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Schwindel und Kopfschmerz
FORTBILDUNG
Kopfschmerzen und Schwindel sind häufige Symptome. Sie können gemeinsam auftreten, aber auch unabhängig voneinander. Wichtig ist die genaue Abgrenzung.
von Alexandre Bisdorff
K opfschmerzen und Schwindel sind häufige Symptome. Die Jahresprävalenz von Kopfschmerzen liegt in Europa bei 50 bis 60 Prozent (1), diejenige von Schwindel bei 29,5 Prozent, während jene von vestibulärem Schwindel* bei 5,2 Prozent liegt (2). Die Frage ist, ob und wie Kopfschmerzen und Schwindel zusammenhängen. Aufgrund der jeweiligen Häufigkeit müsste deren Koexistenz zwangsläufig auch häufiger vorkommen. Störungen oder Krankheiten können beide Symptome hervorrufen, aber Schwindel kann auch Kopfschmerzen verursachen und umgekehrt. Schliesslich ist es möglich, dass beide Symptome auch durch reine Koinzidenz zusammen auftreten. Schwindel und andere Begriffe für vestibuläre Symptome wurden bisher uneinheitlich gebraucht. Falls nicht anders vermerkt, werden in diesem Artikel die Definitionen der Barany-Gesellschaft (3) benutzt.
Definition von vestibulären Symptomen** Die Barany-Gesellschaft (internationale und multidisziplinäre Gesellschaft für vestibuläre Störungen) definiert vestibuläre Symptome wie folgt (3): ● Vertigo (innerer Schwindel) ist das Gefühl von Ei-
genbewegung, obwohl keine Eigenbewegung stattfindet, oder das Gefühl einer verzerrten Bewegung während einer normalen Kopfbewegung. Diese innere vestibuläre Empfindung wird unterschieden von einem äusseren, visuellen Bewegungsempfinden, entweder als äusserer Schwindel oder Oszillopsien. Falls nicht anders vermerkt, wird mit Schwindel innerer Schwindel gemeint. Der Begriff umfasst neben Drehempfindungen weitere Bewegungsillusionen, wie Schwanken, Kippen und so weiter. ● Benommenheit ist das Empfinden einer gestörten Raumorientierung, jedoch ohne Bewegungsillusion.
* in dieser Studie definiert wie folgt: ein spontaner Drehschwindel oder ein Lageschwindel oder ein rezidivierender Schwindel mit Übelkeit und zusätzlich entweder visuellen Scheinbewegungen oder Stand- und Gangunsicherheit.
** Eine offizielle Übersetzung ins Deutsche existiert nicht.
● Stand- und Gangunsicherheit ist ein Gefühl von unsicherem Stehen, Gehen oder Sitzen.
Alle Symptome können koexistieren und sind rein phänomenologisch definiert ohne Anspielung auf einen Mechanismus, eine Krankheit oder ein Organ.
Krankheiten, welche Kopfschmerzen und Schwindel bedingen Vestibuläre Migräne Sie wird heute als die häufigste Ursache für episodischen Schwindel angesehen. Der Zusammenhang von Migräne und Schwindel ist schon lange bekannt. Allerdings ist die Ansicht, dass ein Migränemechanismus auch die Ursache von Schwindel sein kann, eine Erkenntnis, die vor allem in den letzten 20 Jahren erworben wurde. In der heutigen Kopfschmerzklassifikation der internationalen Kopfschmerzgesellschaft kommt Schwindel lediglich in zwei Entitäten vor: in der Basilarismigräne als eines von mehreren Symptomen der hinteren Schädelgrube und beim paroxysmalen Schwindel des Kindes (4). Als Aurasymptom oder gar als isolierte Aura kommt Schwindel nicht vor. Das Konzept der vestibulären Migräne entwickelte sich aus der systematischen Beobachtung von Patienten mit Migräne und Schwindel, bei denen beide Symptome gleichzeitig auftraten und bei denen dieselben Schwindelsymptome auch unabhängig vom Kopfschmerz auftraten (5–7) und keine bessere Erklärung gefunden werden konnte. Die Beobachtung, dass prophylaktische Migränebehandlungen zu einer Verbesserung des Schwindels führten (8), trug ebenfalls zur Entwicklung des Konzeptes bei. Dies bereitete den Weg zur ersten formalen Definition des Migräneschwindels (9). Ein entscheidender Faktor für die breitere Anerkennung der Entität vestibuläre Migräne war der Nachweis der Stabilität der Diagnose bei einer Langzeitbeobachtung über durchschnittlich 9 Jahre (10). Dies mündete im Jahr 2012 in einen Konsensus zur Definition der vestibulären Migräne zwischen der Barany-Gesellschaft und der internationalen Kopfschmerzgesellschaft IHS (11).
Definition der vestibulären Migräne: ● Mindestens fünf Episoden mit vestibulären Sym-
ptomen mässiger oder starker Intensität mit einer Dauer von 5 Minuten bis 72 Stunden.
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● jetzige oder frühere Kopfschmerzen, welche die IHS-Kriterien von Migräne ohne oder mit Aura erfüllen;
● ein oder mehrere Migränesymptome während der vestibulären Symptome;
● Kopfschmerz mit mindestens zwei der folgenden Eigenschaften: Halbseitigkeit, pulsierend, mässige oder starke Intensität, Verstärkung durch gewöhnliche körperliche Aktivität;
● Foto- und Phonophobie, visuelle Aura, keine bessere Erklärung durch eine andere vestibuläre Erkrankung.
Akuter Schwindel und Kopfschmerzen Akuter Schwindel ist ein schwieriges Thema, da er Ausdruck sowohl von gutartigen als auch ernsthaften Ursachen sein kann. Lang anhaltender isolierter Schwindel kann Ausdruck einer Vestibularisneuritis sein, aber auch eines Schlaganfalls in der hinteren Schädelgrube (12). Die blosse Koexistenz von Kopfschmerz und Schwindel erlaubt nicht die Unterscheidung zwischen zentralen und peripheren Ursachen. Auffälligkeiten in der neurologischen Untersuchung, ob von langen Bahnen (wie Hemiparese) oder von Hirnnerven (Diplopie, Dysarthrie), deuten auf zentrale Ursachen hin. Schmerzen im Kopfbereich, ob als Kopf-, Nacken-, Gesichts-, Augen- oder Ohrenschmerzen, stehen, falls überhaupt vorhanden, nicht im Vordergrund bei gutartigen peripheren vestibulären Erkrankungen wie dem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel (BPPS), der Vestibularneuritis oder der Menièreschen Krankheit. Andererseits sind sie oft vorhanden während eines Anfalls von vestibulärer Migräne, aber auch häufig bei einem Schlaganfall in der hinteren Schädelgrube, deren Unterscheidung schwierig sein kann (13). Schmerzen, die schlagartig einsetzen und lange anhalten (> 72 Stunden), sind eher verdächtig auf eine vaskuläre Ursache (12), obschon Schmerzen bei Vertebralisdissektion oft gering oder intermittierend sind (14). Ohrenschmerzen oder Schmerzen im Mastoidbereich müssen auch an infektiöse, infiltrative oder kompressive Neuropathien denken lassen (wie infiltrative lokale Entzündungen des Mittelohres, karzinomatöse Meningitis oder Metastasen der Schädelbasis). Bei leichter Kohlenmonoxidvergiftung sind Benommenheit und Kopfschmerzen die häufigsten Symptome (15) und stehen ebenfalls im Vordergrund bei akuter Höhen- (16) und Reisekrankheit (17).
Schädelhirntrauma Nach einem Schädelhirntrauma ist die Kombination von Kopfschmerzen und Schwindel sehr häufig anzutreffen. Oft verlaufen diese spontan zeitlich begrenzt auf ein paar Tage. Bei persistierendem Schwindel nach leichtem Schädelhirntrauma wurde als häufigste Ursache die vestibuläre Migräne gefunden – noch vor einem gutartigen Lagerungsschwindel (18). Bei einer Schädelbasisfraktur können Innenohrverletzungen entstehen, die zur Kombination von Kopfschmerzen mit Schwindel und Hörstörungen führen.
Kopfschmerzen ausgelöst durch Schwindel Murdin et al. (19) konnten in einer Studie zeigen, dass bei 49 Prozent von Migränikern innerhalb von 24 Stunden ein Migräneanfall auftrat, wurden diese im Rahmen einer vestibulären Untersuchung rotatorisch und kalorisch gereizt. Die Frage ist, ob neben einem künstlich induzierten Schwindel auch krankheitsbedingte Schwindelanfälle einen Migräneanfall auslösen können. Systematische Studien zu diesem Thema stehen noch aus, dennoch ist anzunehmen, dass ein Menière-Anfall oder ein benigner paroxysmaler Schwindel ebenfalls einen Migräneanfall auslösen kann. Von epidemiologischen Studien ist bekannt, dass Migräne bei Patienten mit Menière oder benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel häufiger ist als erwartet. Die Ursache dieser Assoziation ist bis anhin ungeklärt (20). Es ist wichtig, diese Zusammenhänge zu kennen, um nicht leichtfertig Schwindel bei einem Migränepatienten als Migräneschwindel abzutun und dadurch alternative Ursachen nicht in Betracht zu ziehen.
Schwindel und Nacken-/Kopfschmerzen
Bei der Assoziation von Nackenschmerz und Schwindel
wird oft die umstrittene Entität des zervikalen Schwin-
dels erwogen, insbesondere von Ärzten und Therapeu-
ten mit einem besonderen Interesse an der Biomecha-
nik und Krankheiten des Nackens. Es wird dabei oft
nicht bedacht, dass es nicht die Nackenbewegung,
sondern die Kopfbewegung ist, welche den Schwindel
provoziert oder verstärkt. Als einzig etablierte Ursache
von Schwindel zervikalen Ursprungs gilt die Kompres-
sion der A. vertebralis bei Kopfdrehung mit Dreh-
schwindel, Tinnitus und einem Nystagmus mit Down-
beat und torsioneller, lateraler Komponente zur
komprimierten Arterie als Ausdruck einer Ischämie des
Innenohres, die jedoch sehr selten ist (23). Eine musku-
läre oder artikuläre (propriozeptive) Ursache von
Nackenschwindel ist umstritten und wahrscheinlich in-
existent. Obwohl vom Nacken viel propriozeptive Infor-
mation über die Bewegung und Stellung des Kopfes im
Verhältnis zum Rumpf zum Hirnstamm gelangt, konnte
in keinem experimentellen und keinem Krankheits-
modell durch eine isolierte Manipulation der Proprio-
zeption des Nackens rotatorischer Schwindel ausgelöst
werden (21). Allerdings wird angenommen, dass zervi-
kogene Benommenheit existiert (22). Im Übrigen ist
Nackenschmerz eher Konsequenz als Ursache von
Schwindel, da die Patienten zur Vermeidung schneller
Kopfbewegungen unbewusst eine Strategie anwen-
den, bei der Kopf und Rumpf en bloc bewegt werden
und dazu durch Anspannung der Nackenmuskulatur
der Kopf auf dem Rumpf versteift wird.
●
Korrespondenzadresse:
Dr. Alexandre Bisdorff
Neurologische Abteilung
Centre Hospitalier Emile Mayrisch
Esch-sur-Alzette
Luxemburg
E-Mail: alexbis@pt.lu
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Referenzen:
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