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SIG: PAIN, MIND AND MOVEMENT IV
Körperliche Aktivität, Schmerz und Behinderung
Erholung ist genauso wichtig wie die körperliche Aktivität. Das ist eine Erkenntnis aus der Sportmedizin. Denn die Leistungsfähigkeit sinkt beim Übertraining ab. Welchen Einfluss die körperliche Aktivität aus epidemiologischer und beruflicher Sicht hat, war Gegenstand des Symposiums.
I m fast vollen Saal betonte Dr. André Ljutow, Schmerzspezialist und Leitender Arzt am Paraplegikerzentrum Nottwil, erneut die Bedeutung der multidisziplinären Zusammenarbeit. «In Nottwil arbeiten elf Teams eng miteinander zusammen. Schmerztherapie ist Teamwork», war das Fazit des Schmerzmediziners. Wie bedeutend die Schmerztherapie international geworden ist, zeigt sich auch in Zahlen. Die IASP (International Association for the Study of Pain) hat mittlerweile 8000 Mitglieder in 129 Ländern; die SIG (Special Interest Group of the International Association for the Study of Pain®) immerhin 259 Mitglieder in 39 Ländern. Die Diagnostik und Behandlung von Schmerzen wird intensiv vorangetrieben.
Aktivität und Einschränkung bei LBP Den Zusammenhang von körperlicher Aktivität und Behinderung bei Low Back Pain (LBP, lumbale Rückenschmerzen) stellte Dr. Christine Lin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Sydney, Australien, dar. Bisher wurde davon ausgegangen, dass sich Patienten aufgrund der lumbalen Rückenschmerzen weniger bewegen. Publizierte Studien zeigen allerdings ein anderes Bild. In einem systematischen Review untersuchte Christine Lin den Zusammenhang von körperlicher Aktivität und Einschränkung bei LBP. Daten stammten aus 6 Datenbanken, relevante Studien bis Mai 2010 wurden eingeschlossen. Zu den Einschlusskriterien zählten die physikalische Aktivität, gemessen anhand eines Beschleunigungsmessers (Accelerometer), und das Mass der Einschränkung, gemessen mit dem Roland Morris Disability Questionnaire. Mit ihm lässt sich abbilden, wie Patienten die Beeinträchtigung durch ihre Rückenschmerzen erleben. Insgesamt erfüllten 18 Studien die Einschlusskriterien. Die gepoolten Daten wiesen eine
Kasten:
Lumbale Rückenschmerzen
Heben Häufiges Drehen/Beugen Heben schwerer Lasten Ziehen/Stossen/Tragen Statische Haltung am Arbeitsplatz Körpervibration
n (positive Assoziation) 32 20 17 4 3
16
Range (positive Assoziation) 1,12–5,21 1,29–8,09 1,27–4,02 1,30–2,70 1,30–3,29
1,1–9,0
Null 4 2 6 0 3
1
schwache Korrelation von Aktivität und Einschränkung bei akutem oder subakutem LBP auf (r = -0,8, 95%-KI: -0,17 bis 0,002) und einen moderaten bis negativen Zusammenhang bei chronischem LBP (r = -0,33, 95%-KI: -0,51 bis -0,15). Das heisst, dass sich Patienten mit akutem oder subakutem LBP unabhängig von der sie einschränkenden Schmerzintensität bewegen. Bei chronischem LBP hingegen verbesserte sich die Behinderung durch Bewegung. Ein Therapieziel sei es, so Lin, die körperliche Aktivität weiter zu erhöhen, da diese einen positiven Effekt auf die Schmerzen habe.
Arbeitsbelastung als Risikofaktor für muskuloskeletale Beschwerden Muskuloskeletale Beschwerden (MSD) finden sich ganz oben auf der Liste der arbeitsbedingten Beschwerden. 29 Prozent aller Krankheitstage stehen in Zusammenhang mit MSD. Im Durchschnitt fehlen die Betroffenen 11 Tage am Arbeitsplatz. Zu den Risikofaktoren zählen: einseitige Bewegungen, ergonomisch schlecht eingestellte Arbeitsplätze (Bildschirm usw.) und eine statische Haltung. In Abhängigkeit von der Dauer dieser Belastungen werden die Risikofaktoren zu einem gesundheitlichen Problem. Beispielsweise, wenn bei der Computerarbeit ständig die Schultern hochgezogen sind. Das Muskelgewebe reagiert dann auf den auslösenden physischen Stress. Besonders stark zeigt sich diese Relation bei Hebearbeiten und lumbalem Rückenschmerz (Kasten). Allerdings weiten sich die Beschwerden mit andauernder Belastung weiter aus und verursachen kinematische Veränderungen auch in weiteren Gelenken. Obwohl in den letzten Jahren Anstrengungen aufseiten der Forschung als auch der Unternehmen erfolgten, ist die Häufigkeit von LBP am Arbeitsplatz kaum zurückgegangen. Von daher, so Prof. Simon Yeung, Polytechnische Universität Hongkong, braucht es eine auf den Arbeitnehmern basierende Evaluation, um diese Gegebenheiten zu ändern. Speziell wichtig sei die Zufriedenheit am Arbeitsplatz. Änderungen liessen sich aber nur erreichen, so Yeung, wenn die Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz aktiv mitgestalten, denn diese haben die Expertise, zu sagen, was notwendig ist. Ausserdem ist die Arbeitszufriedenheit und Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber grösser, wenn der Arbeitsplatz aktiv mitgestaltet werden kann.
Übertraining und Erholung bei Sportlern Dass Erholung bei Sportlern genauso wichtig ist wie das körperliche Training, unterstrich der Professor für Sportpsychologie Michael Kellermann, Ruhr-Univer-
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SIG: PAIN, MIND AND MOVEMENT IV
sität Bochum, in seinem Vortrag. «Körperlicher Stress in akzeptabel, solange es genügend Erholungszeit im Anschluss gibt», sagte der Sportpsychologe. Nimmt sich der Sportler diese Zeit nicht, kann dies zu einer körperlichen Imbalance führen. In der Folge kommt es zu einer Leistungsminderung oder -stagnation in der ausgeübten Sportart. Problematisch ist, dass die meisten Sportler in dieser Zeit trotzdem weitertrainieren. Der Körper ist dadurch chronisch gestresst, und ein Burnout ist möglich.
Frühe Warnzeichen eines Übertrainings sind insbeson-
dere Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Gewichtsver-
lust, depressive Verstimmung und erhöhte Verlet-
zungsanfälligkeit. Speziell entwickelte Fragebögen für
Sportler (RestQ-Sportprofiles) können helfen, den
Stressgrad zu erfassen, um gegebenenfalls das Training
frühzeitig anpassen zu können. Bis heute wird der Fak-
tor Erholung von Sportlern, aber auch von Trainern und
Coachs unterschätzt.
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