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SIG: PAIN, MIND AND MOVEMENT IV
Übergebrauch, Schonung und Fehlgebrauch von Medikamenten
Chronische Schmerzen bedürfen einer vielseitigen Behandlung. Welche Fallstricke in der medikamentösen Behandlung chronischer Schmerzen lauern, darüber berichteten die Genfer Pharmakologin Dr. Valérie Piguet und Dr. Sven Brockmüller, Psychiater am Paraplegikerzentrum Nottwil.
5/2012
Opioide bei chronischen Schmerzpatienten
D ie Angst vor Abhängigkeit ist bei der Behandlung mit Opioiden auf ärztlicher Seite immer noch gross. Opioide werden zur Schmerzlinderung bei den unterschiedlichen Schmerzsyndromen eingesetzt. Der Begriff Opioide umfasst natürliche Wirkstoffe, wie Morphin, und synthetisch beziehungsweise halbsynthetisch hergestellte Derivate, die das Wirkspektrum von Morphin besitzen. Opioide entfalten ihre Wirkung über Rezeptoren, Veränderungen des Opioidrezeptors können dessen Funktion und damit die Opioidwirkung beeinflussen. Der µ-Opioidrezeptor (MOR) ist der Hauptangriffspunkt für klinisch verwendete Opioide wie Morphin, Fentanyl, Heroin und Methadon. In der klinischen Schmerztherapie mit Morphin und anderen Opioiden werden grosse individuelle Unterschiede bei der analgetischen Wirkung und den Nebenwirkungen beobachtet. Als mögliche Ursache wird neben pharmakokinetischen Faktoren die genetische Variabilität des Opioidrezeptors diskutiert. So wurden innerhalb des hMOR-Gens eine Reihe von SNP (Single Nucleotid Polymorphisms) identifiziert. Diese könnten interindividuelle Unterschiede in der Opioidwirkung erklären. Beispielsweise kann dadurch eine stark reduzierte Entgiftungsfunktion vorliegen (Poor Metabolizer), oder es wird sogar kein Wirkspiegel aufgebaut (Ultra-Rapid Metabolizer). Die Ursache hierfür ist ein Polymorphismus im P-450-Enzymsystem. Opioide wie beispielsweise das Codein liegen nur als Prodrug vor. Erst durch die Metabolisierung durch das Enzym CYP2D6 wird es pharmakologisch aktiv. Bei Poor Metabolizers wirkt es deutlich geringer oder sogar gar nicht. Bei den Fast Metabolizers hingegen wirkt es verstärkt. «Das Abhängigkeitspotenzial bei Fast Metabolizers ist deutlich erhöht», sagte Valérie Piguet, Fachärztin für Pharmakologie und Toxikologie, HUG Genf. Aufschluss über den Stoffwechseltyp geben heute Biochips, wobei laut Valérie Piguet die Evidenz für eine routinemässige Genotypisierung fehlt. Genauso entscheidend sind deshalb die Angaben des Patienten oder von Angehörigen über die Schmerzlinderung und unerwünschte Nebenwirkungen der Therapie. Aufschlussreich sei zudem ein Urintest zum Nachweis von Opioden.
Pregabalin bei Schmerzpatienten Dr. Sven Brockmüller, Oberarzt Psychiatrie im Zentrum für Schmerzmedizin am Paraplegikerzentrum Nottwil, setzte sich in seinem Vortrag mit dem Missbrauchsri-
siko und dem Abhängigkeitspotenzial von Pregabalin (Lyrica®) auseinander. Pregabalin ist zugelassen zur Behandlung von peripheren und zentralen neuropathischen Schmerzen, als Zusatztherapie bei Epilepsiepatienten nach Versagen anderer Antiepileptika und bei generalisierten Angststörungen. Der Wirkstoff Pregabalin ist ein Analogon der Gamma-Aminobuttersäure (GABA), er bindet an eine Untereinheit spannungsabhängiger Kalziumkanäle im Zentralnervensystem und moduliert die Freisetzung verschiedener exzitatorischer Neurotransmitter. Benommenheit und Schläfrigkeit sind die häufigsten unerwünschten Arzneimittelwirkungen von Pregabalin. Diskutiert wurde mehrfach das Abhängigkeitspotenzial von Pregabalin. Bekannt wurde der Fall eines Patienten mit Heroinabhängigkeit in der Vorgeschichte. Pregabalin wurde ihm von einem Freund wegen der euphorisierenden Wirkungen empfohlen. Neben Pregabalin (bis zu 7500 mg pro Tag) konsumierte er Cannabis und Alkohol. Bei einem selbst durchgeführten Entzugsversuch kam es zu ausgeprägten vegetativen Symptomen, ein stationärer Entzug schlug fehl. Ein weiterer Fall: Eine Frau in den Dreissigern begab sich freiwillig in eine Entzugsklinik. Sie nahm aufgrund einer generalisierten Angststörung und einer Insomnie seit zwei Jahren Zoplicon 7,5 mg und Pregabalin (600 mg) ein. Beide Medikamente wurden stufenweise reduziert; Pregabalin bis auf 50 mg/täglich. Als sich die Symptome von Angst verstärkten, wurde die Dosis von Pregabalin auf 150 mg/täglich erhöht und in der Folge wieder stufenweise reduziert, bis die Einnahme von Pregabalin schliesslich sistiert werden konnte. In den USA wird das Abususpotenzial mit dem eines Antitussivums oder eines Laxans gleichgesetzt. In der Schweizer Fachinformation ist festgehalten, dass es langsam abgesetzt werden muss, da sonst Entzugserscheinungen möglich sind. «Heute wird speziell in der Patientenvorgeschichte genau analysiert, ob ein Substanzabusus vorgelegen hat», so Sven Brockmüller am Kongress. Zusammenfassend hielt er fest, dass das Abhängigkeitspotenzial von Pregabalin wahrscheinlich niedrig ist, dass jedoch aufgrund der bisherigen Vorfälle insbesondere in der Vorgeschichte nach einem früheren Substanzmissbrauch gesucht werden muss. Der genaue Mechanismus, der die Abhängigkeit von Pregabalin auslösen kann, ist nicht bekannt. Bei Schmerzpatienten liegen bis anhin keine validen Daten vor, die einen Missbrauch belegen. ●
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
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