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FORTBILDUNG
Die Rolle des Vaters in der Bewältigung von Erkrankungen des Kindes
«Make room for daddy!»
Prof. Dr. phil. Dipl.-Psychol. Inge Seiffge-Krenke ist Leiterin der Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität Main. Sie hat die Väterforschung in der Psychologie vorangetrieben und immer wieder gezeigt, wie wichtig Väter für ihre Söhne und Töchter sind. Auch die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung und die Bewältigung von Erkrankungen des Kindes wird in der Praxis unterschätzt. Automatisch werden die Mütter in die Behandlung des Kindes einbezogen, während die Väter als Ressource zu wenig wahrgenommen werden, wie sie im Interview erklärt.
Psychiatrie & Neurologie: Seit wann wird die Rolle des väterlichen Einflusses auf die Entwicklung des Kindes überhaupt wissenschaftlich untersucht? Prof. Inge Seiffge-Krenke: Die empirische Basis ist nicht sehr gross. Erst in den letzten 20 Jahren konnten wir eine Zunahme der Väterforschung ausmachen. Insgesamt entspricht das allerdings nur 9 Prozent der gesamten Entwicklungserforschung des Kindes. Deshalb wissen wir bis heute deutlich weniger über die Bedeutung des Väterlichen in der Entwicklung des Kindes, verglichen etwa mit den vielen Studien an Müttern. Aufgrund der bereits vorhandenen Väterstudien wurde aber deutlich belegt, dass Männer von Beginn an unterschiedlich mit den Kindern umgehen.
Inge Seiffge-Krenke
Wie zeigen sich die Unterschiede im Umgang mit den Kindern? Inge Seiffge-Krenke: Männer akzentuieren das Geschlecht des Kindes stark: Für Mütter sind es Kinder, für den Vater ist es ein Sohn oder eine Tochter. Die Väter sind strenger in der Disziplin und wilder und direktiver im Spiel mit den Söhnen, dagegen weicher, vorsichtiger und unterstützender im Umgang mit den Töchtern. Diese Effekte sind unabhängig vom Alter der Kinder – untersucht wurden 2- bis 17-Jährige – und der familiären Rollentrennung. Weiterhin beschäftigen sich Männer sehr stark mit dem Körper und der Motorik des Kindes. Sie sind einerseits diejenigen, die das Kind zur körperlichen Bewegung ertüchtigen und mit Kindern laufen, springen, Fussball spielen, schaukeln, Fahrrad fahren und Ball spielen, aber andererseits sind sie auch diejenigen, die dabei Regeln setzen. Wir können beispielsweise bei Männern ein Spiel beobachten, dass es bei Müttern nicht gibt, das «Kamikaze-Spiel»: Männer werfen zum Beispiel Kinder spielerisch in die Luft. Das sind für Kinder extrem aufregende Spiele, die stark stimulieren, aber auch gleichzeitig massive Ängste auslösen. Väter zeigen zugleich, wie sich die dabei ausgelösten negativen Affek-
ten wie Angst, Anspannung, Wut bewältigen lassen, und setzen Grenzen. Der Vater ist also ein gutes Modell für die Bewältigung von negativen Gefühlen, und das ist eine wichtige Funktion, die auch bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen hilfreich zur Krankheitsbewältigung eingesetzt werden kann. Ihr positiver Fokus auf den Körper des Kindes, also die körperliche Effizienz und körperliche Kompetenz, ist hier ebenfalls von Bedeutung, denn bei Erkrankungen wird ja zumeist nur auf die negativen Aspekte wie Krankheit und Dysfunktionalität geachtet. Hier können Väter einen wichtigen Beitrag zum Erwerb eines positiven Körperkonzeptes leisten. In der dritten Funktion fördern Väter die Autonomie von Kindern stärker als die Mütter. International durchgeführte Studien zeigen, dass im Vergleich von Familien in Frankfurt oder Tel Aviv Mütter 16-jährigen Jugendlichen so viel zutrauen wie Männer den 12-Jährigen. Damit einhergehen kann – als Kehrseite sozusagen – allerdings auch eine Überforderung des Kindes durch den Vater.
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Zusammengefasst hat der Vater aus Sicht der Entwicklungspsychologie und der Psychoanalyse also drei entscheidende Funktionen (1): 1. Er hilft, den Körper des Kindes vom Körper der Mut-
ter zu separieren. 2. Er betont und trainiert Aktivitäten des Kindes, die
eine autonome Entwicklung und Bewegung und effiziente Kontrolle über den Körper erlauben. 3. Er wird eng assoziiert mit dem Erwerb der symbolischen Struktur des Körpers. Dies schliesst letztlich die Betonung des Geschlechts des Kindes ein.
Welche Entwicklung hat die Vaterforschung genommen? Inge Seiffge-Krenke: Die Rolle der Väter wird, wie eingangs erwähnt, erst seit rund 20 Jahren erforscht. Anfangs hielt man den Vater für irrelevant für die Kindesentwicklung. Er war als Ernährer der Familie viel ausser Haus und wurde daher als wenig einflussreich angesehen. Dann stand die wahrgenommene Ähnlichkeit von Vater und Mutter im Vordergrund. Es wurden Aktivitäten verglichen, bei denen die Mutter die Messlatte war. Prototypische Studien sind beispielsweise Studien zum Couvade-Syndrom, dem Männerkindbett. Man versuchte nachzuweisen, dass Männer die gleiche Schonbedürftigkeit haben wie werdende Mütter. Auch das Bindungsverhalten des Vaters wurde untersucht. Wie man sich leicht denken kann, schnitten Väter in «Mütterdimensionen» wie der Pflege schlechter ab. In diesen frühen Stadien der Vaterforschung wurde der Vater immer als quantitativ und qualitativ defizitär im Vergleich zur Mutter eingestuft. In den dabei durchgeführten Beobachtungsstudien machte man allerdings damals schon die interessante Entdeckung, dass Väter einfach anders mit den Kindern umgehen, und zwar schon in den ersten Lebenstagen. Mütter halten beispielsweise engen Körperkontakt zum Kind und beschäftigen sich pflegerisch mit diesem. Bei Vätern hingegen beobachtete man viel mehr Imitation, Grimassenschneiden und mehr visuelle und motorische Stimulation. Bei Müttern ist es quasi ein Körper für zwei, der Vater ist dagegen für die körperliche Loslösung und Autonomie des Kindes zuständig.
Gibt es unterschiedliche Typen von Vätern? Inge Seiffge-Krenke: Die Forschung unterscheidet insgesamt drei Typen: Die «Disneyland-Väter» treten häufig nach einer Scheidung in Erscheinung. Bei ihren seltenen Besuchen überstimulieren sie das Kind häufig, beispielsweise mit Kinobesuchen, und sind nicht im Alltag des Kindes präsent. Das sind keine wünschenswerten Väter, weil bei einer Trennung die Bewältigung des Alltäglichen im Vordergrund stehen sollte. Stattdessen bietet ein «Disneyland-Daddy» ein Verhalten, dass auch «normale Väter» zeigen können: geringe Involvierung und starke Stimulation bei der Erziehung des Kindes. Dann gibt es die «zweiten Mütter», das sind Väter, die sich verhalten wie Mütter. Obwohl dieser Typ sehr häufig in den Medien beschrieben wird, ist er mit einem Anteil von 10 Prozent aller Väter kein häufiger Vatertyp. Für das Kind ist dies ebenfalls kein wünschenswerter Vater, weil der Vater nicht in Konkurrenz zur Mutter treten soll. Für die Entwicklung eines Kindes wäre es bes-
ser, der väterlichen Andersartigkeit im Umgang mit dem Kind Ausdruck zu verleihen. Dann gibt es den «Sag-du-doch-mal-was-Papa», der sich aus der Erziehung heraushält und alles den Müttern überlässt. Diesen Typ Vater finden wir häufig in Familien mit chronisch kranken Kindern. Wir haben in unserer Längsschnittstudie gefunden, dass nur 4 Prozent der Väter chronisch kranker Kinder in das Krankheitsmanagement einbezogen sind – dies wird fast nur von der Mutter und dem Kind bewältigt –, dass sie sich aber auch sonst im Alltag sehr rar machen und den bereits beschriebenen Vateraufgaben nicht nachkommen. Wir konnten sehen, wie sehr die Kinder immer wieder versuchen, den Vater zu involvieren, daher der Name, und dass dies sehr oft erfolglos bleibt.
Wie sehr beeinflusst der Vater das Kind und/oder den Jugendlichen? Inge Seiffge-Krenke: Kinder brauchen ihren Vater. Väter sollten ihre Kinder deshalb regelmässig sehen und am Alltag des Kindes teilnehmen. Damit entlastet der Vater zugleich auch die Mutter. Früher hatten Väter eine starke Disziplinierungsfunktion; körperliche Strafen waren an der Tagesordnung, das Züchtigungsrecht des Vaters war weitverbreitet. Die insgesamt positive Entwicklung von Vätern in Richtung mehr Liebe, Zuneigung und Interesse an ihren Kindern darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach wie vor Gewalt in Familien gibt. Ausserdem hat die Disziplinierung durch den Vater zu starken Regeln geführt. In der heutigen Delinquenzforschung an Jugendlichen stellen wir fest, dass mangelnde Autorität im Elternhaus mit Gewaltzunahme bei Jugendlichen einhergeht. Ein solches «Parents battering» kann gegenüber alleinerziehenden Müttern auftreten. Die Kinder überschreiten die Grenzen und greifen die eigene Mutter an. Väter sind wiederum verunsichert, weil sie nicht autoritär sein sollen. Durch die Veränderung der väterlichen Rolle hin zu mehr Emotionen fühlen sich Männer aber auch verunsichert und orientieren sich bei fehlenden väterlichen Vorbildern zumeist an ihren Frauen und Müttern. Das kann zu der bereits beschriebenen Konkurrenz am Wickeltisch führen.
Was wäre eine Lösung aus diesem Dilemma? Inge Seiffge-Krenke: Männer sollten keine Konkurrenz zur Mutter werden, sondern den Fokus auf die beschriebenen wichtigen Vaterfunktionen legen: auf die Bewegung, auf die Autonomieentwicklung, die Grenzsetzung. Heute wird die Erziehung sehr stark von Frauen dominiert. Für männliche Kinder und Jugendliche gibt es dadurch nur noch wenige gute Rollenvorbilder. Kinder generell, vor allem aber Jungen, brauchen jedoch mehr Regeln, Autorität und Grenzsetzungen.
Warum sollen Väter in die medizinische Behandlung der Kinder einbezogen werden? Inge Seiffge-Krenke: Wie erwähnt kümmern sich Väter kaum um die Pflege eines chronisch kranken Kindes. Sie überlassen die Pflege fast völlig den Müttern. Das ist von grosser Bedeutung, weil Männer für die körperliche Entwicklung des Kindes wichtig sind. Mit chronisch kranken Kindern spielen sie viel weniger, selbst wenn dies für die Krankheitsanpassung des Kindes gut ist. Sie
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tun es auch nicht in Phasen einer Remission oder bei chronisch kranken Kindern mit gutem Verlauf, wie beispielsweise bei Asthmatikern oder Diabetikern, die eine gute Krankheitsanpassung haben. Es ist bis jetzt unklar, wieso Väter in Familien mit kranken Kindern sich so verhalten. Die körperliche Unversehrtheit des Kindes scheint ein enorm wichtiger Aspekt in der väterlichen Erziehung zu sein. Es gibt eine lange historische Tradition, in denen Söhnen das Erstgeborenenrecht entzogen wurde, wenn diese körperlich erkrankt waren.
Können Sie das an einem Beispiel erklären? Inge Seiffge-Krenke: Lange Zeit wurde nicht wahrgenommen, wie herausragend die Rolle des Vaters in der Krankheitsbewältigung ist. In der Vergangenheit wurde stark auf die Krankheit des Kindes fokussiert, aber die Entwicklungsperspektive des Kindes wurde vernachlässigt. Die dadurch entstehenden Entwicklungsbehinderungen des Kindes oder Jugendlichen können eine Folge der einseitigen Fokussierung auf die Krankheit sein. Familien mit einem chronisch kranken Kind müssen demnach auf die Balance zwischen Adaptation an die Krankheit und Förderung der altersgemässen Entwicklung achten. Vätern kommt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle zu. In einer Studie (2) haben wir gesunde Jugendliche und Jugendliche, die an Diabetes erkrankt sind, untersucht. Generell ist der Krankheitsverlauf des Diabetes abhängig vom Zeitpunkt der Manifestation und der Bildung humoraler Antikörper. Es gibt sehr früh erkrankte Kinder mit milder Verlaufsform des Diabetes, aber auch einen sich in der Pubertät manifestierenden Diabetes, der rasch progredient verläuft. Obwohl die ganze Familie von der Erkrankung betroffen ist, sind es fast ausschliesslich die Mütter, die sich auf Ebene des Managements engagieren und in die emotionale Bewältigung der Erkrankung einbezogen sind. Väter sind selten bei Besprechungen mit Medizinern dabei und werden, wenn sie dabei sind, auch häufiger «übersehen», weil sich der Arzt überwiegend an die Mutter wendet. Auf Seiten der Väter findet sich daher oft ein deutliches Informationsdefizit bezüglich der Erkrankung. Hier wäre, auch aus medizinischer Sicht, ein deutlicher Einbezug des Vaters wünschenswert. Es sollte selbstverständlich werden, auch den Vater eines kleinen Patienten mit einer gewissen Regelmässigkeit zu sehen, denn wenn die Entwicklung durch ihn behutsam gefördert wird, kommt dies auch der Krankheitsanpassung zugute und entlastet die Mutter. Bei Kindern mit Diabetes wurden verschiedene Familientypen gefunden. Das Klima war entweder überfürsorglich, oder es fehlten Grenzen in der Organisation oder der Disziplin. Dann gab es Familien, die extrem leistungsorientiert und rigide waren, was sich zunächst gut auf die Krankheitsanpassung auswirkte, aber langfristig doch negativ wirkte. Denn förderlich für die Krankheitsbewältigung ist ein Familienklima, das sich durch Kohäsion, Flexibilität und Organisation auszeichnet und das persönliche Wachstum und die aktive Freizeitgestaltung des kranken Kindes belohnt. Die Frage ist dementsprechend, ob sich Kinder individuell und selbstständig entwickeln können, und das ist in jedem Altersabschnitt jeweils etwas anderes. Und es fragt sich, welche Funktion diesbezüglich insbesondere die Väter
haben. Unsere bereits erwähnte Studie zeigt, dass Väter viel weniger mit kranken als mit gesunden jugendlichen Kindern kommunizieren. Oftmals versucht das kranke Kind vergeblich, den Vater in Diskussionen zu involvieren. Wird in Betracht gezogen, dass Väter eine wichtige Rolle für die Autonomie, Entwicklung eines positiven Körperkonzeptes und einer angemessenen Geschlechtsrolle des Kindes haben, sollte in der Beratung und Betreuung von Familien mit chronisch kranken Kindern und Jugendlichen die Rolle des Vaters unbedingt gestärkt werden.
Was bedeutet das für Ärzte, aber auch für das Pflegepersonal? Inge Seiffge-Krenke: Mediziner müssen Väter definitiv mehr in die Behandlung des Kindes miteinbeziehen. Dabei ist es für die Väter hilfreich, wenn das ärztliche Personal und das Pflegepersonal konkrete Vorschläge dazu machen, was Väter übernehmen können, wie sie sich involvieren können, welche Aktivitäten dem Kind möglich sind, wo man seine Selbstständigkeit fördern kann. Kranke Kinder nehmen ihren Körper oftmals als defizitär wahr. Es hilft ihnen, wenn Väter dieses Bild in einem positiven Sinn uminterpretieren können. Studien zeigen, dass Väter auch gerne lehren und ihre Kinder gerne intellektuell herausfordern. Das können auch kranke Kinder sehr gut gebrauchen. Väter können ihre Forderungen auch oftmals sehr humorvoll umsetzen – mit guten Effekten auf das Kind.
Sind die stark unterschiedlichen Erziehungsstile durch
die Biologie geprägt oder durch die Gesellschaft?
Inge Seiffge-Krenke: Die Geschlechterrolle ist sehr
stark durch die Gesellschaft determiniert. In Familien, in
denen die Mutter gestorben ist oder aus anderen Grün-
den als Erzieherin ausfällt, müssen sich Väter die müt-
terliche Rolle aneignen und lernen das sehr schnell.
Alleinerziehende Mütter «ersetzen» wiederum Väter-
funktionen, tun dies aber häufig unter wirtschaftlich
sehr viel schwierigeren Bedingungen als alleinerzie-
hende Väter. Die Rollen des Vaters und der Mutter sind
zwar lange gewachsen und tradiert worden, aber diese
Beispiele zeigen, dass relativ rasch Umlernprozesse er-
folgen können, wenn es die Situation erforderlich
macht.
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Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Psychologisches Institut
Abteilung Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie
Wallstrasse 3, 6. OG
D-55122 Mainz
E-Mail: seiffge-krenke@uni-mainz.de
Referenzen:
1. Seiffge-Krenke, I.: Mehr Liebe und weniger Gewalt? Veränderungen von Vaterschaft und ihre Konsequenzen für die Kindesentwicklung und die therapeutische Arbeit. Psychotherapeut 2012, 57, 148–160.
2. Seiffge-Krenke I., T. Nieder, M. Hertel.: Kommunikation und Coping von Vätern diabetischer Jugendlicher, Kindheit und Entwicklung 2001, Hogrefe-Verlag Göttingen, Vol. 10, No. 1, 3–12.
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