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FORTBILDUNG
Beziehungsmanagement und Patientenautonomie reduzieren Zwangsmassnahmen
1/2013
Prof. Undine Lang ist Ordinaria für Erwachsenenpsychiatrie an der Universität Basel und Chefärztin der Erwachsenen-Psychiatrischen Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Seit Jahren arbeitet sie an der Entwicklung von psychotherapeutischen Strategien im Akutbereich und an der verstärkten Autonomie von Psychiatriepatienten. Im Interview weist sie darauf hin, dass offene Türen für Psychiatriepatienten ein wichtiger Schritt zur Entstigmatisierung und zur Teilnahme am Leben auf Augenhöhe sind.
Psychiatrie & Neurologie: Wie offen sollten die Türen der Psychiatrie sein? Prof. Undine Lang: Dass Stationen immer geöffnet sind, wird aus meiner Sicht nicht machbar sein, da es in Einzelfällen keine andere Möglichkeit geben kann, als die Türen zu schliessen, wie etwa bei fremdgefährdenden und gar nicht absprachebereiten, beispielsweise intoxikierten Patienten, die determiniert sind, sodass sie in keiner Behandlung verbleiben wollen. Das Ziel sind fakultativ geschlossene Stationen, die nicht 90 Prozent der Zeit geschlossen sind, sondern 90 Prozent der Zeit geöffnet! In einer Untersuchung in Norwegen zeigte sich, dass ein Grossteil der geschlossenen Stationen entweder gar keinen oder nur einen kleinen Teil gesetzlich untergebrachter Patienten beherbergte. Es gibt hier immer noch zu wenige Studien, um eine belastbare Aussage zu treffen. Letztlich kann eine verantwortliche Öffnung von Türen nur bei einem verbesserten therapeutischen Angebot erfolgen, um die Patienten über ein Beziehungsangebot und das Erleben von Wertschätzung in der Behandlung zu halten. Hier liegt der erforderliche Prozess darin, dass ein Team sich selbst und seine Haltung zu den Patienten reflektiert und dadurch den Alltag geschlossener Stationen verbessert. Diese Prozesse, sozusagen als Vorbereitung auf eine Türöffnung, untersuchen wir gerade in unserer Klinik.
Entsprechen offene Türen nicht eher einem Laisserfaire? Undine Lang: Auf keinen Fall. Es geht nicht darum, Eigengefährdung oder Fremdgefährdung zu ignorieren oder vermehrte Risiken einzugehen. Im Gegenteil: Eine Türöffnung setzt ein genaues Assessment der Patienten voraus, ferner ein intensiviertes Beziehungsangebot, eine Zuhausebehandlung, eine wertschätzende, ressourcenorientierte, empathische Haltung, einen verbesserten Beziehungsaufbau und eine Implementierung von Sitzwachen statt Isolation. In Studien zeigt sich, dass eine Fürsorgerische Unterbringung (FU) per
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se keine Türschliessung bedingt, da die meisten Patienten, wenn sie einbezogen statt bevormundet werden, überhaupt keinen Grund haben, die Station oder die Behandlung zu verlassen. 58 Prozent der Patienten verlassen die Station aber gerade deshalb, weil sie geschlossen ist. Ein Grossteil der Abgänge ereignet sich im geplanten Ausgang, wenn kein Beziehungsangebot und kein Commitment der Patienten erzeugt werden konnte. Weggänge von Patienten aus der Behandlung genauso wie Zwangsmassnahmen zeugen aus meiner Sicht von einer gewissen Schwäche der Psychiatrie. Die Zahlen für ihre Häufigkeit schwanken zwischen 20 und 60 Prozent der betroffenen Patienten, meist ereignen sich Entweichungen im geplanten Ausgang. Isolationsraten schwanken stationsabhängig zwischen 0 und 88 Prozent der Patienten.
Wie sieht die Behandlung im internationalen Vergleich aus? Kann es sein, dass die geschlossene Tür eher traditionell bedingt ist? Undine Lang: Es gibt keinerlei Evidenzbasierung der Zwangsbehandlung. Mehrere Reviews kommen zum
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Schluss, dass es keinerlei randomisierte, kontrollierte Studien zur psychiatrischen Praxis der Zwangsmassnahmen gibt. Entsprechend gibt es riesige Schwankungen zwischen Ländern und auch einzelnen Krankenhäusern; in manchen Ländern werden die meisten FU-Patienten auf offenen Stationen aufgenommen beziehungsweise auch annähernd alle freiwillig eintretenden Patienten; in anderen Ländern verhält es sich genau umgekehrt.
Was sind Ihrer Meinung nach die Probleme von geschlossenen Türen? Undine Lang: Der Alltag wird von Regeln und Sicherheit dominiert, die aber häufig nur eine Pseudosicherheit darstellen, weil Patienten nicht mehr über ihre Suizidalität berichten, sich zurückziehen, nie wieder eine Psychiatrie betreten wollen, sich gegen ärztlichen Rat entlassen lassen und so weiter. Das Problem ist meiner Ansicht nach die fehlende Beziehung zum Patienten, die durch geschlossene Türen ersetzt wird. Es ist mühsamer, mit den wenigen Patienten, die in der Erwachsenenpsychiatrie keinen Ausgang haben – im Schnitt sind es zwischen 1 und 3 Patienten einer geschlossenen Station –, einen Kontakt zu halten, eine Eins-zueins-Betreuung zu ermöglichen oder diese zu überwachen. Deshalb werden Türschliessungen oft als ein Ergebnis eines Personalmangels gesehen.
Inwiefern ändert sich die Suizidalität bei offenen respektive geschlossenen Türen? Undine Lang: Teilweise konnten Korrelationen zwischen Gewaltereignissen und Suizidversuchen und den Stunden, in denen eine Stationstür geschlossen war, hergestellt werden. Geschlossene Türen beheben per se Suizidalität nicht, man kann aus Beobachtungen schliessen, dass sich das Suizidrisiko etwa in der Untersuchungshaft verzehnfacht. Eine Eins-zu-eins-Betreuung ist wesentlich sicherer als das Einsperren, da 75 Prozent der Suizide auf geschlossenen Stationen durch Erhängen erfolgen, und diese Suizidmethode wird durch geschlossene Türen nicht verhindert, durch Sitzwachen jedoch sehr wohl. Es gibt viele Arbeiten, die zeigen, dass die Stationsatmosphäre, die Patientenzufriedenheit und das Outcome, was Patientenselbstständigkeit und Compliance angeht, auf geschlossenen Stationen deutlich ungünstiger ist. In unserer eigenen Erhebung fanden wir weniger Entweichungen, weniger Zwangsmedikationen und weniger Gewaltereignisse im offenen Zeitraum. Die Patienten kamen im offenen Zeitraum auch nicht so schnell wieder in die Psychiatrie zurück, und mehr Patienten verblieben freiwillig in Behandlung. Ausserdem zeichnete sich die Tendenz ab, dass sie länger im ambulanten Angebot blieben. Hierbei handelte es sich aber letztlich nur um eine Pilotstudie.
Im September 2011 entkam ein Mann über einen Sicherheitszaun, und im vergangenen März konnte ein Mann aus der geschlossenen Abteilung entweichen, nachdem er einer Praktikantin die Schlüssel entrissen hatte. Könnte es sein, dass diese Fälle bei offenen Türen nicht eher zunehmen? Undine Lang: Die Fälle, auf die Sie sich beziehen, sind in der Forensisch-Psychiatrischen Klinik der UPK Basel
erfolgt und nicht in der Erwachsenen-Psychiatrischen Klinik. Ich denke, dass forensische Patienten, die ja bereits straffällig waren und verurteilt wurden, mit allgemeinpsychiatrischen Patienten der Erwachsenenpsychiatrie, die in der Regel niemandem etwas zuleide getan haben, nicht verglichen werden können und sollten. Allgemeinpsychiatrische Patienten dürfen laut Gesetz in der Schweiz mittels einer Fürsorgerischen Unterbringung, die im Kanton Basel-Stadt vom Kantonsarzt verfügt wird, meist nicht länger als sechs Wochen zurückgehalten werden; forensische Patienten müssen häufig über Jahre auch zum Schutz der Bevölkerung behandelt werden. In der forensischen Psychiatrie gelten andere Auflagen, Erfordernisse und Risiken. Wir können ja auch nicht Sicherheitsnormen von Gefängnissen mit denen von Altersheimen oder Allgemeinkrankenhäusern vergleichen.
Wie stehen Sie zur Zwangsbehandlung? Darf es diese geben? Undine Lang: Wenn Patienten durch ihre Erkrankung nicht mehr autonom leben können, müssen wir sie auch gegen ihren Willen behandeln, das ist unsere Aufgabe. Ich denke aber, dass man Zwangsbehandlungen massiv reduzieren kann. Es geht darum, die Patienten so gut wie möglich von einer freiwilligen Medikamenteneinnahme zu überzeugen. Diese Überzeugungskraft muss man fördern und diese Strategien in die Behandlung stärker implementieren. Psychotherapieforschung macht oft einen Bogen um die Akutpatienten, das könnte man ändern. Es gibt eine riesige Anzahl von Studien, die zeigen, dass teilweise nur ein einzelner mehrstündiger Psychotherapieworkshop eines psychiatrischen Teams Zwangsmassnahmen signifikant verringert. Hier haben wir grosse Verbesserungspotenziale, die bisher zu wenig genutzt werden. Allein während meiner Tätigkeit in Basel haben sich die Isolationen auf ein Viertel reduziert, das habe ich einem tollen Team dort zu verdanken, das seine Haltung deutlich verändert hat, und sicher keinem neuen Patientenklientel.
Wie sollte die Therapie denn erfolgen? Innerhalb getrennter Disziplinen oder gemeinsam? Undine Lang: Die Psychotherapie sollte auf allen Stationen einen spürbaren Anteil haben. Es sollten für alle Diagnosegruppen leitlinienbasierte Psychotherapieverfahren stattfinden, insbesondere gruppentherapeutische Angebote. Es ist aus meiner Sicht sinnvoll, wenn jeweilige Experten Patienten behandeln und nicht alle Diagnosegruppen auf einer Station gemischt werden, wie es auf geschlossenen Stationen in der Regel erfolgt. Das heisst aber umgekehrt, dass die Experten ihre Patienten in allen Stadien der Erkrankung behandeln sollten und keine Selektion treffen, wer auf ihre Station passt oder nicht. Dieses Vorgehen führt nämlich zwangsläufig zu einer schlechteren Versorgung der Patienten, «die nicht ins Konzept passen», und das ist meist dann der grössere Anteil. Der Versorgungsforscher Tilman Steinert von der Universität Ulm hat 2011 eine Erhebung publiziert, die zeigt, dass sich durch das Vermeiden der Aufnahme von Borderlinepatienten auf die geschlossene Akutstation und die Behandlung auf
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einer offenen Kriseninterventionsstation mit einem Expertenteam nicht nur die Zwangsmassnahmen auf ein Fünftel reduzieren liessen, sondern auch die Selbstschädigung und Gewaltereignisse bei den betroffenen Patienten zurückgingen.
Wie sieht es in Bezug auf die Gerontopsychiatrie aus? Undine Lang: Die Gerontopsychiatrie ist sicher ein Spezialfall. Die Altersgrenze von 65 Jahren fällt meiner Ansicht nach etwas willkürlich aus. Viele ältere Menschen werden gerne gemeinsam mit jüngeren Menschen behandelt und umgekehrt. Unsere Privatklinik etwa ist altersübergreifend. Es wird allgemein in der Gerontopsychiatrie zu sehr auf Medikamente und zu wenig auf Psychotherapie gesetzt. Bei schwerer dementen Patienten kann eine Türöffnung nicht realisierbar sein, sie sind teilweise hilflos, wissen nicht, wo sie sich befinden und können sich verlaufen, was fatale Folgen haben kann. Bei Demenz liegen Potenziale möglicherweise in der Frühintervention und in dem möglichst langen Aufrechterhalten einer Selbstständigkeit um jeden Preis.
Was braucht es, um die Patientenautonomie zu fördern? Was müsste sich beispielsweise hinsichtlich der Ausbildung von Fachärzten ändern, braucht es andere Organisationsstrukturen oder neue bauliche Massnahmen? Undine Lang: Die Patientenautonomie kann nur gefördert werden, wenn die Behandler anfangen, diese vermehrt zu thematisieren. Hier haben andere medizinische Disziplinen die Psychiatrie teilweise ein wenig
überholt. Shared-Decision-Making, Patientenverfügungen, Aufklärung von Patienten, Patientensprecher, Trialogveranstaltungen und Recovery-Konzepte tragen dazu bei und entwickeln sich stetig.
Was ist für Sie die Herausforderung für die Psychiatrie der Zukunft? Undine Lang: Eine grosse Herausforderung stellt die aus meiner Sicht in der Patientenversorgung immer grösser werdende qualitative Kluft zwischen der Versorgung schwer und leicht kranker Patienten dar. Schwer kranke Patienten müssen weiterhin mit wenig Innovationen auf geschlossenen Stationen auskommen. Demgegenüber steht das stetig wachsende und verbesserte psychotherapeutische Angebot für leicht kranke Patienten, die durch ihren Therapiewunsch, ihr spontanes Commitment, ihre Offenheit auch für Studien und so weiter, sehr viele Ressourcen, bessere Therapien und verstärktes therapeutisches Interesse erhalten. ●
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Undine Lang Ordinaria für Erwachsenenpsychiatrie
Universität Basel Chefärztin der Erwachsenen-Psychiatrischen Klinik
der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Wilhelm-Klein-Strasse 27 4012 Basel
E-Mail: Undine.Lang@upkbs.ch
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