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SIG: PAIN, MIND AND MOVEMENT IV
Disuse/Overuse: Körperliche Aktivität bei chronischen Schmerzpatienten aus Sicht der Sporttherapie
André Pirlet
Die Wirksamkeit der multimodalen Schmerztherapie bei chronischen Rückenschmerzpatienten beruht auf der positiven Wechselwirkung ihrer Einzelelemente. Der Artikel zeigt den Stellenwert der aktiven Therapie auf der Grundlage eines bio-psycho-sozialen Verständnisses von Ursache und Rehabilitation des chronischen Rückenschmerzes auf.
von André Pirlet
D ie Wirksamkeit multimodaler Schmerztherapie bei chronischen Rückenschmerzpatienten wurde in vielfältigen randomisierten, kontrollierten Studien belegt. Sie beruht auf der positiven Wechselwirkung ihrer Einzelelemente. Körperlich aktivierende Einheiten (Physiotherapie, Sporttherapie) werden relativ hoch dosiert mit psychologischen Modulen (kognitive Verhaltenstherapie, Entspannungstherapie) unter einem gemeinsamen bio-psycho-sozialen Konzept kombiniert – wenn nötig unter Einbezug einer interventionellen und/oder medikamentösen Schmerztherapie. Während vor einigen Jahren noch der somatische Aspekt – «ein starker Rücken kennt keinen Schmerz» – im Vordergrund der Rehabilitation von Rückenschmerzpatienten stand, wird den psychosozialen und kognitiven Faktoren als Ursache von chronischen Schmerzen heute ein grösserer Stellenwert zugemessen. Über die Bedeutung von physischer Aktivität, Bewegung und Sport bestehen unterdessen Unklarheiten. Eine norwegische Studie urteilte plakativ: «Täglicher Sport hilft nicht gegen chronische Schmerzen.» Hingegen reduzierten 3-mal 30 Minuten Training in der gleichen Studie die Schmerzen deutlich (12). Objektive wissenschaftliche Beschreibungen zur Definition von Training fehlen. Unklar ist zudem, welche Belastungsintensität Bewegung, Sport und Physiotherapie haben sollen. J. Therzas et al. konnten beispielsweise nachweisen, dass Sportler den Schmerz ebenso fühlen wie Nichtsportler, sich aber davon weniger beeinträchtigen lassen – sie sind schmerztoleranter (18).
1. Multifaktorielle Entstehung und therapeutische Beeinflussbarkeit von chronischen Rückenschmerzen Das Fear-Avoidance-Modell: Beim chronischen Rückenschmerz bietet das Angstvermeidungskonzept gute Ansätze, die sowohl zum Verständnis der Chronifizierung von Schmerzen als auch für therapeutische Prinzipien genutzt werden können (Kasten 1). Angst vor Aktivität kann entstehen, wenn das Schmerz-
erleben über kognitive und emotionale Faktoren zunehmend zu einem Vermeidungsverhalten führt. Durch emotionale, kognitive und soziale Voraussetzungen und Erfahrungen entsteht immer grössere Angst vor Schmerz(-ausweitung); dies führt schliesslich zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Inaktivität und zu Vermeidungsverhalten. Die physischen Konsequenzen (physische Dekonditionierung) einer anhaltenden Inaktivität sind der Verlust spinaler Mobilität und von Muskelkraft. Die zunehmende Muskelinsuffizienz bewirkt aufgrund neurophysiologischer Sensibilisierungsprozesse, dass bereits normale Bewegungsabläufe als schmerzhaft erlebt werden. Die Angst vor einem sich verstärkenden Schmerz unter körperlicher Aktivität behindert den Betroffenen mehr, als es die körperliche Behinderung selbst tut. Im schlimmsten Fall endet sie in der Immobilität des Betroffenen. Da sich das Vermeidungsverhalten in der Behandlung als sehr therapieresistent erwiesen hat – vorausgesetzt, die Red Flags (Hinweise für das Vorliegen einer ernsthaften Organpathologie als Ursache) sind abgeklärt und ausgeschlossen –, hat die Identifikation und Behandlung der psychosozialen Faktoren in der Chronifizierung von Rückenschmerzen zunehmend an Bedeutung gewonnen.
Das Avoidance-Endurance-Modell: Eine Erweiterung des Fear-Avoidance-Modells zur Erklärung der chronischen Schmerzen zeigt Hasenbring ([5], Kasten 2). Sie unterscheidet verschiedene Charaktertypen im Umgang mit chronischen Schmerzen: ● die ängstlich vermeidende Schmerzverarbeitung ● die depressive supressive Schmerzverarbeitung ● die latent heitere supressive Schmerzverarbeitung. Diese unterschiedlichen Schmerzverarbeitungscharaktere verlangen ein entsprechend individuell abgestimmtes Aktivierungs- und kognitiv verhaltenstherapeutisches Programm. Beispielsweise spüren latent heiter suppressive Patienten im Tagesverlauf ihre Rückenschmerzen trotz der Überaktivität nicht. Der Schmerz kommt erst in der Ruhe. Diese Patienten sollen im Alltag lernen, Körpersignale zu spüren oder Pausen einzulegen. Um das Verhaltensmuster jedes einzelnen Schmerzpatienten zu
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erfassen, braucht es dementsprechend ein wirksames Trainingskonzept und eine ausgeglichen Tagesstruktur (Pacing). Die Trainingsreizsetzungen werden dann allmählich in kleinen Schritten gesteigert. Im Klinikalltag ist es für die betreuenden Bewegungsund Sporttherapeuten problematisch, dass viele Schmerzpatienten eine gestörte Beziehung zu ihrem Körper haben: Entweder die Patienten fühlen sich von ihrem Körper im Stich gelassen, nehmen ihn als «total kaputt» wahr, oder sie gehen «knallhart» ohne Sensibilität in die Therapie und das Training. Es zeigen sich eine Störung der Körperwahrnehmung (4) und eine Unfähigkeit, Belastungen wahrzunehmen. Diese Störung ist nicht nur auf ein Angst-Vermeidungsverhalten zurückzuführen, sie scheint häufig auch eine Folge von zu wenig Bewegungserfahrung und Bewegungsmangel in der Jugend und dem Erwachsenenalter zu sein. Der Patient mag in der Therapie zwar vordergründig anwesend und motiviert sein, aber ohne echte persönliche Beteiligung. Er lässt immer alles mehr oder weniger passiv mit sich geschehen. Der Körper wird zur Therapie und zum Training abgegeben. Widerstand wird nicht offen gezeigt, sondern äussert sich in körperlichen Symptomen wie etwa «Muskelkater» oder in einem erhöhten Schmerzempfinden (4). Therapeutisch bedeutet dies, dass die körperliche Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit neben einem zielorientierten Muskelfunktions- und Ausdauertraining ebenfalls intensiv geschult und trainiert werden muss.
2. Was verstehen wir unter Sport und Training? Die Bedeutung von Bewegung und Sport als Gesundheitsfaktor ist in der wissenschaftlichen Literatur sehr gut belegt, ebenso wie der Bewegungsmangel als bedeutender Risikofaktor. Unter sportlicher Aktivität wird meist eine Betätigung zur körperlichen Ertüchtigung mit einem Leistungsziel verstanden. Eine allgemein gültige Definition für Sport zu finden, ist schwer (rund 4 000 000 000 Ergebnisse auf Google). Das Brockhaus-Lexikon 2000 definiert Sport folgendermassen: «Eine Sammelbezeichnung für die an spielerischer Selbstentfaltung sowie am Leistungsstreben ausgerichteten vielgestaltigen Formen körperlicher Betätigung, die sowohl der geistigen und körperlichen Beweglichkeit als auch dem allgemeinen Wohlbefinden dienen soll» (9). Das Wort Sport leitet sich aus dem altlateinischen disportare (ablenken, zerstreuen) ab, was eher dem geistigen als dem körperlichen Aspekt entspricht, wobei das Gefühl der Selbstwirksamkeit der eigentliche Lernimpuls ist (22, 23). Folgende Adaptationen auf den menschlichen Körper ergeben sich aufgrund von Bewegung: A. Morphologische Adaptationen (vor allem Kraft, Aus-
dauer, Beweglichkeit) B. Neurophysiologische Adaptationen (Koordination) C. Psychologische Effekte.
A. Die morphologischen Adaptationen Die Auswirkung sportlicher Trainingsanpassungen auf die Muskulatur, den Stoffwechsel und das Herz-Kreislauf-System sind bestens belegt (7). Eine optimale Trai-
Schmerzerleben
Überzeugung: Aktivität → Schmerz
Kognition
Lernmechanismen
Angst vor Schmerz/Verletzung
Emotion
Inaktivität/Vermeidungsverhalten
Verhalten
Phänomen Chronifizierung Körperliche Dekonditionierung (Defizite in Muskelkraft und -ausdauer, Koordinationsverluste, schnelle Ermüdung Psychische Beeinträchtigung (Rückzug, Beeinträchtigung-Erleben, Emotionale Beeinträchtigung
Kasten 1: Fear-Avoidance-Modell chronifizierender Rückenschmerzen
Quelle: Pfingsten, 2009
Akuter Schmerz
Katastrophisieren
Furcht/Angst Vermeidungsverhalten
Muskuläre Insuffizienz
Kognitive Suppression
Ignorieren/Bagatellisieren
Coping-Signal
Depressiv/gereizte Stimmung
Positive Stimmung
Suppressives Verhalten
Muskuläre Hyperaktivität
Suppressives Verhalten
Überlastung Muskeln/Gelenke
Flexibler Wechsel Schonung/Belastung
Schmerzchronifizierung
Fear-Avoidance
Schmerzchronifizierung
Depressiv-Suppressiv
Schmerzchronifizierung
Heiter-Suppressiv
Schmerzreduktion
Niedrig-Risiko
Kasten 2: Avoidance-Endurance-Modell (Hasenbring 2000)
ningsanpassung muss immer einhergehen mit einer wirksamen Belastungsreizsetzung, welche wiederum abhängig von der aktuellen körperlichen Leistungsfähigkeit des Trainierenden ist. Im Verlauf des Trainingsprozesses gilt es, die Belastung langsam und behutsam zu steigern. Die Ausweitung des zeitlichen Umfangs der Anforderungen sollte vor einer Erhöhung der Intensität erfolgen. Um die angestrebte körperliche Leistungsfähigkeit zu erreichen und zu erhalten, ist es notwendig, sinnvolle Belastungen regelmässig und langzeitig zu wiederholen. Morphologische und physiologische Veränderungen in Muskel und Stoffwechsel sind frühestens nach 4 bis 5 Monaten Training nachweisbar (7). Gesundheitsorientiertes Trainieren sollte möglichst lebensbegleitend sein, und die Belastungsformen sollten variieren.
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B. Die neurophysiologischen Anpassungen Die Fähigkeit, neue Bewegungen zu erlernen und diese neuen Situationen anzupassen, beruht auf der Plastizität des menschlichen Nervensystems und den biochemischen Eigenschaften der Nervenzellen. Bewegungen zu steuern, diese anzupassen und zu erlernen, wird durch Training der Koordination erreicht und ist ein Lernprozess. Anpassungen und Training im koordinativen, also sensomotorischen Bereich sind immer verbunden mit einer bewussten Körperwahrnehmung und -erfahrung. Die koordinative Handlungskompetenz geht über den Sport hinaus. Sinnvolles menschliches Handeln ist stets ein orientierendes und differenzierendes Zuordnen, auch im Sinne eines Integrierens und Bildens eines Gleichgewichtes (8). Lernfortschritte entstehen durch Differenzierungsprozesse. Differenzieren heisst, durch wertfreie, neutrale Körperwahrnehmung sensorische Informationen unterscheiden zu lernen. Differenzieren können gibt ein Mehr an Bewegungslernerfahrung, mehr Erfahrungen bedeuten auch mehr Referenzwerte, dies wiederum bereichert die körpereigenen Ressourcen bei teilweise eingeschliffenen automatisierten Bewegungsmustern. Die Orientierungsfähigkeit ist ebenfalls ein aktiver Wahrnehmungsprozess sowie ein Produkt aus räumlicher und zeitlicher Bewegungsregulation. Wer erfolgreich seine koordinative Handlungskompetenz verbessern will, orientiert sich am methodischen Leitprinzip des vielfältigen Variierens und Kombinierens verschiedener Bewegungsteilfertigkeiten: «So wenig wie nötig korrigieren, so oft wie nur möglich variieren» (8, 21).
C. Die psychischen Effekte Körperliches Training bewirkt Adaptionen im Bereich neurobiologischer Mechanismen, die der Stimmungsverbesserung zugrunde liegen, wirkt aber auch positiv auf das psychologische Selbstkonzept und die Selbstwirksamkeit. Bei der gut belegten positiven Wirkung körperlicher Aktivität auf Angstzustände und Angststörungen können Desensitivierungsprozesse eine Rolle spielen. Das Phänomen des vor allem bei Leistungssportlern bekannten Übertrainings zeigt hingegen, dass körperliches Training nicht in jedem Fall das psychische Wohlbefinden verbessert. Schliesslich übt körperliche Aktivität auch einen positiven Einfluss auf die hormonellen Stressregulationssysteme aus: Bei Trainierten manifestieren sich diese in einer stärkeren Reaktivität und einer schnelleren Regenerationsfähigkeit (17).
3. Was bewirkt Sporttherapie bei chronischen (Rücken-)Schmerzpatienten? Sport- und Bewegungstherapie ist Bewegungstraining mit verhaltensorientierten Komponenten, die vom Therapeuten geplant, dosiert, gemeinsam mit Ärzten und Therapeuten verschiedener Fachdisziplinen abgestimmt und mit dem Patienten in der Gruppe durchgeführt werden. Mit geeigneten Mitteln des Sports, der Bewegung und der Verhaltensorientierung können physische, psychische und psychosoziale (Alltag, Freizeit und Beruf betreffende) Beeinträchtigungen verbessert beziehungsweise Schädigungen und Risikofaktoren vorgebeugt werden. Sport- und Bewegungstherapie beruht dabei auf medizinischen, trainings-
und bewegungswissenschaftlichen und padägogischpsychologischen sowie soziotherapeutischen Elementen (Deutsche Vereinigung für Gesundheit, Sport und Sporttherapie, 2010). Sporttherapie definiert sich auf verschiedenen Lernzielebenen:
1. Die Wirkung der Sporttherapie auf der koordinativen, sensomotorischen Lernzielebene: Hier steht das Erfahren, Wahrnehmen und Lernen von Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers im Vordergrund. Die Körperwahrnehmung ist ein prozessorientiertes Vorgehen zur Entwicklung von Bewegungsfähigkeiten und ist erlebnisorientiert. Bewegen ist Erfahren des eigenen Körpers in einer Konzentration auf sich selbst. Das Selbstverständliche, was sonst oft nicht beachtet wird, wird bewusst erlebt. So bietet zum Beispiel auch die Achtsamkeitspraxis (6, 10) ein gutes, einfaches Konzept, den Körper so wahrzunehmen, wie er ist. Achtsamkeit bedeutet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: «Bewusst im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen. Diese Art der Aufmerksamkeit steigert das Gewahrsein und fördert die Klarheit sowie die Fähigkeit, die Realität des gegenwärtigen Augenblicks zu akzeptieren» (6, 10). Im Achtsamkeitstraining lernen Schmerzpatienten, die Gefühle, die während der Schmerzen auftreten, beobachtend zu betrachten. Gleichzeitig lernen sie die Veränder- und Wandelbarkeit der Schmerzwahrnehmung zu erkennen. Eingeleitet wird das Achtsamkeitstraining durch einen sogenannten Bodyscan, der ein neutrales Wahrnehmen der Körperauflageflächen in Rückenlage ermöglicht. Neben Meditation und Achtsamkeitsintegration in den Alltag werden auch sanfte Körperübungen aus dem Yoga, Tai-Chi oder Qigong bewusst erlebt und trainiert (10).
2. Die Wirkung der Sporttherapie auf der motorischen Lernzielebene: Das Training von Konditionsfaktoren wie Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und Koordination ist im Rahmen der medizinischen Trainingstherapie bei bestehender Dekonditionierung das vordergründige Ziel. Neben dem spezifischen Muskelfunktionstraining steht das Training und vor allem das Wahrnehmen und Kennenlernen der individuellen Belastbarkeit im Vordergrund. Die Borg-Skala (1), welche das subjektive Anstrengungsempfinden bei Belastung widerspiegelt, bietet hierbei eine gute Hilfestellung. Die optimale Belastung in einem 20- bis 30-minütigen allgemeinen Ausdauertraining sollte beispielsweise bei sehr leicht bis etwas schwer liegen. Bei einem Kraftausdauertraining spezifischer lokaler Muskelgruppen sollte nach 20 bis 30 maximalen Repetitionen die Belastung als schwer empfunden werden. Voraussetzung ist selbstverständlich, dass der Schmerz bei der Bewegungsausführung nicht der limitierende Faktor ist (oder während der Belastung zunimmt, was zu einem Unterbruch der Übung führen sollte).
3. Die Wirkung der Sporttherapie auf der affektiven und edukativen Zielebene: Ziel ist es, langfristig zu körperlicher Aktivität und einem körperlich aktiven Lebensstil zu animieren. «Erlaubt» sind Misslingen, freies Kombinieren von bereits
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bekannten und gekonnten Elementen, im Augenblick in einer Tätigkeit zu versinken (Flow-Erleben). Spielen ist ebenso wichtig wie Leistungsorientierung und zielorientiertes, einseitiges Bewegungstraining. FlowErleben (2, 13) und Achtsamkeit sind bis anhin unbenannte, aber zentrale Wirkfaktoren in der Gesundheitsförderung. Flow – das Gefühl des völligen Aufgehens von Körper und Geist in einer Tätigkeit – setzt Achtsamkeit – Bewusstheit über seine gegenwärtige Erfahrung – voraus. Der Mensch/Patient kommt wieder in Kontakt mit seiner Leiblichkeit und der Gegenwart. Dies ist eine wichtige Grundlage für verantwortungsbewusste, selbstkontrollierte Entscheidungen bezüglich des eigenen Gesundheitsverhaltens (13).
4. Die Wirkung der Sporttherapie auf der kognitiven Lernzielebene: Auf dieser Lernzielebene geht es um das Vermitteln und Trainieren von Wissen als Grundlage einer selbstständigen und langfristig gesundheitsbezogenen Handlungs- und Sozialkompetenz. In der Sporttherapie sollten Kognitionen immer mit direkten praktischen Bewegungserlebnissen verbunden sein (14, Kasten 3). Neben Information und Aktivierung, ist hier vor allem auch das Work-Hardening, das arbeitsspezifische Training, zu nennen. Work-Hardening bedeutet, dass die Belastbarkeit auf der Arbeit, im Haushalt und in unterschiedlichen Alltagsfunktionen ohne Leistungsdruck gefördert und trainiert wird. Je nach individuellem Bedarf wird das Heben von Lasten, die Arbeit über Kopfhöhe oder in vorgeneigter Rumpfhaltung trainiert.
Motorische Steuerung
Motorische Anpassung
Differenzierungsfähigkeit Gleichgewichtsfähigkeit Orientierungsfähigkeit
Reaktionsfähigkeit Rhythmisierungsfähigkeit
Umstellungsfähigkeit
Motorische Lernfähigkeit
Kasten 3: Struktur der koordinativen Fähigkeiten (Weineke 2009)
Zusammenfassung Neben einem rein somatisch orientierten Trainingskonzept können chronische Schmerzpatienten über behutsam angeleitete Körperwahrnehmungsübungen und Körperbewusstheit ihre Selbstwirksamkeit und ihren Kohärenzsinn kennenlernen und positiv beeinflussen. Körperliches Training im Rahmen der Sporttherapie bedarf eines hohen Masses an Motivation, um
Fehlüberzeugungen und Ängste zu überwinden. Des-
halb scheint eine Kombination von kognitiver Körper-
verhaltenstherapie und Sporttherapie sinnvoll zu sein.
Ein intensives Training mit Anleitung zum weiteren Ei-
gentraining unter Steigerung der Selbstwirksamkeit
zeigt die besten Langzeitergebnisse (20). Achtsame
körperorientierte Bewegungsübungen wie Yoga, Fel-
denkrais, Qigong und Ähnliches sollten von Psycholo-
gen und Sporttherapeuten den Patienten ergänzend
angeboten werden; dies parallel zu einem zielorientier-
ten, der eingeschränkten Leistungsfähigkeit des Patienten angepassten Rekonditionierungstraining. ●
Korrespondenzadresse:
André Pirlet
Sportwissenschaftler
Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil
6207 Nottwil
E-Mail: andre.pirlet@paranet.ch
Literatur:
1. Borg, G.: Anstrengungsempfinden und körperliche Aktivität in: Deutsches Ärzteblatt 2004, Jhg. 101, Heft 15,
2. Csikszentmihalyi, M.: (2005) Flow. Stuttgart: Klett-Cotta.
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5. Hasenbring, M, Pfingsten M.: Psychologische Mechanismen der Chronifizierung, in: Psychologische Schmerztherapie 2007; 6. Auflage Springer.
6. Heidenreich T., MichalakJ.: Achtsamkeit als Therapieprinzip in Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin. Verhaltenstherapie 2003; 13: 264–274.
7. Hollmann, Hettinger: Sportmedizin, Grundlagen für Arbeit, Training und Präventivmedizin, Schattauer 2000, 4. Auflage
8. Hotz, A. (2005), Koordinative Handlungskompetenz in: Erfolgreich trainieren VDF Hochschulverlag, Hegner, Hotz, Kunz.
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10. Kabat-Zinn J.: Gesund durch Meditation, 1994; 11. Auflage Bern: OW Barth.
11. Kuni, B. Schiltenwolf, M.: Multimodale Rückenschmerztherapie – der trainingswissenschaftliche Aspekt, Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 2009; Jahrgang 60 Nummer 2.
12. Landmark T.: Association between Recreational Exercise and chronic Pain in the general Population: Evidence from the hunt 3 Study; Pain 2011; Vol. 152.
13. Lemmer-Schmid J.: Flowerleben und Achtsamkeit in: Zeitschrift Motopädagogik und Mototherapie. 30. Jahrgang Sept. 2007.
14. Mommert-Jauch P.: Körperwahrnehmung und Schmerzbewältigung im Alltag. Berlin, Heidelberg: Springer, 2000.
15. Pfingsten M.: Chronischer Rückenschmerz-interdisziplinäre Diagnostik und Therapie und Anästhesiologische Intensivmedizin, Notfallmedizin 2009.
16. Pfingsten M.: Rückenschmerzen und Psychologie in: Journal Neurologie, Neurochirurgie, Psychiatrie 2011, 2012 (1).
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