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SIG: PAIN, MIND AND MOVEMENT IV
Neue Behandlungsoptionen bei muskuloskeletalen Schmerzen
Etwa jeder vierte Mensch leidet in seinem Leben unter chronischen muskuloskeletalen Schmerzen. Trotz weitreichender Kenntnisse bezüglich Inzidenz oder psychologischer Korrelate sind die Behandlungsansätze chronischer Schmerzen oft unspezifisch und nur bedingt erfolgreich. Welche neuen Behandlungsformen möglich sind, diskutierten drei internationale Expertinnen an diesem Symposium.
« M it dem Patienten zu reden, ist ein essenzielles Beziehungs- und Behandlungselement bei chronischen Schmerzpatienten, und jeder Mediziner bestätigt die Bedeutung des Patientengesprächs», sagte Prof. Tamara Pincus, Psychologin am Royal Halloway, Universität London, UK. «Aber wissen wir, welche Elemente ein solches Gespräch enthalten muss, damit es den Patienten entlastet, informiert oder einfach bestätigt?» Die Antwort lautet nach Aussage von Pincus schlicht und einfach: Nein! Studien, beispielsweise von Gulbrandse (2010), zeigen, dass speziell Hausärzte Schwierigkeiten in der Kommunikation mit Patienten haben, die sich über unspezifische Schmerzen beklagen. Sagt man als Arzt beispielsweise: «Oh, Sie Arme, das ist schlimm», führt das zur Katastrophisierung, erklärte Pincus. Denn was der Patient eigentlich hören will, sei, dass es keiner weiteren Abklärungen bedarf, weil die Pathologie einfach zu erfassen ist. Aber das trifft bei muskuloskeletalen Schmerzen (msS) leider nicht immer zu. Wie also, so Pincus’rhetorische Frage, kann man auf ärztlicher Seite eine vollständige Erklärung abgeben, wenn es keine gibt und die Prognose ebenfalls unklar ist? Um evidenzbasierte Angaben zur Gesprächsführung zu finden, gingen Pincus et al. auf Literatursuche. Das Team identifizierte prospektive Beobachtungsstudien, die sich insbesondere mit hausärztlichen Konsultationen beschäftigten. Die Ergebnisse aus der Literatursuche kombinierten sie anschliessend mit theoretischen und systemischen Reviews, um ein Gesprächsmodell entwickeln zu können. Insgesamt bearbeitete das Team 8193 Abstracts und selektierte Inhalte aus 31 empirischen Studien und 64 Reviews. Die Auswertung ergab, dass die besten Behandlungsergebnisse dann erzielt wurden, wenn die Erwartungen des Patienten miteinbezogen wurden und der Hausarzt einen positiven Zugang zum Patienten hatte.
Affektive und kognitive Gesprächsführung Aus den Ergebnissen entwickelten Pincus et al. zwei verschiedene Modelle, die hilfreich und unterstützend wirken in der Kommunikation mit Patienten: eine affek-
tive und eine kognitive Gesprächsführung. Die affektive Gesprächsführung soll helfen, die Ängste des Patienten besser kennenzulernen, und soll ein Vertrauensverhältnis über Empathie schaffen. Dazu gehören beispielsweise Rückbestätigungen wie: ● Ich kann sehen, dass es Ihnen schlecht geht. ● Ich höre Ihnen zu. ● Ich verstehe Sie. ● Sie können mir glauben. ● Ich weiss, worüber ich spreche. ● Es wird alles gut. Dem sollten sich in der Folge kognitive Techniken in der Gesprächsführung anschliessen, die Patientenedukation und -empowerment ermöglichen. Denn alleinige Empathie, so Pincus, sei kontraproduktiv: «Wer sich geliebt und verstanden fühlt, hört auf, zuzuhören, weil die Angst verschwunden ist.» Deshalb sei es wichtig, den Patienten einzubeziehen. Zu den kognitiven Techniken in der Gesprächsführung zählen Sätze wie: ● Ich gebe Ihnen eine Erklärung, die zu Ihrer Beschrei-
bung passt. ● Ich sage Ihnen nun, was ich denke, was am besten
zu tun wäre. ● Das wird wahrscheinlich in Zukunft passieren. ● Ich sage Ihnen, was Sie tun können. Die Sätze müssen allerdings eindeutig formuliert sein. Abschliessend sagte Pincus, dass die Evidenz dieser Gesprächstechniken limitiert sei und es weiterer Studien bedürfe, die sich damit auseinandersetzen, welche Gesprächstechnik sich am besten eignet, um den Patienten über die Ätiologie, Behandlung und Prognose seiner Krankheit aufzuklären. Für die klinische Arbeit liessen sich vielleicht sogar kleine Ratgeber für Ärzte erstellen, die im praktischen Alltag weiterhelfen.
Bewegung als Migräneprophylaxe Geschätzte 1 Million Menschen leiden in der Schweiz unter Migräne. Frauen sind häufiger betroffen als Männer (18 versus 6%). Die Physiotherapeutin Dr. Emma Varkey von der Gothenburg-Universität in Schweden untersuchte im Rahmen einer randomisierten, kontrollierten Studie (1)
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die Wirksamkeit von Bewegung (3 x 40 Minuten Spinning/Woche), Entspannung (nach einem vorgegebenen Programm) und Medikation (Topiramat 200 mg/täglich) über einen Zeitraum von drei Monaten zur Migräneprophylaxe. Primärer Endpunkt war die durchschnittliche Reduktion von Migräneanfällen während des letzten Studienmonates. Randomisiert wurden insgesamt 91 Patienten. Die Auswertung zeigt, dass Bewegung ebenso wirksam ist wie die medikamentöse Behandlung: ● Reduktion der Migränehäufigkeit auf 0,93 (95%-KI:
0,31–1,54) in der Bewegungsgruppe; ● 0,83 in der Entspannungsgruppe (0,22–1,45); ● 0,97 in der Topiramatgruppe (0,36–1,58).
Die Studie zeigt, dass Bewegung eine Alternative zur
Prophylaxe von Migräneanfällen darstellt. Auf die Publi-
kumsfrage, weshalb die Studienteilnehmer «nur» 40
Minuten trainierten, antwortete Emma Varkey, dass die
Bewegung zeitlich bewusst begrenzt wurde, weil zu
hartes Training wiederum eine Migräne hätte triggern
können. Jede Bewegungseinheit enthielt deshalb auch
eine Warm-up- und eine Cool-down-Einheit.
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1. Emma Varkey, Åsa Cider, Jane Carlsson, Mattias Linde: Exercise as migraine prophylaxis: A randomized study using relaxation and topiramate as controls; Cephalalgia. 2011; 31(14): 1428–1438.
Die Kongressberichte wurden von Annegret Czernotta verfasst. Die Redaktion bedankt sich bei Dr. med. André Ljutow für die kritische Gegenlesung und Ergänzungen.
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