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Schlaf und Kognition im Alter
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Störungen des Schlafs wie auch der kognitiven Leistungsfähigkeit nehmen mit steigendem Alter zu. Da zwischen Schlaf und Kognition eine enge wechselseitige Beziehung besteht, kommt im Hinblick auf eine gute Alltagsfunktionalität der Behandlung von Schlafstörungen im Alter ein hoher Stellenwert zu.
Ulrich Michael Hemmeter
Ulrich Michael Hemmeter
D urch eine Vielzahl an Studien ist gut belegt, dass Schlaf die kognitive Leistungsfähigkeit beeinflusst. Nicht nur das Ein- und Durchschlafen, auch die einzelnen Anteile des Schlafs wie Tief- und REM-Schlaf sowie Mikroelemente des Schlafs wie Schlafspindeln und K-Komplexe stehen mit spezifischen kognitiven Funktionen in engem Zusammenhang. Eine Veränderung des Schlafs im Rahmen des gesunden Alterns könnte damit einen Anteil an der Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit haben. Von besonderer Relevanz erscheinen die Störungen des Schlafs, die im Alter aufgrund verschiedener Erkrankungen zunehmen und bei Erkrankungen mit Störungen der Kognition, insbesondere der Demenz, eine Rolle spielen.
Kognitive Störungen im Alter Der Begriff der Kognition wird im allgemeinen Sprachgebrauch häufig mit der alleinigen Funktion des Gedächtnisses gleichgestellt. Unter dem Begriff der Kognition subsumiert sich jedoch weit mehr. Er umfasst alle «Fähigkeiten eines Menschen, die zur Orientierung in der Welt und zur Anpassung an seine Umwelt benötigt werden» (Zimbardo, 1995). Neben der reinen Gedächtnisfunktion handelt es sich unter anderem um die Funktion der Aufmerksamkeit, sprachliche Fertigkeiten, exekutive Funktionen im Sinne von planendem und problemlösendem Denken sowie visuell-konstruktiven beziehungsweise orientierenden Fähigkeiten und der psychomotorischen Geschwindigkeit (Kaminski und Neisser, 1994; Zimbardo, 1995). Mit zunehmendem Alter kommt es zu einer Veränderung der kognitiven Leistungsfähigkeit, die im Rahmen des normalen Alterungsprozesses einzelne Komponenten der Kognition unterschiedlich betreffen: So nimmt die Leistung des Arbeitsgedächtnisses und des episodischen Gedächtnisses (Wissen über subjektiv Erlebtes) ab. Weniger betroffen sind das semantische Gedächtnis, das autobiografische Gedächtnis, das Wiedererkennen früher gelernter Information und emotionale Gedächtnisinhalte (Buckner, 2004; Hedden und Gabrieli,
2004). Der Zugriff auf semantische Gedächtnisinhalte, die das Faktenwissen beziehungsweise das «Wissen über die Welt» betreffen, aber auch die Zugriffsgeschwindigkeit darauf, scheinen hingegen im Alter nicht beeinträchtigt zu sein (Mayr und Kriegl, 2000). Eine Ausnahme bildet die semantische Information, die neu gelernt wird, sie unterliegt ebenso wie die episodische Information einem Alterseffekt (Prull et al., 2000). Als neuropathologisches Substrat für die kognitiven Veränderungen im Rahmen des gesunden Alterns wird eine verminderte Kapazität des frontostriatalen Kreislaufs angenommen, während Veränderungen des medialen temporalen Gedächtnissystems als Grundlage für die kognitiven Störungen bei der Alzheimer-Erkrankung gesehen werden (Buckner, 2004; Hedden und Gabrieli, 2004). Eine Reduktion der Kapazität des frontostriatalen Kreislaufs kann zu veränderten beziehungsweise abgeschwächten Interaktionen mit dem Hippocampus führen (Anderson et al., 2000; Hedden und Gabrieli, 2004; Tisserand und Jolles, 2003) und so die deklarative Gedächtnisleistung negativ beeinflussen. Auf neurochemischer und neuroendokriner Ebene sind vor allem die Sekretion von Kortisol und Veränderungen der dopaminergen und cholinergen Neurotransmission eng mit der Funktion des deklarativen Gedächtnisses (umfasst das semantische, episodische und autobiografische Gedächtnis) bei älteren Menschen verbunden (Bäckmann et al., 2000; Hedden und Gabrieli, 2004; Iversen, 1998; Lupien et al., 1998; Terry und Buccafusco, 2003). Im Gegensatz zum deklarativen Gedächtnis scheint das prozedurale Gedächtnis (Erlernen von komplexen automatischen Handlungsabläufen wie zum Beispiel Skifahren, Schwimmen) weitgehend unabhängig von hippocampalen Strukturen zu sein (Milner et al., 1998; Squire and Zola, 1996) und unterliegt nur in geringerem Ausmass einem Alterseffekt (Prull et al., 2000). Forschungsergebnisse, die das prozedurale Gedächtnis betreffen, zeigen aber auch, dass der Erwerb neuer Fähigkeiten im Alter einfach langsamer erfolgt (Prull et al., 2000). Neuropathologisch sind vor allem neostriatale und zerebelläre Hirnregionen von grosser Relevanz, die in diesen Hirnregionen eine altersbezogene Reduktion
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des Volumens und der metabolischen Glukoserate aufweisen und (Brickman et al., 2003; Doyon et al., 2002; Laforce und Doyon, 2002; Raz et al., 2001, 2003) im Zusammenhang mit den zum Teil beobachteten altersabhängigen Leistungsminderungen des prozeduralen Gedächtnisses stehen könnten. Auch die Leistungen in exekutiven Aufgaben wie zum Beispiel dem Trail-Making-Test zeigen – insbesondere, wenn Geschwindigkeitskomponenten vorhanden sind – einen klaren Alterseffekt (Mayr et al., 1996). Als generelles neurobiologisches Substrat kommt hierfür insbesondere der präfrontale Kortex infrage. Insgesamt kommt es im Alter zu einer kontinuierlichen Abnahme der «Geschwindigkeit», mit der kognitive Prozesse ablaufen. Die generelle Abnahme kognitiver Fähigkeiten verläuft vor dem 60. Lebensjahr in geringerer Form (Standardabweichungen [SD] 0,02–0,03) als nach dem 60. Altersjahr (SD: 0,04–0,05) (Salthouse, 2009).
Kognitive Störungen im Alter mit Krankheitswert Im Gegensatz zu den hier beschriebenen kognitiven Veränderungen im Rahmen des normalen Alterungsprozesses treten kognitive Störungen mit Krankheitswert mit zunehmendem Alter häufiger auf. Der Krankheitswert besteht insbesondere darin, dass das Ausmass der kognitiven Störungen deutlich über die altersbedingte Normvariation hinausgeht und/oder eine durch die kognitive Störung bedingte Einschränkung der Alltagsfunktionalität besteht. Im Rahmen der Leipziger Langzeitstudie in der Altenbevölkerung (LEILA75+), in der Daten an 1692 Personen über 75 Jahre erhoben wurden, ergab sich bei jeder fünften Person (19,3%) eine kognitive Beeinträchtigung, die den Kriterien einer leichten kognitiven Störung (Mild Cognitive Impairment, MCI) entsprach. Bei 40,2 Prozent dieser Personen entwickelte sich innerhalb eines mittleren Beobachtungszeitraums von 4,3 Jahren eine manifeste Demenz. Die Konversionsrate lag deutlich höher als bei den Personen, die zur Baseline keine kognitive Beeinträchtigung zeigten (Luck et al., 2008). Zentral für die Diagnose einer MCI oder einer Demenz ist das Vorliegen einer Gedächtnisstörung. Das Muster der weiteren kognitiven Beeinträchtigungen kann stark variieren, je nach Art der dem demenziellen Syndrom zugrunde liegenden Störung (kortikale, subkortikale, frontotemporale, vaskuläre Demenz). Am besten untersucht ist diesbezüglich die Alzheimer-Demenz. Bei beginnender Alzheimer-Demenz finden sich Störungen des deklarativen, insbesondere des episodischen Gedächtnisses, es liegt einer Störung des Enkodierens von neuem Lernmateriel (Speicherstörung) wie auch eine höhere Vergessensrate vor, wobei diese Störungen verbales und nonverbales Material betreffen. Hinzu kommt eine reduzierte Merkspanne, Probleme bei der Benennung von Gegenständen und der Wortfindung. Im weiteren Verlauf findet kein Lernzuwachs mehr statt, der Zugang auch zum Altgedächtnis wird erschwert, semantische Gedächtnisinhalte und episodisch-biografische Erinnerungen werden lückenhaft (Jahn, 2004). Zudem finden sich eine Reduktion der Aufmerksamkeitsfunktionen, der Visuokonstruktion und der Exekutivfunktionen. Das prozedurale Gedächt-
nis wie auch das implizite Lernen hingegen bleiben lange weitgehend unbeeinträchtigt (Lautenbacher und Gaugel, 2004).
Altersbedingte physiologische Veränderungen des Schlafs Die Veränderung des Schlafs über das Lebensalter zeigt sich durch einen kürzeren und leichteren Schlaf mit häufigeren nächtlichen Wachphasen. Anhand von Ableitungen der nächtlichen hirnelektrischen Aktivität während des Schlafs (Schlaf-EEG) lassen sich diese Veränderungen objektivieren. Die Schlafkontinuität ist durch eine geringere Schlafeffizienz geprägt. Die leichten Schlafstadien des Non-REM-Schlafs (Stadien 1 und 2) treten häufiger auf, und die tiefen Schlafstadien (Stadien 3 und 4) wie auch der REM-Schlaf – wenngleich geringer ausgeprägt als der Tiefschlaf – nehmen im Alter ab (Ohayon et al., 2004; Vitiello, 2006) (Kasten, Abbildung 1). Die Schlaf-Wach-Regulation sowie die Regulation des Non-REM- und des REM-Schlafs unterliegen neuroche-
Kasten:
Altersbedingte Veränderung des Schlaf-EEGProfils gegenüber dem jüngeren Erwachsenenalter
Schlafkontinuität Einschlafzeit Effektive Schlafzeit Schlafeffizienz Aufwachphasen
Schlafarchitektur Stadium 1 Stadium 2 Tiefschlaf
REM-Schlaf
Stadium I: Leichter Schlaf, kurz nach dem Einschlafen. Stadium II: Thetawellen treten auf sowie Schlafspindeln und K-Komplexe.
Abbildung 1: Veränderungen des Schlafs (Hypnogramm) und der nächtlichen hormonellen Sekretion im Alter und bei Depression.
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mischen und neuroendokrinen Prozessen, die an zirkadiane und homöostatische Prozesse gekoppelt sind. Eine wichtige Rolle nehmen Wachstumshormon (homöostatische Komponente) und Kortisol (zirkadiane Komponente) ein. Beide Hormone werden zentral über Neuropeptide reguliert, zu denen das Wachstumshormon-freisetzende Hormon (GHRH) Somatostatin sowie CRH und Vasopressin gehören (Steiger, 1995, 2006). Zwischen der im Schlaf-EEG sichtbaren Schlafphysiologie und der hormonellen Sekretion von Wachstumshormon (GH) und Kortisol wie auch anderen schlafassoziierten Hormonen besteht eine bidirektionale Interaktion, wobei die Neuropeptide GHRH und CRH als gemeinsame Regulatoren des Schlafs und der hormonellen Sekretion angesehen werden (Abbildung 1). Im zunehmenden Alter verändert sich die sekretorische Aktivität beider Hormone: Die GH-GHRH Komponente nimmt ab, wodurch der Non-REM-Schlaf weniger intensiv wird; die basale Aktivität des CRH und des Kortisols nimmt hingegen etwas zu. Diese Veränderungen beider neuroendokriner Achsen stehen mit einem leichteren und verkürzten Schlaf mit vermehrten Aufwachphasen sowie weniger Tiefschlaf in Zusammenhang (Abbildung 2).
Abbildung 2: Die Abbildung zeigt eine bessere deklarative Gedächtnisleitung (Paar-Assoziations-Lernen) unter Schlaf in der ersten Nachthälfte (viel Tiefschlaf) und eine bessere prozedurale Gedächtnisleistung in der zweiten Nachthälfte (viel REM-Schlaf) jeweils im Vergleich zum Wachzustand.
Hinzu kommt, dass auch die zirkadiane Komponente der Schlafregulation im Alter verändert ist. Die zirkadianen Rhythmen der Körperkerntemperatur, des Melatonins und des Kortisols sind bei älteren Menschen um zirka eine Stunde nach vorn verschoben (Phase advance) mit flacherer, um bis zu 30 Prozent reduzierter Amplitude (Pace-Schott, 2012). Das führt zu einem leichteren und unruhigeren Schlaf mit früherem Erwachen, wie er bei älteren Menschen häufig zu beobachten ist. Als neuropathologische Grundlage dieser zirkadianen Veränderung wird eine Reduktion der neuronalen Aktivität im Nucleus suprachiasmaticus, dem endogenen zirkadianen Schrittmacher angesehen (Hofmann und Swaab, 2006).
Als Folge dieser altersbedingten Veränderungen der schlafassoziierten hormonellen Sekretion von Kortisol und Wachstumshormon sowie des veränderten zirkadianen Rhythmus besteht eine erhöhte Anfälligkeit für Störungen des Schlafs durch exogene Faktoren (Stressoren).
Schlafstörungen mit Krankheitswert im Alter Mit zunehmendem Alter steigt auch die Anzahl von Schlafstörungen mit Krankheitswert. Dies ist mit Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionalität und weiteren Folgeerkrankungen verbunden. Wesentlicher Grund für diese Zunahme sind altersspezifische – mit Schlafstörungen einhergehende – Erkrankungen mit meist vorliegender medikamentöser Behandlung und Auswirkungen auf den Schlaf sowie die beschriebenen physiologischen Veränderungen im Rahmen des normalen Alterungsprozesses, die zu einer erhöhten Anfälligkeit für die Entwicklung von Schlafstörungen prädestinieren (Hemmeter et al., 2011). In der amerikanischen EPESE-Longitudinalstudie (Epidemiologic Studies of the Elderly) mit dreijährigem Follow-up gaben 57 Prozent der älteren Menschen mindestens eine chronische Schlafstörung, insbesondere Ein- und Durchschlafstörungen, an (Foley et al., 1995). Die weitere Datenanalyse zeigt einen engen Zusammenhang zwischen Insomnie und dem Auftreten von depressiver Stimmung, Atemstörungen, schlechter Gesundheit oder körperlicher Behinderung. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine kürzlich vorgestellte Schweizer Studie mit 1002 Personen (Delini Stula et al., 2007). Weitere experimentelle Daten zeigen, dass Schlafentzug und eine reduzierte nächtliche Schlafzeit mit Anstiegen des Blutdrucks (Ogawa et al., 2003) und der C-reaktiven Proteinkonzentrationen (Meier-Ewert et al., 2004) assoziiert sind. Beide Parameter gelten als prädiktiv für kardiovaskuläre Mortalität. Eine reduzierte Schlafzeit von < 6 Stunden geht mit einer Zunahme an Diabetes mellitus und einer verminderten Glukosetoleranz einher (Gottlieb et al., 2005). Es ist anzunehmen, dass sich diese Zusammenhänge im Alter aufgrund des häufigeren Auftretens von Stoffwechselstörungen und kognitiven Störungen bei gestörtem Schlaf noch wesentlich stärker auswirken als im jungen Erwachsenenalter. Neben den genannten Faktoren nehmen auch spezifische, primäre Schlaferkrankungen wie das Restless-Legs-Syndrom (RLS) oder schlafbezogene Atemstörungen im Alter zu (Ancoli-Isreal et al., 1991; Ohayon et al., 2002; Feinsilver, 2003). Intensive Schlafstörungen treten zudem bei altersbedingten Depressionen und bei Demenzen auf, wobei gerade bei Patienten mit Demenz die Schlafstörung oft nicht erkannt oder in ihrem Ausmass nicht richtig eingeschätzt wird (Rocamora et al., 2005).
Zusammenhang zwischen Schlaf und Gedächtnis Gestörter Schlaf führt in der Regel zu einer Reduktion der kognitiven Leistungsfähigkeit, wobei zunächst die Funktionen der Aufmerksamkeit wie auch die Gedächtnisfunktionen betroffen sind (van Dongen et al., 2004). Auf der Basis dieses klinisch beobachtbaren Zusammen-
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hangs hat sich die Forschung in den letzten Jahren der Aufdeckung spezifischer Beziehungen zwischen einzelnen Elementen des physiologischen Schlafs und definierten kognitiven Leistungen zugewandt. Im Rahmen dieser Studien ergab sich, dass die neurophysiologische Aktivität einzelner Schlafstadien eng mit spezifischen Aspekten kognitiver Funktionen verbunden ist (Born und Plihal, 2000; Stickgold et al., 2000). Mit wenigen Ausnahmen wird insbesondere ein Zusammenhang zwischen Schlaf und deklarativer Gedächtnisleistung gefunden. Dabei zeigt sich einerseits ein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Schlafspindeln nach einer deklarativen Lernaufgabe (Gais et al., 2007; Schabus et al., 2004), andererseits ein Zusammenhang zwischen Gedächtniskonsolidierung und Tiefschlaf (Plihal und Born et al., 1997; Abbildung 2; Gais et al., 2007). Emotional getönte Gedächtnisinhalte scheinen von einem ungestörten Schlaf besonders zu profitieren, aber eher mit REM- als mit Tiefschlaf assoziiert zu sein (Wagner et al., 2001, 2005). Die Beeinflussung von Schlafspindeln durch eine vorherige deklarative Lernaufgabe lässt sich durch die im Rahmen präklinischer Forschung beobachtete Interaktion zwischen kortikalen Schlafspindeln, wie sie im Schlaf-EEG sichtbar sind, und hippocampaler Aktivität im Schlaf erklären (Siapas und Wilson, 1998; Sirota et al., 2003) sowie mit neokortikaler Aktivität (Gais et al., 2002; Siapas und Wilson, 1998). Während des Tiefschlafs zeigt sich zudem eine Interaktion zwischen präfrontalem Kortex und Hippocampus, die als Gedächtnistransfer vom Hippocampus zum Neokortex interpretiert werden kann (Mölle und Born, 2009). Schlafentzug hingegen führt zu einer Suppression der Langzeitpotenzierung und Neurogenese im Hippocampus (Guzman-Marin et al., 2005). Aber nicht nur nächtlicher Schlaf ist mit aktiven Gedächtnisprozessen assoziiert, auch ein kurzer Mittagschlaf während des Tages hat positive Effekte auf die deklarative Gedächtniskonsolidierung (Schabus et al., 2004; Lahl et al., 2008). Das prozedurale Gedächtnis scheint vor allem mit Schlafstadium 2 (Nader und Smith, 2003; Morin et al., 2005) und dem REM-Schlaf assoziiert zu sein. Dabei wirkt sich der REM-Schlaf in spezifischer Weise positiv auf die prozedurale Gedächtnisleistung aus (Smith, 1996; Marschall und Born, 2007). Nach Schlafentzug in der zweiten Nachthälfte zeigten gesunde Probanden im Anschluss eine schlechtere prozedurale Gedächtnisleistung als unter ungestörtem Schlaf. Schlafentzug in der ersten Nachthälfte hat demgegenüber keinen Effekt auf die prozedurale Gedächtnisleistung (Plihal und Born, 1997; Abbildung 2). Diese Ergebnisse weisen auf eine aktive Rolle des Schlafs bei der Gedächtnisbildung – im Sinne einer die Gedächtniskonsolidierung fördernden Wirkung – hin. Auch für prozedurale Gedächtnisprozesse wurde ein positiver Effekt durch einen kurzen Mittagschlaf beobachtet (Backhaus und Junghans, 2006; Korman et al., 2007), wobei der positive Effekt nur dann auftrat, wenn der Mittagschlaf REM-Schlaf umfasste (Tucker et al., 2006), was nicht zwingend der Fall sein muss. Insgesamt liegen viele Befunde vor, die für einen Zusammenhang zwischen Schlaf und Gedächtnis sprechen, die exakten Mechanismen dieses Zusammenhangs bedürfen weiterer Abklärungen.
Die Interaktion zwischen Schlaf und Kognition bei gesundem Altern Erst seit wenigen Jahren wird der Zusammenhang zwischen Schlaf und Gedächtnis im Alter untersucht (Hornung et al., 2005; Pace-Schott et al., 2012). In einer grossen Longitudinalstudie mit mehr als 6000 Personen über 65 Jahre ohne kognitive Einbussen kam es vor allem bei jenen Personen zum Auftreten von kognitiven Störungen, die zur Baseline eine Schlafstörung angegeben hatten (Cricco et al., 2009). In experimentellen Studien hingegen zeigt sich, dass ältere Menschen gegenüber Schlafentzug und Schlafrestriktion resistenter sind als jüngere. Sie weisen geringere Einbussen auf in der kognitiven Leistungsfähigkeit nach Schlafentzug (Bonnet und Anand, 1989) und Schlafrestriktion (Bliese et al., 2007). Die Einbussen betreffen vor allem die Funktionen der Aufmerksamkeit und der Vigilanz (Pace-Schott et al., 2012). Die schlafabhängige Gedächtniskonsolidierung scheint mit zunehmendem Alter beeinträchtigt (Spencer et al., 2007; Siengsukon und Boyd, 2008, 2009). Backhaus et al. (2007) konnten jedoch aufzeigen, dass ältere Personen, die einen gewissen Tiefschlafanteil aufweisen, auch eine Gedächtniskonsolidierung zeigen.
Schlaf und Kognition bei alterassoziierten Störungen
Depression und kognitive Störungen Depressive Erkrankungen werden laut WHO-Bericht bis zum Jahr 2030 weltweit die häufigsten Erkrankungen sein. Und der Anteil älterer Menschen in den westlichen Industrieländern ist nicht unerheblich daran beteiligt. Bereits jetzt liegt die Prävalenz für Depression beim Grundversorger bei zirka 6 bis 9 Prozent der Patienten. In Alters- und Pflegeheimen liegt sie mit 10 bis 20 Prozent deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung (Schwärzler und Wormstall, 2005; Hatzinger, 2011). Depressive Patienten weisen eine charakteristische Veränderung des Schlafprofils auf, das durch eine verlängerte Einschlafzeit, eine Durchschlafstörung und ein Früherwachen gekennzeichnet ist. Hinzu kommen Veränderungen der Schlafarchitektur, die sich in einer Reduktion des Tiefschlafs und einer Zunahme und Vorverlagerung des REM-Schlafs zu Schlafbeginn zeigen (Riemann et al., 2001; Benca und Peterson, 2008). Auch kognitive Störungen lassen sich bei depressiven Patienten nachweisen und sind bei der Altersdepression intensiviert. Neben Störungen der Aufmerksamkeit und der Psychomotorik sind auch exekutive Funktionen sowie insbesondere verbales und visuelles Lernen und Gedächtnis betroffen (Reppermund et al., 2009). Diese Störungen sind assoziiert mit einer schlechteren Alltagsfunktionalität (Jäger et al., 2006), höheren Rückfallraten und einem instabileren Verlauf (Fossati et al., 2002). Die Frühintervention bei kognitiven Störungen wiederum kann die Häufigkeit depressiver Episoden reduzieren (Clark et al., 1999; Jarrett et al., 2001). In der einzigen Studie zur schlafassoziierten Gedächtniskonsolidierung bei depressiven Patienten bleibt im Unterschied zu gesunden Probanden ein Lernzuwachs über die Nacht bei einer vor dem Schlaf gelernten Aufgabe aus (Dresler et al., 2011; Abbildung 3).
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Abbildung 3: Bei Patienten mit Depression kommt es im Vergleich zu gesunden Probanden zu keinem Anstieg der Gedächtnisleistung während des Schlafs (Konsolidierung).
Demenz und kognitive Störungen Auch Patienten mit Demenz leiden häufig an Schlafstörungen. Am besten untersucht ist die Gruppe der Patienten mit Alzheimer-Demenz. Neben einer Störung der Schlafkontinuität findet sich als weiteres charakteristisches Merkmal eine Reduktion des REMSchlafs über die gesamte Nacht, ein leichterer Schlaf und bei einigen dieser Patienten ein reduzierter Tiefschlaf sowie eine geringere Zahl an Schlafspindeln (Bliwise, 2004). In bisher zwei durchgeführten Studien zum Thema Schlaf-EEG und Kognition an dieser Patientengruppe wurde ein enger Zusammenhang zwischen einer schlechteren kognitiven Leistungsfähigkeit, insbesondere im deklarativen Gedächtnis, und reduzierter Spindelaktivität (Rauchs et al., 2008) sowie reduziertem Stadium 2 (Kundermann et al., 2011) gefunden.
Schlussfolgerungen und Ausblick Der enge Zusammenhang zwischen Schlaf und kognitiver Leistungsfähigkeit legt eine bessere kognitive Leistungsfähigkeit bei guter Schlafkontinuität und ungestörter Schlafarchitektur mit physiologischer und ausreichender Verteilung von Tiefschlaf, REM-Schlaf und weiteren Strukturen des Schlafs wie Schlafspindeln nahe. Störungen des Schlafs nehmen im Alter insgesamt zu. Hierzu zählen Depressionen, aber auch primäre Schlafstörungen wie das Restless-Legs-Syndrom, schlafbezogene Atemstörungen und eine Vielzahl somatischer Alterserkrankungen. Diese Schlafstörungen können über die beschriebenen Mechanismen des Zusammenhangs zwischen Schlaf und Kognition mit Störungen der kognitiven Leistungsfähigkeit einhergehen oder bereits bestehende kognitive Störungen intensivieren.
Andererseits gehen auch primäre kognitive Störungen,
insbesondere Demenzen, vielfach mit Störungen des
Schlafs einher. Eine Regulierung des Schlafs sollte unter
diesen Aspekten nicht nur die Schlafkontinuität, son-
dern vor allem auch die Regulierung der Parameter
Tiefschlaf, Spindeln und REM-Schlaf betreffen. Das kann
durch ein Management auf Verhaltensebene (Schlafhy-
giene) – unter Berücksichtigung der homöostatischen
und zirkadianen Komponenten der Schlafregulation –
oder durch gezielte pharmakologische Beeinflussung
einzelner Schlafstadien erfolgen. Bei allen genannten
Erkrankungen könnte sich dadurch die kognitive Leis-
tungsfähigkeit verbessern. Eine Überprüfung dieser
Ansätze steht aber noch weitgehend aus.
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Korrespondenz:
PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter
Kantonale Psychiatrische Dienste St. Gallen
Sektor Nord
Center of Education and Research (COEUR)
Zürcherstrasse 30
9500 Wil
E-Mail: ulrich.hemmeter@gd-kpdw.sg.ch
Übersichtsarbeiten zum Artikel:
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Ein vollständiges Literaturverzeichnis erhalten Sie unter: info@rosenfluh.ch
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