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KONGRESSBERICHT
ECTRIMS-Kongress Multiple Sklerose
Fingolimod: Wirksamkeit und Langzeitbenefit erneut bestätigt
Fingolimod ist das erste orale Medikament zur Behandlung der schubförmig-remittierenden Multiplen Sklerose. Mit der FREEDOMS-Extension-Studie liegen Daten zur Langzeitbehandlung mit Fingolimod über 4 Jahre vor. Am Jahreskongress 2012 des European Committee for Research and Treatment in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) in Lyon beleuchteten Experten die zunehmenden Kenntnisse zum Nutzen-Risiko-Profil von Fingolimod anhand der aktuellen Studienlage.
Annegret Czernotta
M ultiple Sklerose (MS) ist eine autoimmun bedingte Entzündung im zentralen Nervensystem. Vor allem durch akribische pathologische Untersuchungen von verschiedenen Krankheitsstadien und Verläufen konnte festgestellt werden, dass die Entzündung nicht nur die weisse Substanz des Gehirns angreift, sondern auch Axone und Neurone in der grauen Substanz früh im Krankheitsverlauf betroffen sind (1). Klinisch relevant für die medikamentöse Therapie sind das Schubrisiko, die Krankheitsprogression mit einhergehenden Behinderungen und die Bestimmung der Krankheitsaktivität (Zunahme der Läsionslast, Progression der Hirnatrophie) durch Magnetresonanz-Tomografie (MRT). Neben der Wirksamkeit sind für den Patienten insbesondere die Nebenwirkungen eines MS-Medikaments und dessen Applikationsform entscheidend. «Ziel der Therapie ist es, die MS-Pathologie zu reduzieren und die Krankheitsbürde des Patienten zu mindern», so Prof. Dr. Jean Pelletier, Neurologe an der medizinischen Fakultät der Universität Marseille (F). »Für eine effektive Therapie brauchen wir eine frühe Identifikation der Nonresponder.» Fingolimod ist seit zirka 1,5 Jahren auf dem europäischen Markt. In der Schweiz ist die Substanz seit Januar 2011 zur Behandlung von Patienten mit schubförmig-remittierender Multipler Sklerose (RRMS) zur Reduktion der Schubhäufigkeit und Verzögerung des Fortschreitens der Behinderung zugelassen. Daten aus 52 000 Patientenjahren in 65 Ländern liegen vor (Stand August 2012, Ref Novartis Data on File).
Behandlung mit Fingolimod Fingolimod (FYT720, Gilenya®) ist ein orales MS-Therapeutikum. Es ist ein synthetisches Analogon der körpereigenen Substanz Sphin-
gosin. Im Körper wird es phosphoryliert und kann an 4 der 5 bekannten Sphingosinrezeptoren binden. Seine Wirkung entfaltet das MSMedikament durch die Bindung an den S1P1Rezeptor, der vor allem auf Lymphozyten exprimiert wird. Lymphozyten benötigen diesen Rezeptor, um den Lymphknoten verlassen zu können. Fingolimod hält die Lymphozyten gefangen (11). «Vermutet wird zudem ein neuroprotektiver Effekt im zentralen Nervensystem», sagte Dr. Barry Singer, St. Louis (USA). Denn Fingolimod kann aufgrund seiner Struktur die Blut-Hirn-Schranke leicht passieren und an Astrozyten, Oligodendrozyten und an Neuronen binden (14).
Zulassungsstudien TRANSFORMS und FREEDOMS Die Wirksamkeit von Fingolimod wurde in drei Phase-III-Studien untersucht: Die TRANSFORMS-Studie (2) verglich über 12 Monate Fingolimod in einer Dosis von 1,25 mg und 0,5 mg täglich mit einmal wöchentlich intramuskulär verabreichtem Interferon beta-1a. An der Studie nahmen 1292 Patienten teil. Die FREEDOMS-Studie (3) dauerte 24 Monate und untersuchte die Wirksamkeit von 1,25 und 0,5 mg Fingolimod täglich versus Plazebo. Die hauptsächlich in den USA durchgeführte zweite plazebokontrollierte Studie FREEDOMS-II untersuchte ebenfalls die Wirksamkeit von Fingolimod 0,5 und 1,25 mg vs Plazebo über 24 Monate (4). In allen drei Studien zeigte sich eine gute Wirksamkeit: «In der TRANSFORMS-Studie kam es zu einer Reduktion der jährlichen Schubrate um 52 Prozent im Vergleich zu Interferon beta in 1a i.m, in der FREEDOMS-Studie betrug die Reduktion 54 Prozent und in der FREEDOMS-II-Studie (4) 48 Prozent im Vergleich zu Plazebo», so Dr. Barry Singer. In den plazebokontrollierten Studien waren MS-Herde bereits 6 Monate nach Therapiebeginn unter Fingolimod 0,5 mg weniger sicht-
bar. Die Abnahme der Schubaktivität trat innerhalb der ersten 3 Monate ein, in der FREEDOMS-II-Studie war der Effekt sogar bereits ab Tag 64 sichtbar (p < 0,05) (8). In der FREEDOMSStudie ergab sich nicht nur eine signifikante Schubratenreduktion gegenüber Plazebo, sondern auch eine nach 6 Monaten um 37 Prozent reduzierte Behinderungsprogression (p = 0,01) (3). Ausserdem zeigten die mit Fingolimod behandelten Patienten in allen 3 Phase-III-Studien eine signifikant verminderte Hirnatrophierate (38% in der FREEDOMS- [3], 33% in der FREEDOMS-II- [12], beide versus Plazebo; und 40% in der TRANSFORMS-Studie versus IFN-beta-1a i.m [2] [alle p < 0,001]). Risikoassessment unter Fingolimod Unter der Behandlung mit Fingolimod kann es zu einer Nasopharyngitis, Kopfschmerz, Erhöhung der Leberenzyme, Rückenschmerzen, Influenzavirusinfekte (2, 5, 7) kommen. Der Neurologe Dr. Barry Singer empfiehlt vor Therapiebeginn die Durchführung eines Blutbildes, eine Abklärung der Leberenzyme, eine ophtalmologische Untersuchung, den Varizellenstatus (VZVSerologie), die Abklärung einer Schwangerschaft und die Prävention derselben (Kontrazeptivum) sowie ein kardiales Risikoassessment. «Unter der ersten Dosis mit Fingolimod kann es innerhalb der ersten 4 bis 5 Stunden zu einer meistens asymptomatischen Bradykardie kommen», so Dr. Singer. Die vorübergehende Natur dieser kardialen Nebenwirkung scheint mit dem funktionalen Antagonismus des S1P1-Rezeptors in atrialen Myozyten zusammenzuhängen. Der Neurologe empfiehlt vor Applikation der ersten Dosis ein kardiologisches Konsil, bei welchem insbesondere die (kardialen) Medikamente des Patienten auf potenzielle Interaktionen untersucht werden. Da es in den Studien allerdings selten zu einer symptomatischen Bradykardie (0,5%) oder einem symptomatischen AV-Block Grad II kam (0,1%), hält Dr. Singer das kardiologische Risiko insgesamt für gering. In Europa und in den USA liegen Empfehlungen der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) respektive der FDA (Food and Drug Administration) zur Handhabung diesen kardialen Effekte vor. In der Schweiz gelten diesbezüglich seit dem 8. Oktober 2012 die Swissmedic-Vorgaben zur Erstverabreichung. Bei allen Patienten sollte zur Identifikation einer Bradykardie beziehungsweise atrioventrikulärer Überleitungsstörungen eine 6-stündige kardiologische &40 5/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE KONGRESSBERICHT ECTRIMS-Kongress Multiple Sklerose Überwachung erfolgen mit: ● stündlichen Messungen von Puls und Blut- druck ● einem 12-Kanal-EKG vor Behandlungsbe- ginn und nach der 6-stündigen Überwachung ● der Möglichkeit einer kardiologischen Notfallbehandlung Zusätzlich wird eine kontinuierliche (Echtzeit-) EKG-Überwachung empfohlen. Zudem wurden bestimmte Überwachungsmassnahmen definiert für die Einleitung der Fingolimodtherapie bei Patienten mit kardialen Risiken (13). FREEDOMS-Extensionsstudie: Wachsende Evidenz für das Nutzen-Risiko-Profil Langzeitdaten zu Fingolimod stellte Univ.-Prof. Dr. Hans-Peter Hartung, Direktor der Neurologischen Klinik, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (D), am Symposium vor. «Multiple-Sklerose-Patienten sind chronisch krank», begann Prof. Hartung. «Deshalb braucht es ein sicheres Medikamentenprofil bei guter Wirksamkeit, um die Krankheitsprogression zu verlangsamen.» Mit der zweijährigen Extension der FREEDOMS-Studie liegen erstmals Daten zur Sicherheit von Fingolimod aus 4 Jahren vor, die sowohl am Satellitensymposium und in der Poster-Session präsentiert wurden. In der Extension-Studie wechselten Patienten, welche in der Hauptphase mit Plazebo behandelt worden waren, in einem Behandlungsarm von Plazebo auf Fingolimod. Patienten, welche in den ersten 2 Jahren schon mit Fingolimod behandelt waren, wurden weiter mit Fingolimod 0,5 mg therapiert. Die Extension zur FREEDOMS-Studie zeigt ● dass die Nebenwirkungen über 4 Jahre nicht zunehmen. 4,5 Prozent der Patienten brachen die Studien aufgrund der Nebenwirkung unter der kontinuierlichen Fingolimodbehandlung ab, im Vergleich zu 7.7 Prozent unter Plazebo (nach 2 Jahren) (3, 5, 7). ● dass die Inzidenz von Infektionen im Zeitraum von 4 Jahren unverändert bleibt (7). ● dass es zu einer Reduktion der Schübe kam nach Umstellung von Plazebo auf Fingolimod (relative Reduktion 55%, Monat 24 bis 48), im Vergleich zu Plazebo nach 2 Jahren (5, 9). ● dass sich die Hirnatrophierate um zirka 39 Prozent nach Umstellung auf Fingolimod 0,5 mg vermindert. Zusätzlich zeigen Patienten unter einer kontinuierlichen Behandlung mit Fingolimod einen besseren Verlauf als Patienten, die von Plazebo auf Fingolimod wechselten. Je früher mit der oralen Therapie begonnen wurde, desto geringer fiel der Verlust von Hirnvolumen aus (9). ● dass nach 4 Jahren das relative Risiko einer Krankheitsprogression signifikant geringer ausfiel (um 27%) bei Patienten, welche kontinuierlich Fingolimod erhalten hatten, im Vergleich zu Patienten, die nach 2 Jahren von Plazebo auf Fingolimod umgestellt worden waren (relative Risikoreduktion von 27%, HR: 0,73, p < 0,017) (5, 9). ● dass der Anteil der mit Fingolimod 0,5 mg behandelten Patienten ohne T2-Läsionen von 50,3 Prozent nach 2 Jahren auf 69,3 Prozent im 3. beziehungsweise 4. Jahr zunahm (5, 9). Der Experte hielt aufgrund der Daten aus der FREEDOMS-Extensionsstudie fest, dass die Nebenwirkungen von Fingolimod gut zu handhaben sind. «Man kann diese erwarten und ihnen vorbeugen», so Hartung. Beispielsweise sind die Leberenzyme kontinuierlich zu überprüfen. Ausserdem, so der Experte, bietet Fingolimod eine langfristig anhaltende Kontrolle des Krankheitsverlaufs durch Schubreduktion. Die wachsende Bedeutung von Fingolimod bei MS In den letzten Jahren hat sich die Anzahl der Medikamente zur Behandlung der MS stark vergrössert. Gewählt werden kann zudem zwischen einer Injektion, einer Infusion oder einer oralen Applikation. Welche Parameter sind für Ärzte, aber auch Patienten relevant, wenn es um den Therapieentscheid geht? «Für den Patienten ist neben der Wirkung eines MS-Medikaments wichtig, ob sich diese Substanz einfach in den Alltag integrieren lässt», so Dr. Martin Duddy, Neurologe, Royal Victoria Infirmary, Newcastle-upon-Tyne (UK). Interimsdaten aus den Studien PANGAEA und PEARL zeigen, dass Fingolimod von 86,7 Prozent der Patienten als sehr einfach in der Handhabung beschrieben wird; 83,7 Prozent sind sogar sehr zufrieden mit Fingolimod. PANGAEA ist eine deutsche, nicht interventionelle 5-Jahres-Studie zur Evaluation von Sicherheit, Wirksamkeit und pharmako-ökonomischen Daten von und mit Fingolimod. Die PANGAEADaten wurden erstmals am ECTRIMS-Kongress präsentiert (10). PEARL ist eine multizentrische, prospektive, nichtinterventionelle Kohortenstudie zur Evaluation von gesundheitsökonomischen und klinischen Parametern bei Patienten mit Multipler Sklerose unter verschiedenen, für die Behandlung von Multipler Sklerose zugelassenen immunmodulatorischen Basistherapien über einen Zeitraum von 24 Monaten. An der Studie nahmen 1574 berufstätige MS-Patienten in Deutschland teil. Zur Zufriedenheit mit Fingolimod befragt, gaben die Patienten neben der einfachen Einnahme an, dass sie unter Fingolimod auch weniger MS-bedingte Krankheitstage verzeichneten. In einer «Real World»-Analyse zeigt sich zusätzlich, dass nur 27,8 Prozent der Patienten in der Fingolimodgruppe die Medikamenteneinnahme unterbrachen, während es in der Injektionsgruppe zu einer Abbruchhäufigkeit von 50 Prozent nach einem Jahr kam. Befragt nach den Gründen für den Therapieabbruch, nennen Patienten die mangelnde Effektivität und die Nebenwirkungen als Hauptgründe (5). Erweiterung der aktuellen Behandlungsmöglichkeiten Wie Dr. Duddy abschliessend festhielt, stellt Fingolimod eine Bereicherung in der heutigen MS-Behandlung dar. Anhand der Studienda- ten zeigt sich, dass dessen Wirkung früh ein- setzt und nachhaltig anhält. Ausserdem liegen mit der FREEDOMS-Extension-Studie Daten vor, die ein gutes Sicherheitsprofil vorweisen. Obwohl ein Monitoring unverzichtbar ist, ver- fügt Fingolimod über ein insgesamt günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis. Durch die patienten- freundliche Darreichung stehe zudem Patien- ten eine Behandlung zur Verfügung, die sich einfach in den Alltag integrieren lasse. ● Annegret Czernotta Quelle: Satellitensymposium: «Growing global experience with once-daily oral fingolimod in MS», organisiert von Novartis Pharma AG, 10. Oktober 2012, ECTRIMS 2012, Lyon, Frankreich. Die Berichterstattung erfolgte mit finanzieller Unterstützung der Novartis AG. Die Firma nahm keinen Einfluss auf den Inhalt der Berichterstattung. Referenzen: 1. Derfuss T., Lorscheider J.: Therapie der Multiplen Sklerose: aktueller Stand und Aussichten für die Zukunft, Supplementum Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie&Neurologie Juni 2011, 1–11. 2. Cohen JA., Barkhof F., Comi G. et al.: Oral fingolimod or intramuscular interferon for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2010; 362: 402–415. 3. Kappos L., Radue EW., O’Connor P. et al.: A placebo-controlled trial of oral fingolimod in relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2010; 362: 387–401. 4. Calabresi P.A. et al.: ECTRIMS 2012, P491. Efficacy and safety of fingolimod versus placebo: Primary outcomes from the phase 3 FREEDOMS II study in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis. 5. Kappos L. et al.: Long-term Efficacy and Safety of Fingolimod (FTY720) in Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis (RRMS): Results from the Extension of the Phase III FREEDOMS Study. Abstract Presented at AAN, New Orleans, April 2012 (Abstract 5LB00.015). 6. Giovannoni G. et al.: Systematic review of disease-modifying therapies to assess unmet needs in multiple sclerosis: tolerability and adherence. Mult Scler 2012; 18. 932–946. 7. O’Connor P.: Phase 3 FREEDOMS study extension: Longterm safety of fingolimod (FTY720) in relapsing–remitting. Poster 523, ECTRIMS 2012. 8. Chin P.S. et al.: Early effect of fingolimod on clinical and MRI related outcomes in relapsing multiple sclerosis, P 459, ECTRIMS 2012. 9. Kappos L. et al.: Phase 3 Freedoms study extension: Fingolimod (FTY720) efficacy in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis receiving continuous or placebo-fingolimod switched therapy for up to 4 years, P979, ECTRIMS 2012). 10. Ortler S. et al.: First interim results on treatment satisfaction and pharmaco-economic data comparing fingolimod and first-line therapies in multiple sclerosis patients in Germany (PANGAEA and PEARL), ECTRIMS, Poster 302. 11. Brinkmann V. et al.: Fingolimod (FTY720): discovery and development of an oral drug to treat multiple sclerosis. Nat Rev Drug Discov 2010; 9: 883–897. 12. Radue E.-W. et al.: ECTRIMS 2012 P724. 13. Swissmedic: www.swissmedic.ch/marktueberwachung/ 00091/00092/02069/index.html?lang=de. 14. Slowik A. et al.: Poster 511, ECTRIMS 2012. 5/2012 &PSYCHIATRIE NEUROLOGIE 41