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FORTBILDUNG
Verbesserung der Adhärenz unter der Kopfwehbehandlung
Positive Nebenwirkungen und komorbiditätsbezogene Therapie
Die Migräneprophylaxe kann so geplant werden, dass Komorbiditäten mit antimigränös wirksamen Substanzen mitbehandelt werden, denn «positive Nebenwirkungen» lassen sich auch über den therapeutischen Effekt hinaus für den Patienten nutzen. Das kann die Motivation zur Adhärenz vonseiten des Patienten verbessern und die Erfolgswahrscheinlichkeit der Therapie aus verschiedenen Gründen deutlich erhöhen. Voraussetzung hierfür sind umfangreiche Informationen über den Patienten und seine medizinischen und nicht medizinischen Kontextfaktoren.
Peter S. Sandor Andreas R. Gantenbein
von Peter. S. Sandor und Andreas R. Gantenbein
Migräneprävention
D ie präventive Behandlung der Migräne hat das Ziel, die Auftretenswahrscheinlichkeit von Attacken und damit ihre Frequenz sowie ihren Schweregrad zu verringern, allenfalls auch ihr Ansprechen auf eine Akuttherapie. Das steht im Kontrast zu den akut wirksamen Migränemitteln wie beispielsweise den nicht steroidalen Antirheumatika und Triptanen, die die Auftretenswahrscheinlichkeit weiterer Attacken eher zu erhöhen scheinen, wie es sich am Phänomen des Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes zeigt. Im Gegensatz zu den Akutmedikamenten, die so oft wie nötig und so selten wie möglich genommen werden sollen, sind Prophylaktika täglich einzunehmen, damit sie einen optimalen Effekt entfalten können (1, 2).
Adhärenz Adhärenz ist definiert als Ausmass, in dem ein Patient therapeutische Vereinbarungen einhält, und wird im ärztlichen Sprachgebrauch zum Teil synonym mit dem früher häufiger verwendeten Begriff Compliance gebraucht (3). «Medicines work better if taken» (Medikamente wirken besser, wenn sie genommen werden), steht in einer mittlerweile klassischen Publikation über Adhärenz und Kopfschmerzen (Mulleners et al. 1998 [4]). Ein einfaches Therapieschema wird als wichtige Massnahme genannt, damit Patienten adhärent sind.
Krankheiten und Komorbiditäten In einer bestimmten Situation ist die Frage, welches Gesundheitsproblem im Vordergrund steht und welche Erkrankung komorbid ist, abhängig von der Fachrichtung, in deren Kontext das Problem beurteilt wird.
Zwei Erkrankungen werden als komorbid verstanden, wenn die zweite Erkrankung eine höhere Prävalenz hat bei Patienten, die unter der ersten Erkrankung leiden, und umgekehrt. Welche der beiden als erste und welche als zweite Erkrankung definiert wird, hängt oft von der Beeinträchtigung des Lebens durch eben diese Erkrankung und vom medizinischen Kontext ab, kann aber auch völlig willkürlich festgelegt werden und/ oder von der Sichtweise des behandelnden Arztes abhängen. Beispielsweise könnte bei einem Patienten, der unter Migräne, Obesitas und einer bipolaren Störung leidet – mit vergleichbarem Impact auf sein Leben –, die Gewichtung vonseiten eines Neurologen, einer Internistin und einer Psychiaterin unterschiedlich ausfallen.
Komorbiditätsgesteuerte Behandlung Die «Kopfschmerzologie» als Subspezialität der Neurologie hat den Vorteil, dass viele der therapeutisch verwendeten Substanzen aus anderen Fachrichtungen übernommen werden konnten. Oftmals zeigte sich allein aus einem Zufall heraus, dass ein bestimmtes Medikament, zum Beispiel Betablocker aus der Bluthochdruckbehandlung, auch in der Migräneprophylaxe wirksam ist. Somit ist die Indikation «Behandlung einer Migräne» bei diesen Medikamenten nicht die chronologisch erste, substanzgebundene Indikation, sondern mindestens die zweite. Daraus ergibt sich theoretisch, dass eine komorbide Krankheit, die auf ein antimigränös wirkendes Medikament ansprechen würde, gleichzeitig behandelt werden könnte. Leidet ein Migränepatient unter einer Komorbidität, ist es bei der grossen Anzahl der antimigränös wirksamen Substanzen durchaus möglich, dass für beide Leiden ein wirksames Medikament gefunden werden kann.
Negative und positive Nebenwirkungen Zusätzlich zu den definierten therapeutischen Effekten existieren sogenannte Nebenwirkungen, die keine me-
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Tabelle:
Migräneprophylaktika nach Substanzklassen und ihre Indikationen bei Komorbiditäten sowie ihre positiven Nebenwirkungen. Die klassentypischen Eigenschaften werden bei der jeweiligen Substanzklasse genannt. Zusätzliche, substanzspezifische Merkmale werden bei der individuellen Substanz genannt. Die positiven Nebenwirkungen sind nicht vollumfänglich genannt – dem behandelnden Arzt bleibt Raum für Kreativität.
Substanzklasse und Substanzen Antidepressiva Amitryptilin Duloxetin Venlafaxin Trimipramin
Betablocker Bisoprolol Metoprolol Propanolol Sartane Candesartan Telmisartan ACE-Inhibitor Lisinopril Ca-Kanal-Blocker Flunarizin
Verapamil
Metabolisch wirksame natürliche Substanzen
Coenzym Q10
Magnesium Riboflavin (B2) Antiepileptika Topiramat Valproat Gabapentin
Indikation bei Komorbiditäten
Schmerz, Depression, Angst Schlafstörungen
Schlafstörungen
Hypertonie, Angst Herzinsuffizienz Herzinsuffizienz
Hypertonie Herzinsuffizienz
Hypertonie, Herzinsuffizienz koronare Herzkrankheit
Schlafstörungen, vestibulärer Schwindel Cluster-Headache, diverse Herzerkrankungen Kombinierbar mit anderen Substanzen, da nebenwirkungsarm
Obstipation
Epilepsie Übergewicht bipolare Störung neuropathische Schmerzen, fokale Epilepsien
Mögliche positive Nebenwirkung stimmungsaufhellend
in üblicher (niedriger) Dosierung stimmungsneutral «Stress»
Untergewicht Diarrhö
«anti-ageing», kosmetische Wirkung Obstipation leichtes Übergewicht
dizinischen Wirkungen im engeren Sinne sind, aber die Befindlichkeit der Patienten signifikant beeinflussen. Für die meisten Patienten ist der Begriff Nebenwirkung negativ konnotiert und oftmals furchteinflössend. Negative Nebenwirkungen können in der Tat für einen Patienten schwer aushaltbar sein und sind nicht selten der Grund, weshalb dieser das Medikament absetzt – ungeachtet seiner ordentlichen oder sogar guten Wirksamkeit. In Abhängigkeit des medizinischen Kontexts können Nebenwirkungen aber durchaus als positiv betrachtet werden, ohne eigentliche Komorbiditäten zu therapieren. Bei unserem oben erwähnten Patienten mit Migräne, Obesitas und einer bipolaren Störung, den wir mit To-
piramat behandeln, würde die antimigränöse Wirkung in den Händen des Neurologen als wesentlicher therapeutischer Effekt angesehen werden, und die gewichtsmindernde und die stimmungsstabilisierende Wirkung wären therapeutische Effekte, um die Komorbiditäten zu behandeln. Die sedierende Nebenwirkung von Topiramat könnte bei diesem Patienten negativ sein und alltägliche Aktivitäten stören. Jedoch wäre es aber auch möglich, dass der Patient eine leichtgradige Einschlafstörung hat, die nicht schwer genug ist, um sie als eindeutig pathologisch zu betrachten, die aber trotzdem seine Lebensqualität beeinträchtigt. Eine typische Dosierung von 25-0-50 mg könnte in der Abenddosis von 50 mg ausreichend sedierend wirken, um dieses Problem zu beheben, und könnte dadurch die Lebensqualität des Patienten signifikant verbessern. Dies zusätzlich zu den oben erwähnten therapeutischen Effekten. Die gewichtsreduzierende Wirkung von Topiramat kann bei vielen Patienten eine typische positive Nebenwirkung sein. Viele Patienten würden gerne etwas Gewicht verlieren, auch wenn sie nicht unter eigentlicher Obesitas leiden, und berichten über eine verbesserte Lebensqualität, wenn das im Kontext der Migräneprophylaxe tatsächlich geschieht.
Die Wertigkeit umfangreicher Information Damit positive Nebenwirkungen überhaupt nutzbar sind, bedarf es allerdings umfangreicher Informationen über den Patienten. Um ein optimales Ergebnis zu erzielen, ist zudem ein «finetuning» der Medikation im Behandlungsverlauf notwendig. Der Patient wiederum sollte typische Wirkungen wie auch Nebenwirkungen einer Substanz kennen und sich bewusst sein, dass manche Nebenwirkungen im langfristigen Behandlungsverlauf abnehmen oder sogar verschwinden können. Unzureichende Aufklärung und unrealistische Erwartungen vonseiten des Patienten hingegen führen unweigerlich zu schlechter Adhärenz und/oder Therapieabbruch und somit zu ungünstigen Verläufen. Positive Nebenwirkungen dagegen können die Motivation und Adhärenz des Patienten deutlich verbessern (mehrere Probleme sind gleichzeitig gelöst). Leicht übergewichtige Patienten sind beispielsweise häufig bereit, potenzielle kognitive Störungen unter Topiramat in Kauf zu nehmen, wenn sich dadurch ihr Gewicht reduziert.
Die Auswahl prophylaktischer Medikamente nach Komorbidität und positiven Nebenwirkungen Im zweiten Beitrag der Autoren zur evidenzbasiereten Migränetherapie auf Seite 8 ff. sind die einzelnen präventiv verwendeten Substanzen tabellarisch aufgeführt, inklusive ihrer Dosierung und ihrer wichtigsten Nebenwirkungen. Vor diesem Hintergrund sollen in der Folge lediglich die positiven Kriterien für die Substanzwahl herausgehoben werden. Betablocker haben zusätzlich zur antimigränösen eine antihypertensive und eine anxiolytische Wirkung, können jedoch eine depressive Tendenz verstärken. Antiepileptika mit antimigränöser Wirkung können, je nach Substanz, bei komorbiden Schmerzsyndromen (z.B.
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schmerzhafte Polyneuropathien) eingesetzt werden und natürlich auch bei komorbiden Epilepsien, die im Vergleich zu komorbiden Schmerzen allerdings selten sind. ACE-(Antiotensin-Converting-Enzyme-)Inhibitoren und Sartane (Angiotensin-II-Antagonisten) haben einen antihypertensiven Effekt und können bei Patienten mit einer Reihe von Herzerkrankungen eingesetzt werden. Ausserdem existieren diverse metabolisch wirksame natürliche Substanzen wie Riboflavin, Coenzym Q10 und möglicherweise auch Magnesium, die nebenwirkungsarm sind und somit von manchen Klinikern immer dann eingesetzt werden, wenn die antimigränöse Wirkung durch eine Kombinationstherapie mit nebenwirkungsträchtigeren Substanzen maximiert werden soll. Eine Übersicht der wichtigsten positiven Nebenwirkungen und bei Komorbiditäten einsetzbaren Wirkungen sind in der Tabelle subsummiert. ●
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Peter S. Sandor
Leitender Arzt Neurologie Leiter Akutnahe Neurorehabilitation RehaClinic
Kantonsspital Baden 5404 Baden
Tel. 056-468 34 30 E-Mail: peter.sandor@ksb.ch
Dr. med. Andreas R. Gantenbein Leitender Arzt Neurologie RehaClinic Bad Zurzach
Referenzen: 1. Silberstein SD, Goadsby PJ.: Migraine: preventive treatment. Cephalalgia. 2002; 22: 491–512. Review. 2. Dodick DW, Silberstein SD.: Migraine prevention. Pract Neurol. 2007; 7: 383–93. Review. 3. Mulleners WM, Whitmarsh TE, Steiner TJ.: Noncompliance may render migraine prophylaxis useless, but once-daily regimens are better. Cephalalgia. 1998; 18: 52–6. 4. DGN Leitlinien Neurologie (http://www.dgn.org/leitlinien-online2012/inhalte-nach-kapitel/2298-ll-55-2012-therapie-der-migraene.html)
Merkpunkte:
● Adhärenz ist wichtig: Medikamente wirken besser, wenn sie auch tatsächlich eingenommen werden.
● Was Haupterkrankung ist und was Komorbidität, hängt vom Leidensdruck und der Perspektive des Betrachters ab.
● Nebenwirkungen beeinflussen die Lebensqualität des Patienten und können positiv sein.
● Anzustreben ist eine auf der Mitbehandlung von Komorbiditäten basierende, positive Nebenwirkungen nützende Therapie.
● Voraussetzung für die umfassende Therapie sind umfangreiche Informationen über Patient und Kontext.
Dieser Beitrag entstand in Anlehnung an das Buchkapitel «Optimal Management of Migraine Taking into Account Comorbidities and ‹Positive Side Effects›» von Sandor, Dodick und Schönen, publiziert im Buch Comorbidity in Migraine, 1st ed., Edited by Schoenen, Dodick, Sandor, 2011 Blackwell Publishing Ltd.
Dr. Sandor hatte in den letzten drei Jahren finanzielle Verbindungen (Beratungstätigkeiten, Honorare für Vorträge, Reisekostenübernahmen, Studienunterstützungen) mit folgenden Firmen: Allergan, Almirall, Eli Lilly, MSD, Pfizer sowie mit dem Schweizerischen Nationalfonds und der Selo Foundation. Dr. Gantenbein hat finanzielle Verbindungen mit Allergan, Almirall, Astra Zeneca, Eli Lilly, MSD, Pfizer und Sandoz.
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