Transkript
EDITORIAL
Kriminalität betrifft die Gesellschaft als Ganzes
D ie Jahrestagung 2003 der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie in Schaffhausen widmete sich dem Thema «Psychiatrie und Recht», um der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie in ihrer ganzen Vielfalt und Komplexität gerecht zu werden. Dies wird in dem 2005 erschienenen Tagungsband deutlich (1), der die zivil- wie strafrechtlichen Fragen psychiatrischer Tätigkeit, einschliesslich der forensischen Psychotherapie, umfassend vorstellt und Wege für neue Arbeiten öffnet. Der Tagungsband ist mittlerweile das aktuellste schweizerische Sammelwerk hierzu.
Forensische Psychiatrie und Psychotherapie ist von einer vernachlässigten zu einer in der Öffentlichkeit häufig diskutierten Disziplin geworden. Nach dem Motto: «Sex and Crime sell well.» Das gesellschaftliche Bedürfnis nach tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlern anderer, beispielsweise dass die Justiz und die forensischen Psychiater die Schwerverbrecher freilassen, und das Bedürfnis nach Sicherheit hinterfragen indessen nicht, wie es den Patienten und Mitarbeitern forensischer Einrichtungen oder Justizvollzugsanstalten geht. Auch vor wesentlichen Grundrechtsnormen wird im öffentlichen Diskurs nicht haltgemacht; selbst die Todesstrafe wird immer wieder gefordert. Wie der spätere Gründer der Gruppenanalyse, Siegfried H. Foulkes (2), bereits 1944 schrieb, ist Kriminalität kein Problem, das besondere Individuen betrifft, es betrifft vielmehr die Gesellschaft als Ganzes:
«Man kann etwas verallgemeinernd sagen, dass das offensichtliche Trio Krimineller, Gesellschaft, Richter Personifikationen von drei Elementen darstellt, die in jedem von uns und damit in jedem Teil unseres inneren Trios präsent sind, dem Es, dem Ich und dem Über-Ich. Kriminelle handeln auf der äusseren Bühne das aus, was innerlich in jedem von uns stattfindet. Aus Sicht der Psychoanalyse betrifft die psychologische Bedeutung von Verbre-
chen und Strafe jeden Menschen im selben Ausmasse, sei er Geschworener, Krimineller oder Richter. Es wird ebenso offensichtlich, dass die starke Tendenz hin zur Strafe instinktiv primitiven Gesetzen folgt und dass vernünftige Vorgehensweisen starkem Widerstand begegnen.» (1944: 32)
Betrachtet man nur die Täter beziehungsweise die zu begutachtenden Probanden oder die forensischen Patienten isoliert, führt dies nie zur hundertprozentigen Gewissheit darüber, was die Betroffenen in Zukunft an problematischen und gefährlichen Handlungen vollbringen werden. Die von allen gestaltete gesellschaftliche und soziale Welt beeinflusst umgekehrt alle Individuen und damit auch diejenigen, die wegen einer Straftat sanktioniert wurden. Die weltweit höchst unterschiedlichen Raten der schwerwiegenden Gewalt- und Sexualdelikte lassen sich statistisch deutlich weniger durch Unterschiede in den individuellen persönlichen Charakteristika erklären als durch ökonomische und politische Rahmenbedingungen (3). Dass in der Schweiz pro 100 000 der strafmündigen Bevölkerung fast dreimal so viele Personen in der Verwahrung untergebracht sind als in Deutschland (4), liegt nicht daran, dass schweizerische Täter möglicherweise gefährlicher sind als deutsche,
Themenverweise: ● Alzheimer-Krankheit: Der Beitrag von Dr. phil. Michael
M. Ehrensperger, Universitätsspital Basel, erarbeitet sorgfältig und informativ die Bedeutung der aktuell vorgeschlagenen Diagnosekriterien für die Alzheimer-Krankheit heraus. Seite 17
● Multiple Sklerose: Die Leistungssportlerin Nadine Baechler wird im Januar 2010 symptomatisch. Bedeutet die Multiple Sklerose das Ende einer Sportkarriere auf hohem Leistungsniveau? Seite 27
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EDITORIAL
sondern am unterschiedlichen Umgang mit verwandten Phänomenen.
Die beiden Aufsätze dieses Heftes verstehen sich in einer wissenschaftlichen Kultur, die forensische Psychiatrie und Psychotherapie in dieses Spannungsfeld stellt. Anke Ripper und Josef Sachs stellen das sehr häufig zitierte Psychopathiekonzept vor, zeigen seine Bedeutung und Grenzen auf und auch, dass es nicht nur um die anderen gefährlichen Wegzusperrenden geht, sondern dass potenziell gefährliche Menschen viele Jahre lang durchaus unbehelligt ihren problematischen Handlungen nachgehen können, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dies erlauben. Lutz-Peter Hiersemenzel schildert eindrücklich, wie psychisch schwer Erkrankte zwischen Justiz- und Massnahmenvollzug verschoben werden, was deren Behandlung erschwert und letztlich für die Betroffenen persönlich traumatisierend, für die Umgebung kriminologisch problematischer und für die Gesellschaft teurer wird. Sein Plädoyer für bessere Vernetzungen zwischen stationären und ambulanten, zwischen strafrechtlichen und zivilrechtlichen Massnahmen kann nur unterstrichen werden.
Forensische Psychiatrie und Psychotherapie wer-
den heute von der Gesellschaft stärker nachge-
fragt als auch schon. Ihre Antworten sollten
wissenschaftlich fundiert, im Bewusstsein ihrer
Grenzen und mit der gebotenen Klarheit formuliert
sein – dies gelingt den Autorinnen und Autoren
dieses Heftes.
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Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. Klaus Hoffmann
Med. Direktor
Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
Zentrum für Psychiatrie Reichenau
Feursteinstrasse 55
D-78479 Reichenau
E-Mail: k.hoffmann@zfp-reichenau.de
Referenzen:
1. Ebner G, Dittmann V, Gravier B, Hoffmann K, Raggenbass R (Hrsg.).: Psychiatrie und Recht – Psychiatrie et Droit. 2005; Zürich, Basel, Genf: Schulthess.
2. Foulkes SH.: Psycho-Analysis and Crime. The Canadian Bar Review. 1944; Deutsche Übersetzung Kluttig T, Hoffmann K, Nitzgen D.
3. Wilkinson R & Pickett K.: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind; 2009 Frankfurt am Main: Haffmanns & Tolkemitt.
4. Hiersemenzel LP.: Zum Vollzug von stationären Behandlungsmassnahmen in der Schweiz. Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 2011; 18 (3): 84–92.
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