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KONGRESSBERICHT
15th State of the Art Symposium MS
Personalisierte Medizin in der Behandlung der Multiplen Sklerose
Ist die personalisierte Medizin in der Behandlung der Multiplen Sklerose schon Fakt oder noch Fiktion? Das war die Ausgangsfrage für das 15. State-of-the-Art-Symposium in Luzern. Rund 200 Besucher informierten sich am Symposium über die neuesten Entwicklungen in der Erforschung und Behandlung der Multiplen Sklerose (MS).
« P ersonalised Medicine in MS – Reality or Chimaera?»: Unter diesem Begriff organisierte die Schweizerische MS-Gesellschaft zum 15. Mal das MSSymposium unter der Leitung von Prof. Ludwig Kappos, Chefarzt der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Universitätsspital Basel. «Multiple Sklerose ist eine sehr heterogen verlaufende Erkrankung», begann Prof. Bernhard Hemmer, Leiter der Neurologischen Klinik am Klinikum rechts der Isar der TU München, seinen Vortrag. Mehrheitlich lässt sich nicht voraussagen, wie sich die Krankheit entwickelt und/oder welcher Patient auf die Behandlung anspricht. Erfreulicherweise hat sich das medikamentöse Armamentarium stark erweitert, aber damit auch das Potenzial und das Spektrum von Nebenwirkungen. Notwendig wären Biomarker, so Prof. Hemmer, die prognostische Vorhersagen erlauben und die klinische Therapieantwort vorhersagen. Einige Biomarker sind bereits etabliert, andere befinden sich noch in der Erforschung. Zu den etablierten Biomarkern zählen die oligoklonalen Banden: Diese gehören zur Gruppe der Immunglobuline. Es handelt sich um Antikörper, die von Lymphozyten gegen körperfremde Substanzen gebildet werden. Oligoklonale Banden können aufgrund ihrer Grösse die Blut-Hirn-Schranke schlecht passieren. Werden sie im Liquor oder Blut nachgewiesen, ist das ein Beweis, dass sie jenseits der Blut-HirnSchranke, also im Gehirn, gebildet worden sind. Dies findet aber nur im Rahmen eines Entzündungsvorganges statt. Oligoklonale Banden sind nicht spezifisch für eine MS, allerdings hochverdächtig, weil die MS die bei Weitem häufigste chronisch entzündliche ZNS-Erkrankung ist. Neutralisierende Antikörper: Bis zu ein Drittel der MS-Patienten mit schubförmig verlaufender MS entwickelt im Therapieverlauf neutralisie-
rende Antikörper (NAB) gegen Interferon-beta. NAB, welche eine Untergruppe aller Antikörper gegen IFN-beta darstellen, reduzieren die biologische Aktivität und in der Folge die Wirksamkeit von IFN-beta, indem sie die Bindung von IFN-beta am Rezeptor blockieren. Die Biomarker sind hilfreich, so Prof. Hemmer, wenn Patienten nicht auf die Therapie ansprechen. Auch gegen Natalizumab können sich NAB bilden und zum Versagen der Therapie führen.
PML in Natalizumab: Unter der Behandlung mit Natalizumab kam es zu Fällen einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML). Der Nachweis von Anti-JCV-Antikörpern, der eine Infektion mit JCV anzeigt, lässt sich als Basis für eine individuelle Stratifizierung des PMLRisikos einsetzen. Patienten, die JCV-Antikörper aufweisen, haben ein vielfach höheres Risiko, eine PML zu entwickeln, als Patienten mit negativem Antikörperstatus. Intensiv wird nach neuen Biomarkern geforscht. Neue Testsettings müssen gut definiert und standardisiert sein, unterstrich Prof. Hemmer. In der Erforschung von neuen Biomarkern sei vor allem die Validität der Tests zentral. Bei der Neuromyelitis optica (NMO) findet sich häufig ein Antikörper am Wasserkanal Aquaporin-4. Allerdings ist nicht eindeutig geklärt, welche Rolle dieser Antikörper in der Pathologie der MS spielt. Die NMO hat in der Regel einen aggressiveren Krankheitsverlauf und scheint auf die immunmodulierenden Substanzen, die bei der MS wirksam sind, schlechter oder gar nicht anzusprechen. Die Patienten sprechen in erster Linie auf Immunsuppressiva und Rituximab an, einen monoklonalen Antikörper, der B-Zellen depletiert. Der Nachweis von AQP4-Antikörpern ist heute bereits in der Diagnosesicherung etabliert und für Therapieentscheidungen hilfreich.
In München selber forscht das Team um Prof. Hemmer zurzeit an neuen Biomarkern für die MS: Die Gruppe untersuchte Serum-IgG von Patienten mit MS, um Antikörper zu identifizieren, die an Gehirngewebe binden können. Sie identifizierten so ein Ziel der IgG-Antikörper: den ATP-sensitiven, einwärts gleichrichtenden Kaliumkanal KIR4.1, der auf Oligodendrozyten und Astrozyten exprimiert ist. Durch die Beeinträchtigung der Kanalfunktion von KIR4.1 könnten die Kaliumpufferung und die Neurotransmitter-Homöostase gestört sein. Dadurch könnten Gewebe geschädigt und die Remyelinisierung beeinträchtigt werden. Auch könnte der Antikörper gegen KIR4.1 zu einer Zerstörung von Oligodendrozyten und Astrozyten führen. KIR4.1-Antikörper könnten deshalb ein mögliches Behandlungsziel für MS-Patienten darstellen.
Die Rolle der Darmflora in der Entstehung der MS Untersuchungen weisen darauf hin, dass bestimmte Bakterien in der Darmflora schuld sein könnten, wenn es bei genetisch vorbelasteten Menschen zu einer Überreaktion des Immunsystems kommt. Als Folge der Überreaktion greife die körpereigene Abwehr das eigene Nervensystem an und löse damit die MS aus. Die Erkenntnisse erwarb das Team um Prof. Hartmut Wekerle, Direktor des Max-Planck-Institutes in Martinsried bei München, durch Experimente an transgenen Mäusen. Fast durch Zufall beobachteten die Forscher, dass sämtliche Krankheitssymptome nahezu völlig ausbleiben, wenn die Tiere in einer keimfreien Umgebung aufgezogen werden. Impften die Wissenschaftler die transgenen Mäuse nachträglich mit normalen Darmbakterien, erkrankten auch sie. Die Immunerkrankung scheint damit ihren Ausgang im Darm zu nehmen. Die Mikroorganismen aktivieren dabei zunächst die T-Zellen des Immunsystems und in einem weiteren Schritt B-Immunzellen. Beides löst Entzündungsreaktionen im Gehirn aus, die schubweise die Myelinschicht zerstören.
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KONGRESSBERICHT
15th State of the Art Symposium MS
Umwelt und MS Welchen Einfluss Umweltfaktoren auf das Risiko einer MS-Erkrankung haben, darüber sprach Dr. Alberto Ascherio von der HarvardUniversität in Boston (USA). Die Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus und niedrige VitaminD-Werte werden als wichtige Risikofaktoren für die Entwicklung einer Multiplen Sklerose diskutiert. MS ist extrem selten bei Individuen ohne Infektion mit EBV. Eine Longitudinalstudie zeigt, dass das Risiko, an einer MS zu erkranken, um das 10-Fache erhöht ist, findet die Infektion in der Kindheit statt, und um das 20Fache bei einer EBV-Infektion in der Adoleszenz. Obwohl der Krankheitsmechanismus noch immer unbekannt ist, unterstreichen die Daten die enge Beziehung zwischen einer EBV-Infektion und dem Krankheitsrisiko für MS. Ein erhöhtes MS-Risiko wird auch im Zusammenhang mit einem Vitamin-D-Mangel vermutet. Daten einer Longitudinalstudie zeigen, dass das Risiko für MS bei Frauen in der Quintile mit dem höchsten Vitamin-D-Spiegel um 30 Prozent niedriger ist im Vergleich zu Frauen mit einem niedrigen Vitamin-D-Spiegel. Anhand von Daten der BENEFIT-Studie konnten Ascherio et al. zudem zeigen, dass diejenigen Versuchspersonen, die einen höheren Gehalt von Vitamin D im Blutserum aufwiesen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine klinisch definierte MS entwickelten. Auch ein Nutzen in den MRT-Bildern und bei der Progression war zu finden – zusätzlich zu den Vorteilen, die die aktive Interferontherapie in der Studie gezeigt hatte. Ob es einen optimalen Vitamin-D-Spiegel gibt, ist Forschungsinhalt der SOLAR-Studie. Bei dieser Studie soll die Wirksamkeit von Rebif® zusammen mit einer hoch dosierten Vitamin-D-Substitution mit Vigantol® geprüft werden.
Personalisierte Medizin Zum Begriff der personalisierten Medizin sprach Prof. Vincent Mooser, CHUV Lausanne. Grundlage für die «personalisierte Medizin» ist eine medizinische Behandlung aufgrund individueller Merkmale des einzelnen Patienten. Dies umfasst neben der Generierung von Arzneimitteln oder Medizinprodukten für einzelne Patienten auch die Möglichkeit, Individuen in Subpopulationen zu identifizieren, die eine erhöhte Anfälligkeit für eine bestimmte Krankheit aufweisen, oder ihr Ansprechen auf eine spezifische Behandlung zu klassifizieren. Laut Prof. Mooser hat es in der PubMed viele Suchresultate zur personalisierten Medizin. Schaue man allerdings genau hin, dann gebe es nur eine sehr limitierte Anzahl Studien zum Begriff «genetische Biomarker». Dabei wäre es ein riesiger Fortschritt, könnte man Krankheitsrisiken anhand krankheitsverursachender Genvarianten erfassen. Denn aufgrund bestimm-
ter Charakteristika im Genom könnte dem Patienten eine optimierte Therapie angeboten werden. Der Grund liege darin, so Prof. Mooser, dass die Thematik komplex sei. Zudem ist die Entdeckung eines genetischen Biomarkers bis hin zur Marktzulassung extrem kostenintensiv. Eine Überbrückung dieses Gaps sieht er in Biobänken. Das CHUV Lausanne hat ein solches Projekt einer Biobank initiiert. Bei Spitaleintritt wird jeder Patient als «potenzielles Forschungsobjekt» angesehen. Stimmen die Patienten der Beteiligung an der Biobank zu, werden Biomaterialien (Blut, Gewebeproben) zur Erforschung und Behandlung von Genkrankheiten gesammelt und erforscht.
Therapie der MS: Evidenz anhand der aktuellen Studienlage Die therapeutischen Möglichkeiten der MS hätten sich in den letzten Jahren stark vergrössert, sagte Prof. Ludwig Kappos, Chefarzt der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Universitätsspital Basel. Zu den First-Line-Medikamenten zählen Interferon-beta 1a und 1b, Glatirameracetat und auch Fingolimod. In naher Zukunft wird sich das therapeutische Armamentarium mit BG12 und Teriflunomid, später vermutlich auch mit Laquinomod und Daclizumab erweitern. Bei den Second-Line-Medikamenten gibt es mit Natalizumab eine wirksame Behandlung, und mit Alemtuzumab und Ocrelizumab (noch in Phase III) warten weitere Produkte auf ihre Zulassung. Obwohl eine Heilung nicht möglich ist, hat sich das Krankheitsmanagement der schubförmig verlaufenden MS durch die neuen Behandlungsoptionen verbessert. Die Herausforderung liegt nun darin, die therapeutischen Interventionen auf die Bedürfnisse einzelner Patienten masszuschneidern und auf die vorhandene oder zu erwartende Krankheitsaktivität zu reagieren. Für den Praktiker wird der Therapieentscheid dadurch immer mehr zur Herausforderung. Denn es gilt, die jeweilige Risikoreduktion und die Nebenwirkungen in die Therapiestrategie miteinzubeziehen. Beispielsweise liegt bei einer Behandlung mit Natalizumab die Risikoreduktion für die Schubrate bei 65 bis 70 Prozent, die dem Risiko einer PML gegenüberzustellen ist. Bei Fingolimod wiederum liegt die Schubreduktion bei gut 50 Prozent, und es sind anhaltende Effekte auf die Atrophieprogression nachgewiesen. Demgegenüber ist der Aufwand einer engmaschigen Überwachung bei der Erstdosierung wegen möglicher Bradyarrhythmien abzuwägen. Neben der Risikostratifizierung wäre eine bessere Unterscheidung zwischen Respondern und Non-Respondern hilfreich. Zusammenfassend hielt Prof. Ludwig Kappos fest, dass grosse Fortschritte in der Therapie der MS zu verzeichnen sind. Die Behandlung
als personalisiert zu beschreiben, wäre allerdings verfrüht. Denn für eine Personalisierung braucht es die Daten aus weiteren prospektiven Beobachtungsstudien, um klare Patientenprofile für die Behandlung erstellen zu können.
Aus den Workshops
«Improving Mobility with Technical Devices: Pro-
mise and Reality» war Inhalt des Workshops von
Dr. Serafin Beer, Klinik Valens, und Dr. Claude
Vaney, Klinik Montana. Verschiedene neurolo-
gische Systeme sind am Gang beteiligt. Unsi-
cherheiten im Gangbild sind mit hoher Sturz-
gefahr assoziiert, sie lassen sich indes im
Rahmen einer Rehabilitation schulen.
Im Workshop wurden Vor- und Nachteile und
Unterschiede einer Rehabilitation zu einer her-
kömmlichen Gangschulung, das heisst Physio-
therapie, und zum Lokomaten verglichen.
Dabei zeigt sich, dass sich Ausdauer und Geh-
geschwindigkeit des Patienten unter einem
reinen Gangtraining in höherem Ausmass ver-
bessern lassen.
Obwohl sich das Wohlbefinden in beiden Re-
habilitationsformen positiv verändert, gehen
Symptome einer Fatigue unter der Rehabilita-
tion mit dem Lokomaten tendenziell stärker
zurück. Zudem findet der Patient durch das
Gehen in der aufgehobenen Schwerkraft eher
in ein physiologisches Gangbild zurück. Als
Cut-off-Point für die jeweilige Behandlung
sieht Dr. Claude Vaney die Laufdistanz von 10
m. Schafft der Patient diese Strecke innerhalb
von 16 Sekunden, empfiehlt sich eher eine
Behandlung mit Physiotherapie als mit dem
Lokomaten.
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Annegret Czernotta
Quelle: 15th State of the Art Symposium of the Swiss Multiple sclerosis Society, «Personalized Medicine in MS – Reality or Chimaera?», 26.1.2013, KKL Luzern.
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