Transkript
FORTBILDUNG
Die PERFECT-Initiative – Management von Krampfanfällen bei Kindern in Europa
Kinder mit prolongierten Anfällen (PCS) erhalten nicht immer die bestmögliche Therapie, wenn diese in der Schule erfolgen. Das zeigen Erkenntnisse der PERFECT-Initiative (1), die von ViroPharma SPRI gesponsert und in sechs europäischen Ländern durchgeführt wurde. Führende Epilepsiespezialisten des PERFECT-Komitees empfehlen deshalb europäische Guidelines und Handlungsrichtlinien für PCS, die ausserhalb des Spitals erfolgen. Im Interview erklärt Dr. Simon Novak, Oberarzt am Zentrum für Kinderneurologie, Entwicklung und Rehabilitation, Stiftung Ostschweizer Kinderspital, ob die Situation in der Schweiz vergleichbar ist und ob es Verbesserungen in der Versorgung bedarf.
Psychiatrie & Neurologie: Die PERFECT-Initative zeigt, dass Kindern mit Epilepsie in den sechs teilnehmenden Ländern nicht ausreichend geholfen wird. Dies bezieht sich vor allem auf den Alltag der Kinder, deren Umfeld sich oft nicht zu helfen weiss, wenn es zu einem Anfall kommt, besonders im schulischen Bereich. Ist dies in der Schweiz ähnlich? Dr. Simon Novak: Ich denke, die Situation ist sowohl in der Schweiz als auch in den teilnehmenden Ländern nicht optimal und somit durchaus vergleichbar. Auch wir in der Schweiz arbeiten daran, die Situation von Kindern mit Epilepsie zu verbessern. Aufgrund eigener Erfahrungen sowohl im Raum Zürich als auch St. Gallen kann ich jedoch sagen, dass die Bereitschaft von Lehrpersonal, sich im Bereich Epilepsie zu informieren, erfreulich gross ist.
Wie gut ist die Initiative angelegt, welche Kinder wurden eingeschlossen? Simon Novak: Die PERFECT-Initiative gibt einen pragmatischen und guten Literaturüberblick über die bestehenden Empfehlungen und Guidelines in der Versorgung von Schulkindern mit PCS. Auch geht die Initiative der Frage nach, was in den sechs beteiligten Ländern in der Realität passiert. Es zeigt sich, dass die Situation von Land zu Land zum Teil sehr unterschiedlich ist. Es bestehen aber auch innerhalb der Länder teilweise sehr grosse Unterschiede im Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit PCS.
Ist es praktisch überhaupt umsetzbar, dass Lehrer das Wissen über Epilepsie und das Notfallmedikament vermittelt bekommen? Simon Novak: Wenn sich die Lehrer für das Thema interessieren und engagiert sind, ist eine Vermittlung sicher möglich. Beispielsweise über einen direkten Kontakt zum betreuenden Kinderneurologen unter vorliegendem Einverständnis der Eltern für ein solches Gespräch. Ich selber mache dies meist auf telefoni-
Simon Novak
schem Weg, gelegentlich auch im Rahmen der Sprechstunde. Im Gespräch informiere ich den betreffenden Lehrer und kläre diesen über das Verhalten im Notfall auf. Das sind 10 bis 20 Minuten, die auf jeden Fall lohnend sind. Unterstützend und informativ sind auch die Informationsbroschüren von ParEpi oder der Schweizerischen Liga gegen Epilepsie speziell für Lehrpersonen zum Thema Epilepsie. Darüber hinaus bietet das Projekt Famoses spitalübergreifend Schulungen im Bereich der Versorgung von Kindern mit Epilepsie an. In den Kursen werden Eltern, aber auch Lehrpersonen darüber informiert, wie sie sich im Notfall verhalten sollen. Die Kurse vermitteln zudem Wissen über das Krankheitsbild und unterstützen die Kommunikation von Eltern, Lehrern und Ärzten.
Wie schätzen Sie die wichtigsten Empfehlungen der Initiative ein? Simon Novak: Die Empfehlungen verstehe ich als ein Gerüst im Sinne einer allgemeinen Arbeitsgrundlage. Je nach individueller Situation können sie jedoch über das gewünschte Ziel hinausschiessen. Auch unter Spe-
4/2013
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
27
FORTBILDUNG
Die PERFECT-Initiative
Einleitung: Rund 30 Prozent aller Kinder leiden trotz antikonvulsiv wirkender Medikamente weiterhin unter Krampfanfällen. Ein Teil der Betroffenen entwickelt sogar prolongierte Krampfanfälle (PCS = prolonged, acute, convulsive seizures) mit einer Dauer von 1 bis 3 Minuten. Unbehandelt kann ein PCS in einen Status epilepticus münden, welcher mit einer erhöhten Morbidität und einer Letalität verbunden ist.
Inhalt: Suzanne Wait präsentiert in ihrem Review die derzeitigen klinischen und nicht klinischen Empfehlungen zum Management von Kindern mit prolongierten Krampfanfällen und die Verabreichung von Notfallmedikamenten bei einem epileptischen Anfall. Die Daten stammen aus sechs Ländern: Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Schweden, Grossbritannien. Die Autorin weist darauf hin, dass sich klinische Empfehlungen bis anhin nur auf den Spitalbereich beziehen. Für die Verabreichung von Notfallmedikamenten und das Verhalten bei einem epileptischen Anfall im Schulbereich hingegen liegen kaum Guidelines vor. Die Gesetzgebung zu diesem Bereich sei zudem vage und offen für Interpretationen. Die Behandlung von Kindern hängt im Notfall deshalb primär davon ab, ob der involvierte Lehrer bereit ist, das Notfallmedikament zu verabreichen. Die Autorin hält fest, dass es praktischer Guidelines für Kinder mit PCS im Schulsetting bedarf. Sie sollten folgende Parameter enthalten: Eltern beantragen eine Zulassung der Notfallmedikation bei ihrem Kind. Sie enthält medizinische Informationen vom behandelnden Arzt. Ein individueller Behandlungsplan wird von den Eltern, der Schule und dem regionalen Gesundheitsdienst vereinbart. Das Lehrpersonal schult sich freiwillig in der Verabreichung der Notfallmedikation und erhält das entsprechende Training durch den Schularzt oder den Gesundheitsdienst. Dem behandelnden Epilepsiespezialisten kommt in diesem Setting eine bedeutende Rolle zu. Mittel der Wahl sind bei einem spitalexternen Krampfanfall Benzodiazepine.
Quelle: Wait S, et al.: The administration of rescue medication to children with prolonged acute convulsive seizures in the community: what happens in practice? Eur J Paediatr Neurol. 2012. doi:10.1016/j.ejpn.2012.07.002. Published early online.
zialisten werden die Empfehlungen zum Teil kontrovers diskutiert. Ich denke, dass die individuelle Entscheidung, welche Massnahmen getroffen und welche Informationen für die Lehrpersonen von Kindern mit Epilepsie gegeben werden, bedeutsam ist, um zu wissen, was im Einzelfall getan werden muss. Was wir unbedingt vermeiden sollten, ist, die Angst und Unsicherheit bei den Lehrpersonen zu fördern.
Warum wird die Angst gefördert? Simon Novak: Den Lehrpersonen wird eine grosse Verantwortung übertragen. Für den Laien ist die Entscheidung, ob ein Medikament verabreicht wird oder nicht, eine grosse Herausforderung. Stoppt der Anfall beispielsweise spontan, braucht es keine akute Anfallsmedikation. Anders sieht es nach drei bis fünf Minuten aus. Dann sollte der Anfall unterbrochen werden. Allerdings muss der Entscheid für oder wider das Medikament bereits nach ein bis zwei Minuten getroffen werden, damit das Kind erst gar nicht in einen Status epilepticus gerät. Zudem ist zu beachten, dass Benzodiazepine auch Nebenwirkungen haben. Sie können zur verstärk-
ten Verschleimung und eventuell zur Atemdepression führen. Darüber muss die Lehrperson informiert werden, damit sie diese Verantwortung übernehmen kann.
Wäre es nicht sinnvoll, gleich auch Vereine oder Kinderhorte in die Information mit einzubeziehen? Simon Novak: In bestimmten Fällen kann das sinnvoll sein. Zum Teil kann das aber ein Zuviel an Information sein. Die meisten Epilepsien sind mit den heutigen antikonvulsiv wirkenden Medikamenten sehr gut zu behandeln, und nur eine Minderheit der Kinder erleidet einen PCS während der Schul- oder Freizeit. Viele Kinder leiden «nur» unter Absencen oder nächtlicher Epilepsie. Sie sind medikamentös gut eingestellt und im Alltag unbeeinträchtigt. Nicht jeder Trainer oder Hortleiter muss deshalb in vollem Umfang informiert sein. Meines Erachtens kann eine Überbetonung der Thematik die Stigmatisierung eher fördern, als dass sie diese hemmt. Das wäre dann kontraproduktiv, weil Kinder mit Epilepsie ein normales Leben führen möchten.
Wie hilfreich oder erprobt sind die Notfallmedikamente überhaupt? Simon Novak: Die ersten Benzodiazepine wurden in den Sechzigerjahren in den Markt eingeführt, seit 1977 ist Diazepam auf der Liste der unentbehrlichen Medikamente der Weltgesundheitsorganisation, seit 2009 auch Lorazepam. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Präparaten, wobei nur ein kleiner Teil in der Notfallsituation eingesetzt werden kann. Dabei spielt neben Wirksamkeit, Wirkeintritt, Wirkdauer und unerwünschten Wirkungen vor allem auch die Applikationsart, zum Beispiel oral, nasal, rektal oder parenteral, eine wichtige Rolle. Lange standen die rektale und die parenterale Applikation im Vordergrund, ab den Neunzigerjahren wurden Benzodiazepine in Bezug auf die nasale und bukkale Verabreichung untersucht und eingesetzt. Studien hierzu gibt es leider nur wenige. In der PERFECTInitiative wurden Benzodiazepine in verschiedenen Verabreichungsformen miteinander verglichen. Für den schulischen Bereich oder den Laiengebrauch bieten sich insbesondere die bukkale oder die intranasale Applikation an. Als bukkal einsetzbares Benzodiazepin ist Buccolam in der Schweiz zwar zugelassen, aber bis anhin noch nicht verfügbar – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern (siehe Kasten). Mit der Markteinführung ist wahrscheinlich 2014 zu rechnen. Derzeit verabreicht werden Benzodiazepine oft nasal, allerdings im Off-label-Gebrauch.
Zugelassen ist das orale Lorazepam (Temesta expidet). Würde es nicht reichen, dieses zu verabreichen, da es schnell wirkt? Simon Novak: Oft wird noch immer davon ausgegangen, dass Temesta expidet einen sehr schnellen Wirkungseintritt hat, wenn es als expidet verabreicht wird. Das stimmt allerdings nicht. Je nach Metabolismus des Patienten kann der Wirkeintritt bei Lorazepam oral erst nach 20 bis 30 Minuten, das Wirkmaximum nach 2 bis 3 Stunden eintreten. Anders ist es bei der intravenösen Verabreichung, hier hat Lorazepam einen sehr hohen Stellenwert. Ausserhalb des Spitals beziehungsweise bei der Verabreichung durch Laien sind vorzugsweise rektal, bukkal oder nasal verabreichte Wirkstoffe wie
&28 4/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
zum Beispiel Diazepam oder Midazolam einzusetzen, da diese schneller wirken.
Einige Benzodiazepine können auch rektal verabreicht werden, wobei dies einen sexuellen Übergriff darstellen könnte. Ist die rektale Applikation überhaupt noch up to date? Simon Novak: Diazepam, eines der am häufigsten eingesetzten Benzodiazepine, steht ausser zur intravenösen auch zur rektalen Applikation zur Verfügung. Für Säuglinge und Kleinkinder ist die rektale Applikation unverändert die erste Wahl, bei älteren Kindern und Jugendlichen ist sie nicht mehr zeitgemäss. Die rektale Verabreichung kann für Aussenstehende tatsächlich wie ein Übergriff aussehen und stellt zumindest einen Eingriff in die Intimsphäre der Betroffenen dar.
Die Initiative ist gesponsert vom Pharmaunternehmen
ViroPharma Incorporated, welches auch das bukkale
Notfallmedikament produziert. Kann dies die Ergeb-
nisse oder die Art der Erhebung der Initiative nicht be-
einflussen?
Simon Novak: Jede firmengesponserte Untersuchung
kann das Ergebnis einer Studie oder Erhebung beein-
flussen, so auch diese. Die PERFECT-Initiative beleuch-
tet einen sehr wichtigen und interessanten Sachverhalt
und gibt einen guten Überblick über das heutige An-
fallsmanagement in spitalexternen Situationen. Auch
die Schlussfolgerungen und Empfehlungen können
eine wertvolle Ergänzung für die behandelnden Fach-
personen darstellen. Eine Übertragung der Ergebnisse
auf das Notfallmanagement hier in der Schweiz ist in
Teilen wahrscheinlich möglich, wobei die regionalen
Gegebenheiten und Vorgaben berücksichtigt werden
müssen. Ich denke, dass die Initiative für uns in der
Schweiz tätigen Neuropädiater und Epileptologen ein
Ansporn sein sollte, die hiesige Situation kritisch zu
überprüfen und an einer weiteren Optimierung der
spitalexternen Versorgung von Kindern mit prolongier-
ten epileptischen Anfällen zu arbeiten.
G
Sehr geehrter Herr Dr. Novak, wir danken Ihnen für das Interview.
Kasten:
Benzodiazepine zur Behandlung von prolongierten Krampfanfällen in der Schweiz
G Diazepam rektal: 0,2 bis 0,5 mg/kg KG: Fachinformation Stesolid: G Kinder 1–6 Jahre: 5 mg. G Erwachsene/Kinder über 6 Jahre: 10 mg. Zur Therapie des Status epilepticus kann die Dosis, wenn nötig, nach 10 bis 15 Minuten wiederholt werden bis zur max. Tagesdosis von 30 mg (Erwachsene) bzw. 20 mg (Kinder). G Midazolam hydrochlorid bukkal und intra-
nasal und Midazolam maleat bukkal 0,2 bis 0,5 mg/kg KG: Buccolam ist in der Schweiz zugelassen, jedoch noch nicht verfügbar. G Lorazepam sublingual 0,05 bis 0,1 mg/kg KG: in der Schweiz bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 bis 18 Jahren nicht empfohlen, unter 12 Jahren nicht zugelassen. G Clonazepam oral: in der Schweiz zugelassen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Simon Novak Stiftung Ostschweizer Kinderspital KER-Zentrum – Zentrum für Kinderneurologie, Entwicklung und Rehabilitation
Oberarzt Claudiusstrasse 6
9006 St. Gallen Tel. 071-243 73 32 E-Mail: simon.novak@kispisg.ch Internet: www.kerzentrum.ch
Das Interview führte Annegret Czernotta.
4/2013
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
29