Transkript
FORTBILDUNG
«Jede Schmerzform isoliert angehen»
Die diabetische Polyneuropathie ist eine der häufigsten Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus. Trotz der Häufigkeit ist die Therapie schwierig. Die Schmerzen liessen sich oftmals nur lindern, sagt PD Dr. Susanne Renaud, Chefärztin Neurologie vom Hôpital Neuchâtelois in Neuchâtel.
Psychiatrie & Neurologie: Wer entwickelt eine diabetische Polyneuropathie? PD Dr. Susanne Renaud: Das Erkrankungsrisiko ist für Diabetiker relativ hoch. In der Schweiz gibt es rund 250 000 Menschen mit einem Diabetes mellitus, jedes Jahr erkranken weitere 15 000 Personen daran. Zwei Drittel dieser Patienten zeigen objektive Zeichen einer Neuropathie, aber nur 15 bis 20 Prozent haben subjektive Symptome. Das Risiko für eine Erkrankung und eine Verschlechterung der Symptome steigt, je schlechter der Blutzucker kontrolliert ist. Weitere Gründe, die bei Diabetikern zur Entwicklung einer Neuropathie beitragen, sind die Dauer der Erkrankung, Rauchen, Übergewicht oder Fettstoffwechselstörungen. Alles Risikofaktoren, die auch das Auftreten einer Arteriosklerose begünstigen. International ist hingegen die Lepra die häufigste Ursache einer Polyneuropathie (Definition Kasten).
Was gehört zur umfassenden Diagnostik dazu? Susanne Renaud: Bei den meisten Diabetikern betrifft die Nervenschädigung beide Körperseiten (distal symmetrische Neuropathie). Jährlich sollten Hausärzte bei Diabetikern deshalb nach Anzeichen der diabetischen Polyneuropathie (DNPN) suchen, beispielsweise nach brennenden Schmerzen an den Füssen. In der Regel braucht es nur bei atypischen Verlaufsformen eine Elektroneuromyografie, beispielsweise zur Diagnostik einer Mononeuropathie oder einer Plexopathie der Extremitäten. Das sind dann auch in der Regel Patienten, die vom Hausarzt an den Neurologen überwiesen werden. Insgesamt ist für eine gute Therapie die korrekte Klassifikation des neuropathischen Schmerzsyndroms unerlässlich. Jedoch ist es bei der Behandlung sinnvoll, sich nicht nur auf die Grunderkrankung zu konzentrieren. Einerseits deshalb, weil ganz unabhängig von der Grunderkrankung bei verschiedenen Patienten identische Schmerzformen vorkommen können, andererseits aber die gleiche Erkrankung wiederum auch ganz unterschiedliche Symptome zeigen kann. Dementsprechend ist es sinnvoll, jede einzelne Schmerzform und damit jeden einzelnen Schmerzmechanismus isoliert mit geeigneten Medikamenten anzugehen.
Susanne Renaud
Wie kommt es zur diabetischen Polyneuropathie? Susanne Renaud: Die genaue Ursache ist unbekannt, was die Behandlung erschwert. Vermutet werden metabolische, immunologische, aber auch vaskuläre Faktoren. Beispielsweise verursacht das Serum von Typ2-Diabetikern eine neuronale Apoptose, oder/und es entwickeln sich Antikörper gegen sympathische Ganglien bei insulinabhängigem Diabetes. Auch kardiovaskuläre Risikofaktoren spielen eine Rolle bei der kumulativen Inzidenz der Neuropathie, wie Rauchen oder ein hoher Body-Mass-Index. Beispielsweise wurden Glycation-End-Products (AGE) in atherosklerotischen Plaques und atherosklerotischen Läsionen sowie in Makrophagen von Diabetikern gefunden, was die Wahrscheinlichkeit von Gefässkomplikationen bei Diabetikern erhöht.
Was sind die Ziele der Schmerztherapie? Susanne Renaud: Die Behandlung der diabetischen Polyneuropathie ist relativ schwierig. Trotz adäquater Behandlung gelingt eine Linderung der Symptome nur partiell. Behandeln wir 2 Patienten mit trizyklischen Antidepressiva liegt die Number Needed to Treat – um nur eine 50-prozentige Schmerzreduktion zu erzielen – bei 2. Bei Gabapentin sind es bereits 4 Patienten, und bei Topiramat sind es fast 8 Patienten. Oftmals ist nur
2/2013
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
23
FORTBILDUNG
Kasten:
Definition neuropathischer Schmerz und diabetische Polyneuropathie
Nach der Definition der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) spricht man von neuropathischem Schmerz, wenn eine Läsion oder eine Dysfunktion des zentralen oder peripheren Nervensystems die Ursache der Schmerzen darstellt. Neuropathische Schmerzen sind meist chronisch. Patienten, die an neuropathischen Schmerzen leiden, weisen eine charakteristisch veränderte Sensibilität auf. Diese äussert sich häufig in brennenden Spontanschmerzen und einschiessenden Schmerzattacken. Generell können sowohl negative sensorische Phänomene (sensible Ausfälle) als auch positive (Missempfindungen, z.B. Parästhesie, oder Überempfindlichkeit auf Reize, z.B. Allodynie) entstehen. Die diabetische Polyneuropathie ist eine Erkrankung der peripheren Nerven, die infolge eines Diabetes mellitus auftritt. Sie kann sowohl das somatische als auch das autonome Nervensystem betreffen.
eine symptomatische Therapie möglich, obwohl die Patienten durch die Polyneuropathie oftmals eine sehr schlechte Lebensqualität haben. Nahezu 9 von 10 Patienten beklagen Schlafstörungen und Asthenie, 76 Prozent leiden an Konzentrationsstörungen, und 70 Prozent der Patienten beklagen Symptome einer Depression. Zusätzlich ist die Arbeitsfähigkeit bei fast jedem zweiten Patienten eingeschränkt. Die Behandlung sollte deshalb zielorientiert und realistisch sein. Eine Schmerzfreiheit ist nur in den seltensten Fällen möglich und sollte deshalb nicht versprochen werden. Mit zielorientiert und realistisch ist gemeint, dass Patienten mit Schlafstörungen beispielsweise 30 Minuten früher einschlafen können oder bei in der Mobilität eingeschränkten Personen vielleicht Spaziergänge von 30 Minuten möglich sind. Die Ziele und Möglichkeiten sind ehrlich mit dem Patienten zu kommunizieren. Auch das offene Gespräch über die Nebenwirkungen der Medikamente gehört dazu. Wird der Betroffene nicht richtig aufgeklärt, schränkt das sonst die Compliance ein.
Welche Probleme gibt es in der Praxis in Bezug auf die Schmerztherapie? Susanne Renaud: Wie bereits erwähnt, ist die Behandlung neuropathischer Schmerzen äusserst schwierig.
Häufig besteht eine Resistenz gegenüber klassischen Schmerzmitteln wie Paracetamol oder nichtsteroidalen Antirheumatika, die zudem die Gefahr einer Niereninsuffizienz erhöhen. Die Verschreibungshäufigkeit hat aber in den letzten Jahren in diesem Bereich stark abgenommen und ist meiner Ansicht nach kein Problem mehr. Bei Opioiden ist problematisch, dass die Langzeiteffekte dieser Medikamentenklasse nicht bekannt sind. Die Behandlung des neuropathischen Schmerzes ist deshalb noch immer eine Herausforderung für den Hausarzt. Heute orientiert sich die Therapie an Guidelines.
Welche pharmakologischen Interventionsmöglichkeiten bestehen im Rahmen der Guidelines? Susanne Renaud: Laut Guidelines sind trizyklische Antidepressiva (TAD) die wirksamsten Medikamente bei der Behandlung von neuropathischen Schmerzen. Zudem sind sie am ausführlichsten untersucht und werden in der Praxis am häufigsten eingesetzt. Allerdings sind die Nebenwirkungen zu beachten: Bei älteren Menschen kann es unter anderem zu Sedierung, Mundtrockenheit oder Verstopfung kommen. Noradrenalin und Serotoninwiederaufnahmehemmer sind Alternativen zu den TAD. Zu ihnen zählen beispielsweise Duloxetin und Venlafaxin. Bei den Antiepileptika sind Gabapentin und Pregabalin die derzeit am häufigsten angewandten Antiepileptika zur Behandlung der Neuropathie. Sie sind wirksam und zeigen zudem ein günstiges Nebenwirkungsprofil. Bei den Opioiden sind verschiedene Substanzen einsetzbar. Die Wirksamkeit von Oxycodon hat sich beispielsweise in zwei randomisierten Studien erwiesen. Eine Standarddosierung gibt es bei den Opioiden allerdings nicht. Vielmehr orientiert sich der Einsatz an den erwünschten und unerwünschten Nebenwirkungen (Tabelle).
Wie sieht es in Bezug auf Capsaicin aus? Susanne Renaud: Capsaicin ist der Bestandteil des Cayennepfeffers, der ihm seinen scharfen Geschmack verleiht. Capsaicin führt bei lokaler Anwendung zu einer dauerhaften Desensibilisierung aufgrund einer Depletion der Substanz P. Zu den lokalen Nebenwirkungen gehören Brennen und Hautrötungen. Die Zulassung liegt aber nur zur Behandlung von peripheren neuropathischen Schmerzen bei Patienten vor, die nicht an Diabetes leiden.
Tabelle:
Schmerztherapie der Neuropathie
Substanz Antiepileptika
Wirkstoff Pregabalin, Gabapentin
Antiepileptika, die den Natriumkanal blockieren Trizyklische Antidepressiva
Selektive Wiederaufnahmehemmer Opiate
Carbamazepin, Lamotrigin, Lidocain z. B. Nortryptilin, Imipramin, Amitryptilin Duloxetin, Venlafaxin Codein, Morphin, Tramadol
Nebenwirkungen Schläfrigkeit, Schwindel, periphere Ödeme Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung, Unwohlsein, Schwindel Schläfrigkeit, Mundtrockenheit, Verstopfung, Gewichtszunahme Übelkeit Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung, Unwohlsein, Schwindel
&24 2/2013 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Was könnte insgesamt in Bezug auf die Therapie verbessert werden? Susanne Renaud: Oftmals werden die Medikamente nicht richtig aufdosiert, oder es wird zu hoch dosiert mit der Therapie begonnen. Bei Letzterem können die Nebenwirkungen so gravierend sein, dass der Patient ein wirksames Medikament aufgrund der Nebenwirkungen ablehnt. Werden die Medikamente hingegen nicht richtig aufdosiert, wird ihr Wirkpotenzial nicht ausgeschöpft. Zudem könnte häufiger an eine Kombinationstherapie gedacht werden. Beispielsweise ist die Kombination von Trizyklika mit Opiaten sehr wirksam. Auch die Kombination von Gabapentin mit Oxycodon in der Behandlung der diabetischen Neuropathie ist gut untersucht und wirksamer als die Gabe der einzelnen Medikamente allein. Zudem wurde ein positiver Effekt auf die Lebensqualität der Patienten unter der Kombination beobachtet. Auch die optimale Blutzuckereinstellung ist ein immer wiederkehrendes Thema. Für die Schmerztherapie und zur Vermeidung weiterer Schäden an den Gefässen und Nerven ist es aber wichtig, dass die Blutzuckergrenzen eng eingehalten werden. Und oftmals sind aber auch einfach die Erwartungen zu hoch, und zwar auf der Seite des Patienten und des Arztes. In der Therapie braucht es dann immer wieder Geduld.
Könnte man der diabetischen Polyneuropathie auch
vorbeugen?
Susanne Renaud: Leider macht sich der Diabetes Typ 2
häufig erst nach Jahren bemerkbar. Zeichen einer Poly-
neuropathie sind dann oftmals die ersten Anzeichen
dieser Krankheit. Sicher ist dann die optimale Blut-
zuckereinstellung die beste Prophylaxe. Diabetiker soll-
ten zudem über die Bedeutung einer guten Fusspflege
aufgeklärt werden.
●
Korrespondenzadresse:
PD Dr. med. Susanne Renaud
Chefärztin Neurologie
Hôpital Neuchâtelois Pourtalés
Maladière 45
2000 Neuchâtel
E-Mail: Susanne.Renaud@h-ne.ch
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Referenzen:
Chronische neuropathische Schmerzen, Susanne Renaud, Marie Besson, Christine Cedraschi, Gunther Landmann, Marc R. Suter, Ethan Taub, Ulrich Buettner, Schweiz Med Forum 2011; 11 (Suppl 57).
2/2013
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
25