Transkript
«Making the right choices»
KONGRESSBERICHT
14. MS-State-of-the-Art-Symposium
Rund 200 Kongressbesucher nahmen am 14. State-of-the-Art-Symposium in Luzern teil. Am Kongress informierten sich Neurologen und medizinisches Personal über die neuesten Entwicklungen in der Multiple-Sklerose-(MS-)Forschung.
Annegret Czernotta
« U nderstanding MS heterogeneity – making the right choices»: Unter diesem Motto organisierte die Schweizerische MS-Gesellschaft zum 14. Mal das MS-Symposium – erstmals unter der Leitung von Prof. Ludwig Kappos, Universitätsspital Basel, und Prof. Jürg Kesselring, Klinik Valens. Nach wie vor ist die Ursache der Multiplen Sklerose nicht bekannt. Neben der Entzündung im zentralen Nervensystem scheint die Neurodegeneration eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der Behinderungen zu spielen. Allerdings ist fraglich, ob diese unabhängig von der Entzündung ablaufen kann oder die Neurodegeneration die ursächliche Folge einer Entzündung ist. Nachdem Forscher davon ausgingen, dass sich die Entzündung bei der MS auf das Myelin in der weissen Substanz beschränkt, weisen Studien darauf hin, dass sich die Entzündung auch in der grauen Substanz nachweisen lässt. Auch zeigen genetische Studien, dass eine Vielzahl von Genen an der Entstehung der MS beteiligt sind. Für die Krankheitsentstehung braucht es dann ein komplexes Zusammenspiel von genetischen und Umweltfaktoren. Als Konsequenz ist auch das Krankheitsbild der MS kein einheitliches, und die Heterogenität beeinflusst das therapeutische Vorgehen. Deshalb bleiben die Schubfrequenz, das Fortschreiten der Behinderung und die Zunahme an entzündlichen Läsionen in der Kernspintomografie auch weiterhin die wichtigen klinischen Anhaltspunkte für den Krankheitsverlauf.
MS bei Kindern Das Auftreten einer MS im Kleinkindesalter (POMS = Paediatric Onset Multiple Sclerosis) ist äusserst selten und liegt bei schätzungsweise 3 bis 5 Prozent. Fraglich ist, ob Umweltfaktoren auslösend wirken (Kasten). Fast 30 Prozent der Patienten mit POMS erleiden innerhalb der ers-
ten fünf Krankheitsjahre kognitive Einschränkungen. Daten zeigen, dass dies mit einem zu geringen altersentsprechenden Gehirnwachstum gekoppelt ist, aber auch mit einem Verlust an Gehirnvolumen. Schwierig ist die Abgrenzung einer ADEM (akute disseminierte Enzephalopathie) zur MS. Demografische Unterschiede könnten einen Hinweis geben. So sind mehr Mädchen von MS betroffen als Jungen, meist im adoleszenten Alter. Eine ADEM betrifft die eher junge Population unter 10 Jahren, und das ohne geschlechtsspezifische Unterschiede. Die genaue Klassifikation ist wichtig. Laut Prof. Maria Pia Amato, Universität Florenz, musste ein Drittel der AMED-Patienten zur MS reklassifiziert werden, was auch die Therapie beeinflusst. Diese sollte bei der schubförmig-remittierenden POMS neben der Schubprävention und der Behandlung der akuten Beschwerden die Behandlung der kognitiven Symptome umfassen. Die immunmodulierende Therapie ist bei Kindern wirksam, aber rund 30 Prozent der pädiatrischen MS-Patienten erleiden trotzdem einen Schub. Die Frage ist, ob nach einer ausgeschöpften First-Line-Therapie auch Medikamente wie Natalizumab, Cyclophosphamid oder Mitoxantron in Erwägung gezogen werden sollen, die bis anhin der Second-Line-Therapie angehören. Die Gefahr von Nebenwirkungen und Infektionen ist bei pädiatrischen Patienten hoch. Es seien deshalb mehr evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen nötig, so Prof. Maria Pia Amato. Die Zusammenarbeit verschiedener internationaler Therapiezentren könnte eine solche mögliche Entscheidungsgrundlage liefern.
Neue Entwicklungen in der symptomatischen Therapie Die Therapie der Gangstörungen ist bei MS-Patienten äusserst schwierig. 70 Prozent der Patienten geben an, dass diese Beeinträchtigung das störendste Krankheitselement sei.
Therapeutisch neu ist Fampridin, eine abgewandelte Form von 4-Aminopyridin, einem Kaliumkanalblocker, dessen klinische Effekte darauf zurückgeführt werden, dass er die Leitfähigkeit von demyelinisierten Nervenfortsätzen verbessert. Erste Studienergebnisse mit der Retardformulierung wurden im «Lancet» 2009 publiziert. Gut ein Drittel (35%) sprachen auf das Verumpräparat an: Die Gehgeschwindigkeit verbesserte sich um 25 Prozent. Zu den unerwünschten Nebenwirkungen gehörten Harnwegsinfekte durch Retention und zentralnervöse Störungen wie Schlafstörungen, Schwindel oder Kopfschmerzen. Warum zwei Drittel der Patienten Non-Responder sind, ist unklar. Eine Vorhersage, welche Patienten auf das Retardpräparat ansprechen werden, ist bis anhin unmöglich. In der Schweiz ist Fampridin nicht zugelassen. Die Wirksamkeit von Vitamin D bei MS wird in der Solar-Studie untersucht. Die Häufigkeit von MS nimmt in Regionen mit wenig Sonne zu. In der Solar-Studie erhalten Patienten mit Interferon beta-1a (Rebif®) zusätzlich Vitamin D. Die Studien soll Antworten auf dringende Fragen bringen, beispielsweise, ob auch Kinder behandelt werden müssen oder alle MSPatienten Vitamin D erhalten sollen.
Behandlung der Fatigue Drei Viertel der MS-Patienten sind von einem Fatigue-Syndrom betroffen. Zu den Ursachen gibt es bis anhin nur Hypothesen. Beispielsweise kann das Fatigue-Syndrom bei MS zentral, endokrinologisch oder eventuell bedingt sein aufgrund der inflammatorischen Produkte. Aufgrund einer fehlenden Kausalität ist die Behandlung schwierig. Studien zeigen, dass Yoga und Bewegung die Fatigue lindern. Aber auch Amantadin kann zu einer Besserung führen. Das Arzneimittel wird eigentlich zur Behandlung der durch Influenza-A-Viren verursachten Grippe und zur Behandlung des Parkinson-Syndroms eingesetzt. Bei MS-Patienten zeigte es eine moderate Verbesserung
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KONGRESSBERICHT
14. MS-State-of-the-Art-Symposium
der Ermüdbarkeit bei insgesamt guter Verträg-
lichkeit.
Hervorgehoben wurde am Symposium auch
die Bedeutung nationaler und internationaler
Kooperationen bei Forschungsprojekten. So
beteiligt sich die Swiss MS-Cohort Study an
ähnlichen langfristig angelegten Projekten in
anderen Ländern und kann so das Potenzial
und die Exzellenz der beteiligten Schweizer
Forschenden optimal in internationale Initiati-
ven einbringen.
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Annegret Czernotta
Quelle: 14th State-of-the-Art-Symposium 2012, 28.1.2012, KKL, Luzern
Kasten:
Genetische Faktoren und Umweltfaktoren bei POMS
● Kinder mit MS haben eine erhöhte Prävalenz von HLA-DRB15-Allelen. ● Kinder, deren Eltern rauchen, haben ein zweifach erhöhtes Risiko für MS, und dieses
steigt mit jedem weiteren Jahr, dem sie dem Rauch ausgesetzt sind. ● Kinder mit MS sind häufiger seropositiv auf den Epstein-Barr-Virus. HSV-1- und HADRB1-
Allele zeigen eine starke Interaktion für die Vorhersage von MS. CMV-Infektionen reduzieren das Risiko für eine MS. ● Kinder mit MS haben einen niedrigeren Vitamin-D-Spiegel, und ein niedrigerer VitaminD-Spiegel ist assoziiert mit Rückfällen bei der RRMS (relapsing/remitting MS).
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