Transkript
EDITORIAL
Migration: Fördern, aber auch fordern
L eben bedeutet immer Auseinandersetzung mit Fremdem und mit der Differenzierung zwischen fremd und eigen. Lebensvielfalt und Veränderungen wären nicht möglich, wenn wir alles Fremde abstossen würden – weder kulturell, seelisch noch biologisch. Bereits vor der Geburt, während der Schwangerschaft, wächst ein genetisch fremdes Individuum im Körper der Mutter. Ihr Immunsystem, das sonst sehr genau zwischen fremd und eigen unterscheidet, lässt das zu. Auch die Migration fordert eine Balance zwischen fremd und eigen, ein Gleichgewicht zwischen unterschiedlichen emotionalen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen und Ansprüchen. Das Eigene gibt Vertrauen und verbindet, doch es erstarrt, wenn es sich nicht mit Fremdem und Neuem mischt.
Migration macht nicht krank, aber sie ist ein Risikofaktor. Neben den Erfahrungen im Ursprungsland und den Umständen der Auswanderung oder Flucht spielen auch soziale Faktoren im Immigrationsland eine wichtige Rolle dabei, wie die Migration erlebt und verarbeitet wird.
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie setzen wir uns täglich mit Problemen aufgrund von Migration auseinander. Denn der Prozess der Integration einer Familie ist komplex und herausfordernd. In der Arbeit unterstützend wirkt das Integrationsleitbild von Basel-Stadt. Dieses bewusst knapp gehaltene Grundlagenpapier sieht Migration explizit als Chance. Das Motto ist «Fördern und Fordern» und enthält auch einen Integrationsdruck.
Migration als Herausforderung Diese Ausgabe hat den psychiatrischen Schwerpunkt der transkulturellen Psychiatrie. Verschiedene Autoren beleuchten die Migration aus verschiedenen Perspektiven. So zeigt Dr. Bernard Küchenhoff von der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich auf, dass Migration mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergeht (Bericht S. 12). Dass Kindesvernachlässigung sogar zu «toxischem» Stress führt, der sich genetisch nieder-
schlägt, unterstreicht Prof. Andrea Lanfranchi von der Heilpädagogischen Hochschule in Zürich (Interview S. 16). Als logische Schlussfolgerung stellt Prof. Roland Vauth, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, zur Diskussion, ob es eine kultursensitive Psychiatrie und Psychotherapie braucht und wie diese aussieht (Bericht S. 4).
Der neurologische Schwerpunkt dieser Ausgabe setzt sich mit der Diagnostik und Therapie der Epilepsie auseinander. Verschiedene neue Antikonvulsiva erhielten die Zulassung. Die Wahl des geeigneten Präparates ist für den einzelnen Betroffenen damit individueller, für den behandelnden Neurologen aber auch anspruchsvoller geworden (Bericht S. 30). Neue Erkenntnisse weisen zudem darauf hin, dass vor allem Epilepsien des Kindes- und Jugendalters einen hohen genetischen Anteil haben. Die Identifizierung von Epilepsiegenen scheint das diagnostische Vorgehen bei Epilepsien derzeit sogar zu revolutionieren (Bericht S. 23).
Wir wünschen Ihnen mit dieser Ausgabe eine span-
nende Lektüre.
G
Prof. Alain Di Gallo Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Themenverweise:
G Neue orale Antikoagulanzien (NOAK) in der Neurologie: NOAK sind Therapiestandard bei der Hirnschlagprophylaxe für Patienten mit Vorhofflimmern und im Rahmen der Behandlung einer Dissektion geworden. Im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten sind sie einfacher zu handhaben. Allerdings sind auch therapeutische Fallstricke zu beachten. Seite 38 ff.
G Neurogene Blasenfunktionsstörungen bei Multipler Sklerose (MS): Blasenfunktionsstörungen kommen im Verlauf der MS sehr häufig vor. Die Symptome sind sehr belastend, in vielen Fällen lässt sich mit einem individuellen und interdisziplinären Management aber eine Symptomlinderung erreichen. Seite 44 ff.
4/2013
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
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