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SIG: PAIN, MIND AND MOVEMENT IV
Übergebrauch, Schonung und Fehlgebrauch in der Rehabilitation
Pain – Mind – Movement IV: Offizielles Satellitensymposium des XIV. Welt-Schmerzkongresses in Mailand und der Jahrestagung der Schweizerischen Schmerzgesellschaft, 23. bis 25. August 2012, Nottwil.
Die Special Interest Group «Pain and Movement» der IASP (International Association for the Study of Pain) veranstaltete gemeinsam mit der Schweizerischen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (SGSS) ein dreitägiges Symposium in Nottwil. Rund 200 Schmerzspezialisten, Neurologen, Psychiater, Psychologen und fachverwandte Berufsgruppen besuchten den dreitägigen Kongress. Das übergeordnete Thema hiess «Übergebrauch, Schonung und Fehlgebrauch». Diese Aspekte spielen sowohl in der medikamentösen Behandlung als auch in der körperlichen Aktivität und der Verhaltensmedizin eine Rolle. Schmerz wurde in dieser interdisziplinär organisierten Tagung als fachübergreifendes Thema breit diskutiert. Der Kongress Pain – Mind – Movement ist ein offizielles Satellitensymposium des 14. WeltSchmerzkongresses in Mailand.
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Die Rehabilitation bei chronischen Schmerzpatienten erfolgt heute in Rehabilitationszentren mit interdisziplinären Kooperationsstrukturen in Diagnostik und Behandlung. Ziel ist es, die Patienten schnellstmöglich in den Arbeitsprozess zu reintegrieren. Aber sind multidisziplinäre Programme anderen aktiven Behandlungsprogrammen immer überlegen? Das wurde am Symposium intensiv diskutiert.
Aktivität in einem arbeitsorientierten Rehabilitationsprogramm
R ückenschmerz und damit einhergehende Arbeitsunfähigkeit ist kein Phänomen der europäischen Welt, sondern tritt in der Welt gleichmässig häufig auf. «Die Probleme, die zu Rückenschmerzen führen, sind weltweit die gleichen», sagte Margaret Nordin, Forscherin am Occupational and Industrial Orthopedic Center (OIOC) der New York University, USA, am Auftaktsymposium. «Die Betroffenen sitzen falsch, heben falsch, egal, ob sie Carchauffeur sind oder Krankenschwester.» Das OIOC hat sich unter anderem auf die Rehabilitation bei lumbalen Rückenschmerzen spezialisiert. Ziel des Zentrums ist insbesondere die gute Patientenschulung als Teil des Patient-Empowerments. Notwendig waren dementsprechend Evaluationen am Arbeitsplatz. Ein Vorgehen, das sich laut Nordin zu Beginn nicht ganz so einfach umsetzen liess, weil die Arbeitgeber die Zusammenarbeit zu Beginn abblockten. In der Abklärung und für den weiteren Krankheitsverlauf bedeutsam sind zudem die Red, Yellow wie auch Blue Flags (Kasten 1–3), wie Nordin erklärte. Letztere erlangten insbesondere in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung, weil die Zufriedenheit am Arbeitsplatz und Faktoren, die sie beeinflussen, in der heutigen Arbeitswelt an Einfluss gewinnen. Die Arbeit am OIOC erfolgt interdisziplinär. Zeigen sich beim Re-Assessment therapeutisch keine Fortschritte, werden die Behandlung überprüft und weitere Fachdisziplinen hinzugezogen. «Ein Team braucht eine Mission und eine Vision», ist sich Nordin sicher. Deshalb ist eine wichtige Grundvoraussetzung für Teamwork, dass die Disziplinen miteinander kommunizieren, die Fertigkeiten der anderen anerkennen und respektieren sowie die Zusammenarbeit eine allgemein akzeptierte Stossrichtung hat.
Die Rolle der KBT in einem interdisziplinären Rehabilitationsprogramm Über die Rolle der kognitiven Verhaltenstherapie (KBT) in einer interdisziplinären Rehabilitation sprach Dr. Ro-
Die Gunst der Stunde nutzte das Zentrum für Schmerzmedizin am Schweizer Paraplegiker-Zentrum und organisierte erstmals den Welt-Schmerzkongress. Die Teilnehmer dankten es mit gut besuchten Vortragsälen.
berto Brioschi, Psychologe und Leiter des Schmerzzentrums an der RehaClinic Zurzach. Roberto Brioschi setzt therapeutisch sogenannte «Funny Things» (Humorobjekte) ein. Beispielsweise nimmt er einen grünen kleinen Kubus, fragt beim Patienten nach, was er sieht, und der Kubus wird, wenn man ihn dreht, zur grünen Maus. «Mit den Humorobjekten können wir in der Therapie zeigen, dass sich der Schmerz, so wie der Kubus, beeinflussen und verändern lässt», sagte Brioschi. Und weiter: «Es kommt auf die Perspektive an, die der Patient einnimmt.» Schmerz ist per Definition ein sensorisches, aber auch ein emotionales Erlebnis. Mit der kognitiven Kontrolle lässt sich die Schmerzwahrnehmung und -intensität modifizieren. Allerdings sind Schmerzpatienten keine homogene Gruppe. Deshalb eignen sich unterschiedliche Behandlungsformen für unterschiedliche Subgruppen von Patienten. Welche Therapie die richtige zum richtigen Zeitpunkt ist, soll eine randomisierte Studie zeigen, die derzeit an der RehaClinic Zurzach läuft.
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Der Psychologe Dr. Roberto Brioschi, Leiter des Schmerzzentrums an der RehaClinic Zurzach, in seinem Element. Er erklärte die kognitive Verhaltenstherapie anhand verschiedener Humorobjekte. Im Bild: Roberto Brioschi und eine Teilnehmerin ziehen am Theraband. Die Teilnehmerin soll loslassen. Die Erklärung dazu: Man kann Vertrauen haben und loslassen, der Entschluss dazu liegt in der eigenen Hand. Auch der Umgang mit Schmerz ist persönlich – es kommt immer auf die Perspektive an, die jemand dazu einnimmt.
Evidenz 2012
Wie die Evidenz von therapeutischen Massnahmen in
der Rehabilitation bei lumbalen Rückenschmerzen ist,
untersuchte Dr. Stéphane Genevay vom HUG Genf. Sie-
ben systematische Reviews bezog der Rheumatologe
in die Auswertung mit ein. Doch bereits bei diesen war
die inhaltliche und strukturelle Diversität erheblich. Die
Studien unterschieden sich nicht nur hinsichtlich des
Schmerzmanagements, sondern auch in Bezug auf die
soziale Unterstützung, die physiotherapeutische Be-
handlung und so weiter. Nirgends, so Genevay, war ein
Vergleich derselben Methoden möglich. Sogar im mul-
tidisziplinären Setting zeigte sich kein Konsens. Sté-
phane Genevay hinterfragte letztlich, ob die Interven-
tion überhaupt auf die therapeutischen Ziele des
Patienten abgestimmt ist und dafür die richtigen Ziel-
parameter in der Analyse herangezogen werden. An-
hand der Analysen, so Stéphane Genevay, besteht zu-
mindest keine Evidenz, dass ein multidisziplinäres
Programm anderen aktiven Behandlungsprogrammen
überlegen ist.
●
Kasten 1:
Red Flags (Alarmierende Symptome)
Alter < 20 oder > 55
● Kürzliches schwereres Trauma ● Konstanter, progressiver, nicht mechani-
scher Schmerz ● Thoraxschmerz ● Osteoporose ● Länger dauernde systemische Steroid-
einnahme ● Immunsuppression, Drogenabusus, HIV ● Fieber, schlechter Allgemeinzustand und
systemisches Unwohlsein ● Anamnese einer Tumorerkrankung ● Ungewollter Gewichtsverlust ● Persistierender Verlust der lumbalen
Flexionsbeweglichkeit ● Neurologische Grunderkrankung ● Strukturdefizite, Anomalien
Kasten 2:
Yellow Flags (Risikofaktoren für Chronifizierung)
● Rezidivierende Schmerzepisoden ● Dekonditionierte/dysbalante Rumpfmus-
kulatur ● Psychosoziale Faktoren (Angst, Depression,
Selbstüberforderung, Selbstwertdefizite, Ablenkungsstrategien) ● Arbeitsplatzsituation (Unzufriedenheit, Verlust, Rentenbegehren, Mobbing)
Kasten 3:
Blue Flags (den Arbeitsplatz betreffend)
● Körperlich schwere Arbeit ● Geringes Vertrauen, die Arbeit wieder auf-
nehmen zu können ● Berufliche Unzufriedenheit ● Überforderung ● Geringe Unterstützung von oder gestörtes
Verhältnis zu Kollegen und Arbeitgebern ● Schlechte Arbeitsbedingungen für die Ge-
sundheit
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