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SERIE: MULTIPLE SKLEROSE TEIL 3
Lieber Leser, liebe Leserin Die Multiple Sklerose ist trotz neuer Medikamente und intensiver Forschungsbemühungen eine bis heute unheilbare und chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems. In einer mehrteiligen Serie möchten wir Ihnen die vielfältigen Gesichter dieser Krankheit nahebringen. PD Dr. Michael Linnebank, Leitender Arzt Neurologie am Universitätsspital Zürich (USZ), und das Team der Neurologie am USZ stellen Ihnen Fallbeispiele aus der Sprechstunde für die praxisorientierte Fortbildung vor.
Sexualfunktionsstörungen bei Multipler Sklerose
Eine Sexualfunktionsstörung (SF) ist ein häufiges Symptom bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) und betrifft Männer und Frauen gleichermassen. Eine SF schränkt die Lebensqualität ein, weshalb in der Sprechstunde gezielt danach gefragt werden sollte.
D ie Prävalenz der SF ist bei MS hoch. Sie kann bei 40 bis 74 Prozent der Patienten im Verlauf der Erkrankung auftreten (1). MS ist eine Erkrankung des jungen Erwachsenenalters, dementsprechend ist die SF ein wesentlicher Aspekt für die Lebensqualität, weil sie neben den zwischenmenschlichen Beziehungen auch die Fertilität und die Familienplanung beeinflusst.
Früher ging man davon aus, dass bei MS die sexuelle Funktion insbesondere durch die Läsionen im Rückenmark beeinträchtigt ist. Neue Modelle umfassen neben den neurologischen Ursachen auch psychologische und medikamentöse Probleme als Auslöser einer SF. Beispielsweise kann ein eingeschränktes Selbstwertgefühl zu SF führen, wenn aufgrund neurologischer Störungen ein Blasenkatheter eingelegt wird.
Die häufigste Störung bei Männern ist die erektile Dysfunktion (SD), während Frauen vorwiegend über vaginale Sensibilitätsstörungen, Lubrikationsstörungen, verminderte Libido und Anorgasmie berichten. SF werden in Abhängigkeit von der Ursache in primäre, sekundäre und tertiäre Störungen eingeteilt, wobei Überlappungen aller Störungen möglich sind (Kasten 1). Das Problem sollte früh im Krankheitsverlauf angesprochen werden. Studien zeigen allerdings, dass SF in der Praxis unterdiagnostiziert sind und/oder der Patient nicht über sie berichtet.
Kasten 1:
Einteilung und Ursachen der SF bei MS
Primäre SF Durch MS bedingte Läsionen im Nervensystem (Gehirn, Rückenmark, Genital)
Sekundäre SF Beeinträchtigung durch MS-bedingte Einschränkungen: Fatigue, Spastik, Muskelschwäche, Blasenstörung, Schmerz, Sensibilitätsstörung, Tremor, symptomatische Therapien (Antidepressiva)
Tertiäre SF Einschränkungen durch soziale, kulturelle, psychologische Aspekte, z.B. Depression, veränderte Partnerschaftsbeziehung
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SERIE: MULTIPLE SKLEROSE TEIL 3
«Entscheidend ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit»
Sexualfunktionsstörungen bei MS-Patienten gehen im klinischen Alltag oftmals unter. PD Dr. Michael Linnebank sieht mögliche Lösungsansätze in einer interdisziplinären Betreuung der Patienten.
Psychiatrie & Neurologie: Studien zeigen, dass Sexualfunktionsstörungen bei MS unterdiagnostiziert und -behandelt sind. Warum ist das so? Michael Linnebank: Sexualfunktionsstörungen anzusprechen, ist oft ein heikles, sehr persönliches Thema. Häufig sind Patienten in unserer Sprechstunde nicht allein, sondern in der Begleitung von Angehörigen oder engen Freunden, weshalb es für sie schwierig sein kann, über SF zu sprechen. Hilfreich kann es sein, Patienten Fragebögen (Kasten 2) anzubieten, die unter anderem Themen wie SF abdecken.
Könnten andere Strukturen dem MS-Patienten helfen, die Probleme anzusprechen? Michael Linnebank: Die Behandlung von MS-Patienten stellt über Jahre vielschichtige Anforderungen. Entscheidend ist die interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit. Diese möchten wir durch Schaffung eines neu strukturierten MS-Zentrums gewährleisten, in dem Neurologen, Neuroradiologen, Neuro-Urologen, Neuroophtalmologen sowie bei Bedarf Psychiater, Psychologen, Bewegungswissenschaftler, Physiotherapeuten, Gynäkologen und Internisten eng zusammenarbeiten und in dem Advanced Practising Nurses, Vertreter der MS-Gesellschaft und der Patienten lenkend mitwirken.
Kasten 2:
Multiple Sclerosis Intimacy and Sexuality Questionnaire-19 (MSISQ-19)
Ein standardisierter Fragebogen, der es ermöglicht, ein besseres Verständnis von den Auswirkungen der Multiplen Sklerose auf Intimität und Sexualität zu erhalten, ist der MSISQ-19. Enthalten sind 19 Items, die Auskunft geben über verschiedene MS-Symptome während der vergangenen sechs Monate und ihre Auswirkung auf die sexuelle Aktivität.
Michael Linnebank
Welche Aufgaben werden die Advanced Practising
Nurses haben?
Michael Linnebank: Speziell ausgebildete MS-Pflege-
fachfrauen sind in direktem, kontinuierlichem Kontakt zu
den Patienten. Derartige Strukturen sollen helfen, Ver-
trauen als Basis einer offenen Kommunikation zu schaf-
fen, um auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Pro-
bleme der Patienten gut eingehen zu können. Finden
sich im Gespräch oder in Fragebögen Hinweise auf das
Vorliegen von SF, halte ich es grundsätzlich für richtig,
Urologen, Gynäkologen und Psychiater in die Diagnostik
und gegebenenfalls Therapie mit einzubeziehen. Auch
bietet die Klinik für Ambulante Psychiatrie und Psycho-
therapie eine sexualmedizinische Sprechstunde, in der
erfolgreich psychische und körperliche Ursachen von SF
diagnostiziert und behandelt werden.
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Korrespondenzadresse: PD Dr. Michael Linnebank
Leitender Arzt Neurologie
UniversitätsSpital Zürich E-Mail: michael.linnebank@usz.ch
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Referenz:
1. Bronner G, Elran E, Golomb J, Korczyn AD.: Female sexuality in multiple sclerosis: the multidimensional nature of the problem and the intervention. Acta Neurol Scand: 2010: 121: 289–301.
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