninsuffizienz (Kreatininclearence < 30 ml/min) kontraindiziert. Die Wirksamkeit von Dabigatran wurde in der Studie RE-LY (Randomized Evaluation of Long-Term Anticoagulation Therapy) mit 18 113 VHF-Patienten und mindestens einem zusätzlichen Risikofaktor für Hirnschlag getestet (13). Die Patienten wurden in drei Studienarme 1-1-1 mit zwei verblindeten Dabigatrandosierungen (110 mg bzw. 150 mg zweimal täglich) und einer offenen Warfaringruppe (Ziel-INR 2,0–3,0) randomisiert. Die durchschnittliche Follow-up-Periode war 2 Jahre. Primäre Endpunkte waren Hirnschlag und systemische Embolie, wobei die Auswertung verblindet
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Kasten 2:
HAS-BLED-Score
Dient zur Einschätzung des jährlichen Blutungsrisikos unter einer oralen Antikoagulation (8).
H Hypertension
Systolischer Blutdruck > 160 mmHg = 1 Punkt
A Abnormale Nierenfunktion Abnormale Leberfunktion
Dialysepflichtig/Nierentransplantation/Serumkreatinin > 200 μmol/l (> 2,3 mg/dl) = 1 Punkt Chronische Lebererkrankung (Zirrhose), Bilirubin > 2-fach erhöht zusammen mit AST/ALP/ALT > 3-fach erhöht = 1 Punkt
S Stroke/Hirnschlag Status nach Hirnschlag = 1 Punkt
B Blutung
Status nach grosser Blutung (= Anämie/transfusionspflichtig) = 1 Punkt
L Labile INR
INR instabil/hoch beziehungsweise selten innerhalb der therapeutischen Limiten (< 60%) = 1 Punkt E Alter ≥ 65 Jahre = 1 Punkt D Medikation Alkohol Dauerhafte Plättchenhemmung/NSAR = 1 Punkt > 8 alkoholische Getränke/Woche
Kasten 3:
Dosierungshilfe neuer oraler Antikoagulanzien (NOAK) zur Hirnschlagprävention bei nicht valvulärem Vorhofflimmern
Dabigatran (Pradaxa®): empfohlene Dosis 2 x 150 mg pro Tag in 12-stdl. Intervall
Niereninsuffizienz (Kreatininclearence)
Alter > 80
> 50 ml/min
30–50 ml/min < 30 ml/min 2 x 110 mg/Tag Keine Dosisanpassung 2 x 110 mg/Tag KONTRAINDIKATION Nebenbemerkung: Bei Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko ggf. Pradaxa 2 x 110 mg/Tag Rivaroxaban (Xarelto®): empfohlene Dosis 1 x 20 mg/Tag Niereninsuffizienz (Kreatininclearence) Alter > 80
> 50 ml/min
15–50 ml/min < 15 mg/ml Keine Anpassung notwendig Keine Dosisanpassung 15 mg/Tag KONTRAINDIKATION nach dem Verfahren PROBE (Prospective Randomized Open with Blinded Endpoint Evaluation) erfolgte. Die Rate an primären Endpunktereignissen betrug 1,71 Prozent pro Jahr in der Warfaringruppe, 1,54 Prozent pro Jahr in der Dabigatran-2-x-110-mg-Gruppe (RR = 0,90; 95%-KI: 0,74–1,10; p < 0,001 für nicht Unterlegenheit) und 1,11 Prozent pro Jahr in der Dabigatran-2-x150-mg-Gruppe (RR = 0,65; 95%-KI: 0,52–0,81; p < 0,001 für Überlegenheit). Grosse Blutungen waren mit 2,87 Prozent pro Jahr in der Dabigatran-110-mg-Gruppe signifikant weniger häufig als mit 3,57 Prozent pro Jahr in der Warfaringruppe (RR = 0,80; 95%-KI: 0,70–0,93; p = 0,003), aber mit 3,32 Prozent pro Jahr vergleichbar mit der Dabigatran-150-mg-Gruppe (RR = 0,93; 95%-KI: 0,81–1,07; p = 0,31). Die Rate hämorrhagischer Schlaganfälle war mit 0,38 Prozent pro Jahr mit Warfarin höher als mit Dabigatran 110 mg (0,12% pro Jahr, RR = 0,31; 95%-KI: 0,17–0,56; p < 0,001) und auch mit Dabigatran 150 mg (0,10% pro Jahr, RR = 0,26; 95%-KI: 0,14–0,49; p < 0,001). In einer Subgruppenanalyse zur Sekundärprä- vention bei Patienten mit einer Vorgeschichte mit TIA oder Hirnschlag zeigte sich ein vergleichbares Ergebnis wie in der Hauptstudie (14). Rivaroxaban Rivaroxaban (Handelsname: Xarelto®) ist ein direkter Faktor-Xa-Inhibitor, welcher in Europa durch die europäische Arzneimittelagentur (EMA) seit 2008 zur Prophylaxe venöser Thromboembolien bei erwachsenen Patienten nach elektiver Knie- oder Hüftgelenksersatzoperation zugelassen ist. Seit April 2012 ist es ebenfalls in der Schweiz zur Prävention des Hirnschlags bei nicht valvulärem Vorhofflimmern zugelassen. Rivaroxaban hat eine dosisabhängige Pharmakokinetik. Ein Drittel wird unmetabolisiert über den Urin ausgeschieden, und zwei Drittel werden über die Leber metabolisiert, wobei hiervon wiederum je die Hälfte hepatobiliär beziehungsweise renal ausgeschieden wird. Trotz eines relevanten Anteils renaler Eliminiation besteht keine Kontraindikation bei milder bis mittlerer Niereninsuffizienz (Kreatininclearence 30–79 ml/min). Die Wirkung von Rivaroxaban (Tagesdosis 20 mg beziehungsweise 15 mg bei einer Kreatininclearence von 30–49ml/min) wurde in der Studie ROCKET-AF (Rivaroxaban Once Daily Oral Factor Xa Inhibitor Compared with Vitamin K Antagonism for Prevention of Stroke and Embolism Trial in Atrial Fibrillation) in einem Doppelblind- und Doppeldummy-Design gegen Warfarin bei 14 264 Patienten getestet (15), das heisst, die Patienten erhielten jeweils eine Kombination aus dem jeweiligen oAK und dem komplementären Plazebo inklusive regelmässiger INR-Testungen in einem Zentrallabor mit echten beziehungsweise «Dummy»-Werten und der entsprechenden Anpassung der Medikation. Endpunkt der Studie war ebenfalls das Auftreten eines Hirnschlags oder einer systemischen Embolie. In der Per-Protokoll-Analyse (PP) wurde dieser Endpunkt bei 1,7 Prozent pro Jahr in der Rivaroxabangruppe und 2,2 Prozent pro Jahr in der Warfaringruppe beobachtet (HR = 0,79; 95%-KI: 0,66–0,96; p < 0,001 für Nichtunterlegenheit). Auch in der Intention-To-Treat-(ITT)-Analyse zeigte sich Rivaroxaban mit 2,1 Prozent Endpunktereignissen pro Jahr nicht unterlegen im Vergleich zu Warfarin mit 2,4 Prozent pro Jahr (HR = 0,88; 95%-KI: 0,75–1,03; p < 0,001 für Nichtunterlegenheit und p = 0,12 für Überlegenheit). Intrakranielle (0,5 vs. 0,7% pro Jahr, HR = 0,67; 95%-KI: 0,47–0,93; p = 0,02) und fatale Blutungen (0,2 vs. 0,5% pro Jahr, HR = 0,50; 95%-KI: 0,31–0,79; p = 0,003) traten unter Rivaroxaban seltener auf. Eine Subgruppenanalyse in Patienten, welche bereits einen Hirnschlag oder eine TIA erlitten hatten, zeigte keine Unterschiede in der Wirksamkeit im Vergleich zu Patienten ohne eine solche Vorgeschichte und belegt somit eine vergleichbare Wirksamkeit sowohl in der Primär- wie auch in der Sekundärprävention des Hirnschlags (16). Welche Substanzen für welche Patienten? Durch die Einführung der NOAK stehen dem behandelnden Arzt für die Hirnschlagprävention bei Vorhofflimmern nun neben den bewährten VKA weitere Optionen zur Verfügung. Prinzipieller Vorteil aller NOAK gegenüber den VKA ist bei mindestens gleicher Wirksamkeit das verringerte Risiko von intrakraniellen Blu- &40 4/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE FORTBILDUNG tungen. Es gibt grundsätzlich keine Notwendigkeit, ein bestimmtes NOAK zu bevorzugen. Auch indirekte Metavergleiche ergeben keine klaren Vorteile für eine der Substanzen (17). Daten zu direkten Vergleichen liegen nicht vor. Die Entscheidung für eine Substanz ist individualisiert mit dem Patienten im Aufklärungsgespräch zu treffen, das heisst unter Erwägung der einzelnen Vor- und Nachteile, die sich aus der Wirksamkeit, dem Nebenwirkungsprofil, der Ko-Medikation und den Komorbiditäten des Patienten für die einzelnen Substanzen ergeben. Bei Patienten mit einem hohen Risiko für eine intrazerebrale Blutung (zum Beispiel nach Hirnschlag) ist jedoch der Vorteil einer geringeren (intrazerebralen) Blutungsrate unter NOAK zu beachten. Bei bestehender schwerer Niereninsuffizienz (Clearence < 15 ml/min) wiederum sind einzig VKA zugelassen. Die empfohlenen Dosierungen zur Hirnschlagprävention bei VHF und die notwendigen Dosisanpassungen bei Niereninsuffizienz und/oder Alter für die zurzeit in der Schweiz zugelassenen Substanzen sind Kasten 3 zu entnehmen. NOAK-Interaktionen mit neurologischen Medikamenten Ein Vorteil der NOAK gegenüber den VKA ist ihre kalkulierbare antikoagulatorische Wirkung bei regelmässiger Einnahme einer fixen Dosis ohne Notwendigkeit eines Monitorings. Es bestehen jedoch Wechselwirkungen mit verschiedenen Medikamenten, welche die Resorption und Metabolisation verschiedener NOAK beeinflussen. Hiervon sind in der Neurologie vor allem Carbamazepin (Dabigatran und Rivaxoraban) und Phenytoin (Rivaroxaban) betroffen. Eine Ko-Medikation kann in diesem Fall zu einem verringerten Plasmaspiegel des NOAK führen und wird nicht empfohlen. Weitere wichtige Interaktionen sind in Kasten 4 aufgeführt. Therapiebeginn nach Hirnschlag Innerhalb der grossen randomisierten Studien war ein frischer Hirnschlag ein Ausschlusskriterium. Entsprechend existieren hierzu keine Daten. Im Allgemeinen sollte die Entscheidung in Abhängigkeit von Grösse und Lokalisation des Infarkts sowie der klinischen Symptomatik getroffen werden. Als ungefähre Orientierungspunkte kann bei kleinen Infarkten des vorderen Stromgebietes ohne klinische Symptomatik beziehungsweise TIA sofort begonnen werden, bei Infarkten, welche weniger als ein Drittel des Mediastromgebietes betragen, ungefähr nach 7 Tagen, und bei Infarkten mit mehr als einem Drittel des Mediastromgebietes, kompletten Posteriorinfarkten und grösseren Kleinhirninfarkten sollte mindestens 14 Tage Kasten 4: Wichtige Interaktionen von neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) Dabigatran (Pradaxa®) Kombination mit p-GP-(Glykoproteine)-Inhibitoren Azol-Antimykotika, Amiodaron Chinidin, Dronedaron, und Ritonavir, Tipranavir, Verapamil Ciclosporin, Tarolimus, Nelfinavir, Saquinavir KONTRAINDIKATION PradaxaEinnahme 2h VOR p-GPInhibitor p-GP-Induktoren PP-Inhibitoren Rifampicin, Johanniskraut, Carbamazepin (Substrat) Pantoprazol, Omeprazol, Esomeprazol, etc. «use with caution» Pradaxa ↓ «use with caution», Pradaxa ↓ CYP-450-Inhibitoren CYP-450-Induktoren Keine Interaktion Rivaroxaban (Xarelto®) Kombination mit p-GP-Inhibitoren p-GP-Induktoren PP-Inhibitoren Verapamil, Amiodaron, Dronedaron, Clarithromycin, Erythromycin, Makrolide, Paroxetin AzolAntimykotika und HIVProteasehemmer Rifampicin, Johanniskraut, Carbamazepin (Substrat) Pantoprazol, Omeprazol, Esomeprazol, etc. «use with caution» KONTRAINDIKATION «use with caution» Xarelto ↓ keine Interaktion CYP-450-Inhibitoren CYP 450-Induktoren Verapamil, Grapefruitsaft, MakrolidAntibiotika, Metronidazol, Phenytoin, Carbamazepin, Phenobarbital, Johanniskraut, Rifampicin «use with caution» Xarelto ↑ «use with caution» Xarelto ↓ &42 4/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE FORTBILDUNG gewartet werden. Die Entscheidung sollte jedoch immer individuell unter Berücksichtigung der Komorbidität und anderer Faktoren getroffen werden. Zu beachten ist, dass im Unterschied zu den VKA bei NOAK die antikoagulatorische Wirkung mit der Einnahme der ersten Dosis einsetzt. Nachsorge und Kontrollen Bei einer Therapie mit NOAK sollten regelmässige klinische Kontrollen sowie mindestens alle sechs Monate eine Kontrolle der Nierenwerte stattfinden. Eine regelmässige Kontrolle der Gerinnungswirkung ist dagegen nicht notwendig. Die antikoagulatorische Wirkung der NOAK lässt sich auch nur sehr bedingt mit aktuellen Standardtests nachweisen (18). In einigen Zentren stehen jedoch Plasmaspiegel und spezifische Gerinnungstests der einzelnen Substanzen für das Notfallmanagement zur Verfügung. Einsatz von NOAK bei Dissektion und Sinusvenenthrombose Zum Einsatz von NOAK bei Dissektionen und Sinusvenenthrombosen existieren keine randomisierten Studien. Diese sind auch nicht zu erwarten. Die Substanzen sind für diese Indikation folglich nicht zugelassen. Die RE-ALIGN-Studie hat zur expliziten Kontraindikation von Dabigatran bei künstlichen Herzklappen geführt. Die Ergebnisse zeigen, dass der genauen Indikationsstellung bei NOAK eine sehr wichtige Rolle zukommt. Die Substanzen sind nicht als 1:1-Ersatz für alle Indikationen einer VKA anzusehen. Management von akuten neurovaskulären Notfällen unter NOAK Das Management von akuten neurovaskulären Notfällen unter einer bestehenden Medikation mit NOAK Merksätze: G Durch den Einsatz zur Hirnschlagprävention sind orale Antikoagulanzien auch in der Neurologie von grosser Bedeutung. G Die Vorteile der neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) gegenüber den Vitamin-K-Antagonisten sind bei gleicher beziehungsweise besserer protektiver Wirksamkeit eine geringerer Rate intrazerebraler Blutungen und bei fixer Dosierung keine Notwendigkeit eines Monitorings. G Die Entscheidung für eine Substanz ist individualisiert (unter Berücksichtigung von Komorbiditäten und weiteren Faktoren) mit dem Patienten zu treffen. G Zum Einsatz von NOAK bei Dissektionen und Sinusvenenthrombosen existieren keine randomisierten Studien. Das Management neurovaskulärer Notfälle unter Medikation mit einem NOAK ist eine zukünftige Herausforderung und sollte daher in spezialisierten Zentren erfolgen. stellt eine der grossen Herausforderungen für die Zukunft dar (19). Es bestehen derzeit erste Empfehlungen bezüglich Thrombolyse beim Hirnschlag sowie zur hämostatischen Therapie bei intrazerebralen Blutungen unter NOAK (20, 21). Im Allgemeinen ist eine Thrombolyse bei Einnahme eines NOAK innerhalb der letzten 24 Stunden kontraindiziert. Unter bestimmten Umständen und unter Verwendung spezifischer Gerinnungstests ist dies jedoch im individuellen Fall erwägenswert. Ausblick Die Einführung der NOAK hat auch für die Neurologie eine grosse Bedeutung und bietet neue Möglichkeiten für eine bessere Behandlung unserer Patienten. Trotz umfangreicher Zulassungsstudien mit grossen Patien- tenkollektiven – für alle NOAK zusammen wurden über 50 000 Patienten untersucht, im Vergleich zu weniger als 10 000 Patienten zu VKA in den Neunzigerjahren – bleiben etliche Fragen für den täglichen Umgang mit NOAK offen. Die Arbeitsgruppe «Vorhofflimmern» der Schweizerischen Hirnschlaggesellschaft ist dabei, kon- krete Antworten zu solchen im klinischen Alltag rele- vanten Fragen zu erarbeiten. Da in etlichen Situationen die grossen randomisierten Studien keine konklusiven Schlüsse zulassen, sind Beobachtungsstudien von be- trächtlicher Bedeutung, um diese Lücke zu schliessen. Ein prospektives Register für neurovaskuläre Patienten, an dem alle grossen neurologischen Kliniken der Schweiz teilnehmen, befindet sich zurzeit in der Auf- bauphase und hat monozentrisch (Stroke Center Uni- versitätsspital Basel) bereits begonnen. G Korrespondenzadresse: Dr. med. David Seiffge Neurologie und Stroke Center Universitätsspital Basel Petersgraben 4 4031 Basel E-Mail: david.seiffge@usb.ch Literaturverzeichnis: 1. EAFT (European Atrial Fibrillation Trial) Study Group . Secondary prevention in non-rheumatic atrial fibrillation after transient ischaemic attack or minor stroke. Lancet 1993; 342: 1255–1262. 2. Alberts MJ, Eikelboom JW, Hankey GJ.: Antithrombotic therapy for stroke prevention in non-valvular atrial fibrillation. Lancet Neurol 2012; 11: 1066–1081. 3. Lip GY, Brechin CM, Lane DA.: The global burden of atrial fibrillation and stroke: A systematic review of the epidemiology of atrial fibrillation in regions outside north america and europe. 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