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Psychopathen oder «Psychopaths» – die Renaissance eines Begriffs
In den letzten 20 Jahren erlebte der Begriff der Psychopathie in Fachkreisen – allerdings in einer grundlegend anderen Anwendung – eine Renaissance. Warum forensische Psychiater heute wieder von Psychopathie sprechen, was sie damit meinen und wie viel Respekt im Umgang mit «Psychopathen» angemessen ist, versucht dieser Artikel darzulegen.
Anke Ripper Josef Sachs
3/2012
Anke Ripper, Josef Sachs
D er Begriff der Psychopathie hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Früher verstand man darunter das, was wir heute Persönlichkeitsstörung nennen. Der moderne Psychopathiebegriff hingegen stammt aus Nordamerika und wurde zur Identifizierung von besonders rückfallgefährdeten Gewaltverbrechern entwickelt. Insofern sind Menschen, denen eine «Psychopathy» im heutigen Sinne attestiert wird, definitionsgemäss gefährlich. Allerdings gibt es auch Menschen, die die Kriterien einer Psychopathy erfüllen und (noch?) nie straffällig geworden sind. Diese Gruppe ist wenig erforscht, sodass sich über das Risiko, das von ihnen ausgeht, wenig aussagen lässt.
Die Entstehung des Psychopathie-Begriffs Der erste Psychiater, der sich eingehend mit psychopathischen Persönlichkeiten befasste, war der Franzose Philippe Pinel. Unter dem Begriff «Manie sans délir» beschrieb er im Jahre 1801 Menschen, die zwar nicht psychotisch sind, die sich aber durch ihre ausgeprägte Störung des sozialen Verhaltens, ihre Gewissenlosigkeit und ihre Hemmungslosigkeit von «gewöhnlichen» Verbrechern unterscheiden. Schon nach kurzer Zeit wurde Pinels Konzept im angloamerikanischen Raum aufgegriffen. Der Amerikaner Benjamin Rush schrieb in diesem Zusammenhang im Jahre 1812 von einer «innate, preternatural moral depravity» und ging davon aus, dass die Störung auf einen hirnorganisch bedingten moralischen Defekt zurückzuführen sei. In der deutschsprachigen Psychiatrie wurde der Begriff der Psychopathie vorwiegend von Emil Kraepelin geprägt, der ihn zunächst in einen engen Zusammenhang mit der Dissozialität stellte. Später wurde die Bedeutung des Begriffs Psychopathie erweitert auf alle Personen, die sich in ihrem Verhalten, ihren Ansichten und ihrem Denken in einem pathologischen Ausmass vom Durchschnitt der Menschen unterscheiden. Den Ruch des Kriminellen, Amoralischen und Lasterhaften wurde der Psychopathiebegriff allerdings auch nach
dieser Bedeutungsausweitung nicht mehr los, weshalb der Zürcher Psychiater Eugen Bleuler bereits 1916 vor der diskriminierenden Wirkung der Diagnose warnte. Im Jahr 1980 verschwand die Psychopathie mit der Einführung des DSM-III aus der amerikanischen und Anfang der Neunzigerjahre mit der Einführung des Diagnose-Manuals ICD-10 auch aus der europäischen psychiatrischen Diagnostik. Ersetzt wurde er durch den neutraleren Begriff der Persönlichkeitsstörung. Trotzdem wurde der Psychopathiebegriff weder in der deutschen Umgangssprache noch in der Fachsprache je ganz aufgegeben.
Renaissance des Begriffs Psychopathie In den letzten 20 Jahren erlebte der Begriff der Psychopathie in Fachkreisen – allerdings in einer grundlegend anderen Anwendung – eine Renaissance. Anknüpfend an Vorarbeiten von Harvey Cleckley in den Vierzigerjahren, entwickelte der kanadische Psychologe Robert D. Hare ab 1970 Kriterien zur Erkennung von Gefängnisinsassen, deren Rückfallrisiko für schwere Gewaltstraftaten besonders hoch war. Daraus entstand 1980 die Psychopathy-Checklist (PCL), deren Weiterentwicklung, die Psychopathy-Checklist-Revised (PCL-R), bis heute zur Gefährlichkeitsbeurteilung von Gewaltstraftätern eingesetzt wird. Die besonders rückfallgefährdeten Menschen bezeichnete Hare als «Psychopaths», in Abgrenzung zum damals im Angloamerikanischen üblicheren Begriff des «Sociopath», der für Menschen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung benutzt wurde. Die für die Identifizierung der «Psychopaths» notwendigen Informationen wurden aus einem semistrukturierten Interview, der Selbsteinschätzung des Straftäters, aus den Beobachtungen des Untersuchers, aus den Akten und Auskünften von Drittpersonen gewonnen. Für die weitere klinische Forschung stellte Hare eine Liste von Persönlichkeitseigenschaften der «Psychopaths» zusammen und überprüfte in weiteren Studien seine Theorie, wonach sich diese Menschen durch eine besondere Gefährlichkeit auszeichneten. Diverse Studien bestätigten Hares Vermutung: Straftäter, die die
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Kasten: Das Konzept der Psychopathy. Bearbeitet nach R. Hare, 2006.
«Psychopathy»-Kriterien erfüllten, wurden häufiger, schneller und mit gravierenderen Delikten rückfällig als Straftäter, die ähnliche Delikte begangen hatten, diese Kriterien aber nicht erfüllten. Bis heute gehört die Checkliste PCL-R zu den validesten Instrumenten, die der Erkennung der Gefährlichkeit von Straftätern dienen.
Das Konzept der Psychopathie Im Gegensatz zur Psychopathie in der klassischen Psychiatrie vor 1990 ist das neue Konzept der Psychopathy (zur Abgrenzung wird hier oft die englische Schreib-
Tabelle:
Die 20 Items der PCL-R
Item Beschreibung 1 Glibness/Superficial Charm 2 Grandiose Sense of Self Worth 3 Need for Stimulation/
Proneness to Boredom 4 Pathological Lying 5 Conning/Manipulative 6 Lack of Remorse or Guilt 7 Shallow Affect 8 Callous/Lack of Empathy 9 Parasitic Lifestyle 10 Poor behavioral Controls 11 Promiscuous sexual Behavior 12 Early Behavioral Problems 13 Lack of realistic, Long-Term Goals 14 Impulsivity 15 Irresponsibility 16 Failure to accept Responsibility
for own Actions 17 Many Short-term Marital Relationships 18 Juvenile Delinquency 19 Revocation of Conditional Release 20 Criminal Versatility
Deutsche Übersetzung Oberflächlicher Charme Grandiose Selbstüberzeugung Erlebnishunger
Pathologisches Lügen Manipulatives Verhalten Fehlen von Bedauern oder Schuldgefühlen Oberflächliche Affekte Fehlen von Empathie Parasitärer Lebensstil Geringe Verhaltenskontrolle Promiskuitives Verhalten Frühe Verhaltensauffälligkeiten Fehlen realistischer Zukunftspläne Impulsivität Verantwortungslosigkeit Fehlende Verantwortungsübernahme
Viele «Kurzzeitehen» Straffälligkeit im Jugendalter Widerruf einer bedingten Entlassung Vielseitigkeit der kriminellen Vergehen
weise benutzt) keine klassische psychiatrische Diagnose und erscheint nicht in den geläufigen Diagnosemanualen. Es wurde nicht entwickelt, um eine psychiatrische Erkrankung zu beschreiben, sondern diente von Anfang an ausschliesslich der Identifizierung von besonders rückfallgefährdeten Gefängnisinsassen. Zwar besteht eine gewisse Nähe zur (dissozialen) Persönlichkeitsstörung. Die Bezeichnung eines Menschen als «Psychopath» setzt jedoch nicht voraus, dass er die allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung gemäss ICD-10 erfüllt. Er muss nicht einmal die Voraussetzungen für das Vorliegen irgendeiner psychischen Störung erfüllen. Konsequenterweise bezeichnet auch Robert Hare Psychopathy nicht als Diagnose, sondern als klinisches Konzept. Unter den Menschen, die zwar die Psychopathy-Kriterien erfüllen, aber an keiner psychischen Störung leiden, befinden sich möglicherweise die sogenannten «White Collar»-Psychopathen (Kasten). Diese agieren verschlagen und rücksichtslos, haben nur den eigenen Vorteil vor Augen und gehen, wenn es sich für sie auszahlt, auch über Leichen. In der amerikanischen Presse kursierte in den letzten Monaten ein Bericht über Studiendaten, gemäss denen einer von zehn Wall-Street-Mitarbeitenden die PsychopathyKriterien erfüllen soll. Diese angebliche Studie konnte zwar nie verifiziert werden, und die Zahl ist wohl unrealistisch. Zweifelsohne gibt es sie aber, die Psychopathen in Nadelstreifenanzügen. Eine hervorragende Beschreibung des Phänomens findet sich auch im Buch «Snakes in Suits – When Psychopaths go to Work» (vgl. Literaturliste).
Psychopathische Persönlichkeitscharakteristika Menschen mit psychopathischen Persönlichkeitscharakteristika zeichnen sich durch Auffälligkeiten auf drei Ebenen aus: 1. Defizientes Über-Ich: lügnerisch, betrügerisch, ver-
antwortungslos, keine langfristigen Ziele 2. Bindungslosigkeit: oberflächlich, unempathisch,
viele kurze Beziehungen 3. Hemmungslosigkeit: unbeherrscht, promiskuitiv,
kriminell vielseitig, impulsiv. Diese Charakteristika sind in der Psychopathy-Checkliste operationalisiert. Die Checkliste PCL-R besteht aus 20 Items (Tabelle), deren Ausprägung auf einer dreistufigen Skala bewertet wird: ● 0 (die Eigenschaft ist nicht vorhanden) ● 1 (die Eigenschaft ist teilweise vorhanden) ● 2 (die Eigenschaft ist eindeutig vorhanden). Maximal können somit 40 Punkte erreicht werden. Ein Wert von 25 Punkten definiert in Europa das Vorliegen einer Psychopathy. Diesen Wert erreicht gemäss heutigen Schätzungen etwa 1 Prozent der Bevölkerung. Straftäter mit Psychopathy werden durchschnittlich drei- bis fünfmal häufiger mit Gewaltdelikten rückfällig als Straftäter ohne Psychopathy. Wir wissen aber wenig darüber, wie viele der Menschen mit Psychopathy überhaupt je straffällig werden und wie hoch das Gewaltrisiko bei Menschen mit hohem PsychopathyScore ist, die noch nie straffällig geworden sind. Lückenhaft ist auch unser Wissen über die Ätiologie der Psychopathy. In Grossbritannien laufen derzeit Studien über die Ursachen und das Wesen der Psychopathy.
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Dazu werden Reihenuntersuchungen in Gemeinden durchgeführt, um die Prävalenz der Psychopathy zu ermitteln. Aus den gewonnenen Daten sind unter anderem Hinweise darauf zu erwarten, welches die Ursache der Psychopathy ist, welche Beziehung zwischen der Psychopathy und der (dissozialen) Persönlichkeitsstörung besteht und inwieweit Psychopathy für kriminelles Verhalten prädestiniert.
Psychopathinnen Auch auf Frauen treffen die Psychopathy-Kriterien zu. Frauen sind allerdings in der Minderzahl, und ihre Gewaltbereitschaft ist geringer ausgeprägt. Trotzdem gelten immerhin 15 Prozent der amerikanischen Gefängnisinsassinnen als Psychopaths. Derzeit wird überprüft, ob sich die PCL-R für die Beurteilung des Rückfallrisikos von Frauen tatsächlich eignet. Denn ursprünglich wurde sie anhand einer männlichen Straftäterpopulation entwickelt.
Therapie Die Behandlung von Menschen mit Psychopathy ist ausserordentlich schwierig, denn eine unsachgemässe Therapie macht Psychopathen nicht zu besseren Menschen, sondern zu besseren Psychopathen. Auf jeden Fall sollte bei diesen Menschen der Fokus der Psychotherapie nicht die Veränderung der Persönlichkeit, das Empathietraining oder die Entwicklung eines Schuldgefühls sein. Vielmehr ist das Ziel der Therapie die Entwicklung der Fähigkeit des Straftäters, seine Bedürfnisse auf eine prosoziale Art zu befriedigen. Ausgangspunkt der Therapie ist nicht die Motivation, sondern die Motivationslosigkeit. Besonders zurückhaltend sollte man mit der psychiatrischen Hospitalisation von Psychopathen sein, weil sie dazu neigen, die Symptome von Mitpatienten zu übernehmen und zur Manipulation des Behandlungsteams einzusetzen.
Merkpunkte
● Ein «Psychopath» ist ein Mensch mit ganz bestimmten, genau definierten Merkmalen.
● Falls eine Gewaltstraftat begangen wurde, ist die Person in hohem Grad rückfallgefährdet und somit gefährlich.
● Psychotherapeutische Interventionen sind schwierig und zeitaufwändig, aber möglich.
● Über die Gefährlichkeit von nicht vorbestraften Personen mit Psychopathy kann keine gültige Aussage gemacht werden.
● Im Alltag fallen diese Menschen oft durch ihre Oberflächlichkeit, ihre Unehrlichkeit und ihr manipulatives Wesen auf.
Der Psychopath im Alltag
Was bedeuten diese Erkenntnisse für den Alltag? Müs-
sen Sie sich jetzt Sorgen machen, weil Sie Ihren Nach-
barn, Ihren besten Freund, einen Patienten oder den
Mann, der Ihnen Ihren letzten Gebrauchtwagen ver-
kauft hat, in dieser Beschreibung wiedererkennen?
Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung heisst
die Antwort Nein – oder Sie müssen sich zumindest
keine grossen Sorgen machen. Auch gilt: Je älter die
Person ist, an die Sie vielleicht denken, desto eher kön-
nen wir Sie beruhigen – vorausgesetzt, die Person hat
ein blankes Vorstrafenregister. Alle bisherigen Studien
wurden nämlich an Straftäterpopulationen vorgenom-
men, also an Personengruppen, die bereits straffällig
geworden sind. Vorsichtig sein sollten Sie deshalb,
wenn die Person, an die Sie denken, bereits vorbestraft
ist.
Im Zweifelsfall ist es allerdings besser, Geschäfte nicht
mit Psychopathen abzuschliessen. Auch wenn Psycho-
pathen ein gewinnendes Lächeln und eine sanfte
Stimme haben können, sind sie Meister im Lügen und
Betrügen. Sie verfügen über Fähigkeiten, die Schwä-
chen ihres Gegenübers intuitiv zu erkennen. Blitz-
schnell merken sie, wer zuwendungsbedürftig ist oder
sich einsam fühlt. Deshalb ist das Risiko, manipuliert zu
werden, gross. Diesem Risiko können Sie am besten be-
gegnen, wenn Sie Ihre eigenen Schwächen und ver-
steckten Bedürfnisse kennen.
●
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Josef Sachs
Chefarzt Klinik für Forensische Psychiatrie
Psychiatrische Dienste Aargau AG
Postfach 432
5201 Brugg
E-Mail: Josef.Sachs@pdag.ch
Literatur:
Babiak, Paul, Hare, Robert D.: Snakes in Suits – When Psychopaths go to Work. Regan Books (New York, 2006).
Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie (Berlin, 1916).
Bobich, Zeljko: The General Theory of Psychopathy. American Journal of Forensic Psychiatry 27: 45–54 (2006).
Cleckley, Harvey: The Mask of Sanity. Mosby (St. Louis, 1941).
Hare, Robert D.: The Hare Psychopathy, Checklist-Revised. Multi-Health Systems (Toronto 1991).
Hare, Robert D.: Gewissenlos. Die Psychopathen unter uns (Springer Wien – New York, 2005).
Kastner, Heidi: Psychotherapie bei Psychopathie. Neuropsychiatrie, Band 23, Nr. S1: 18–24 (2009)
Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein kurzes Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 7., vollständig umgearbeitete Auflage. 2 Bände (Barth Leipzig, 1903–1904).
Pinel, Philippe: Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou La manie (Paris, 1801).
Rush, Benjamin: Medical inquiries and observations upon the diseases of mind. Kimber & Richardson (Philadelphia, 1812).
Stadtland, Cornelis, Kleindienst, Nikolaus, Kröner, Carolin, Eidt, Matthias, Nedopil, Norbert: Psychopathic Traits and Risk of Criminal Recidivism in Offenders with and without Mental Disorders. International Journal Of Forensic Mental Health 4: 89–98 (2005).
Wong, Steve C. P., Hare, Robert D.: Guidelines for a psychopathy treatment program. MHS Inc., Canada 1998.
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