Transkript
FORTBILDUNG
Ist Psychotherapie im Alter noch sinnvoll?
In der Psychotherapie alter Menschen ist der Körper, die eigene Biografie und die Altersrelation zwischen Patient und Therapeut besonders wichtig. Die psychotherapeutische Behandlung von Depression, Angst und Demenz im Alter ist speziell, aber genauso wirksam wie in früheren Lebensaltern. Psychotherapie kann auch bei Angehörigen von Demenzkranken erfolgreich eingesetzt werden.
Johannes Kipp
Johannes Kipp
W ann fängt das Alter an? Obwohl die Lebenserwartung der 60-Jährigen in den letzten 100 Jahren bei Männern von 13,1 auf 20,6 Jahre und bei Frauen von 14,2 auf 24,5 Jahre angestiegen ist (1) und sie so noch ein relativ langes Leben vor sich haben, sind oft noch Bilder von 60-Jährigen und vom Ruhestand aus früheren Zeiten in unseren Vorstellungen präsent. Damit verbunden sind Auffassungen, was das Alter ist und wie sich ältere Menschen altersadäquat zu verhalten haben. Kommt man selbst in die Jahre, dann überspringt man keine Schwelle zu diesem, dem dritten Lebensalter, sondern fühlt sich als Erwachsener mit mehr Lebenserfahrung. Erst wenn altersbedingte Einschränkungen, Erkrankungen und Verluste nicht mehr kompensiert werden können, tritt auch subjektiv das Gefühl ein, selbst alt zu sein. In der Gerontologie spricht man dann vom vierten Lebensalter. Bis dahin sind die Älteren mobiler und körperlich jünger als in früheren Zeiten. Auch Menschen, die 80 Jahre alt geworden sind, haben durchschnittlich noch sechs bis sieben demenzfreie Jahre zu erwarten (2). Wenn man also diese Zeitspannen bedenkt, ist es nicht mehr sinnvoll zu fragen, ob es sich «noch» lohnt, eine aufwendige und zum Teil anstrengende psychotherapeutische Behandlung zu beginnen. Denn das Leben älterer Erwachsener ist nicht arm an Belastungen und erfordert eine häufige Anpas-
Merksätze:
● Das Leben älterer Erwachsener erfordert zahlreiche Anpassungsleistungen. Psychotherapie hilft bei der erfolgreichen Bewältigung.
● Die Psychotherapie im dritten Alter ist ähnlich erfolgreich wie bei Jüngeren. ● In der Psychotherapie sind altersspezifische Aspekte zu berücksichtigen. ● Die therapeutische Arbeit mit Demenzkranken ist sinnvoll, um ihre Lebens-
qualität zu verbessern.
sung an Beziehungsverluste, an körperliche Einschränkungen und auch an ökonomische Probleme. Bei solchen Belastungen muss es selbstverständlich sein, dass Unterstützung und Therapie notwendig werden, um Coping und Resilienz zu stärken. Eins sei vorausgeschickt: Psychotherapie im dritten Alter ist erfolgreich, ähnlich wie auch sonst im Erwachsenenleben (3). Insbesondere dann, wenn die Symptome und Konflikte mit akuten Belastungen zusammenhängen und nicht zu stark chronifiziert sind. Über die Psychotherapie im vierten Lebensalter liegen derzeit noch nicht genügend Befunde vor.
Altersspezifische Vorgehensweise Einige spezifische Gesichtspunkte sind bei der Psychotherapie älterer Menschen, unabhängig von der angewandten Methode, zu berücksichtigen: ● die höhere Bedeutung des Körpers ● die besonderen historischen Erfahrungen ● die altersspezifischen psychosozialen Aufgaben ● die Zunahme narzisstischer Kränkungskonflikte,
einhergehend mit einer Zunahme von Suiziden ● die Auseinandersetzung mit altersspezifischen
Rollenerwartungen und ● die Altersrelation zwischen Patient und Therapeut,
die die Übertragung und Gegenübertragung beeinflusst.
Diese Besonderheiten sollen hier ausführlicher beschrieben werden.
Die höhere Bedeutung des Körpers Der Körper bekommt im Erleben einen höheren Stellenwert, wenn auch häufig unter negativen Vorzeichen. Heuft et al. (2006) gehen davon aus, dass bei älteren Menschen nicht mehr so wie früher im Leben die Triebentwicklung und die sozialen Beziehungen das Seelenleben organisieren, sondern dass der Körper mit seinen Beschwerden und Symptomen jetzt der psychische Organisator ist. Besonders nach Verlusten und bei Vereinsamung wird der eigene Körper zum Objekt, und die mehr oder weniger gute Bewältigung von körper-
&20 2/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
lichen Einschränkungen, Beschwerden und Schmerzen gestalten das Erleben und auch die sozialen Beziehungen. Neben körperlich bedingten Störungen werden Beschwerden bei somatisierten Depressionen und somatoformen Störungen von den Betroffenen oft als irreversibel und altersbedingt angesehen, obwohl hier Psychotherapie hilfreich ist.
Die besonderen historischen Erfahrungen Menschen, die jetzt das 65. Lebensjahr überschritten haben, erlebten mehr oder weniger starke Traumata durch Krieg und Notzeit in der Kindheit, wobei diese Einwirkungen in der von einer möglichen Invasion massiv bedrohten Schweiz anders geartet sind als bei Kriegskindern in Deutschland, die Elternverlust, Bombennächte, Flucht und Vertreibung miterlebt haben (4). Bis zu 5 Prozent der ehemaligen Kriegskinder, die von Krieg und Flucht betroffen waren, leiden auch heute noch an posttraumatischen Störungen (5). Ähnliche Belastungen haben auch viele Flüchtlinge (z.B. aus Bosnien) erlebt. Für Männer, die in der Kindheit von ihren Vätern getrennt waren, stellt dies auch noch im Alter einen wesentlichen Störungsfaktor dar (6). Es ist wichtig, solche belastenden Erfahrungen in der Kindheit zu erfragen, da sie spontan selten zur Sprache kommen. Dazu ein Beispiel: Herr R., 78 Jahre alt, litt an Panikanfällen, die vor allem in der Nacht auftraten, einhergehend mit Gefühlen der Vereinsamung. Das Legen eines Stents bei Verdacht auf koronare Minderdurchblutung hatte wenig Entlastung gebracht, ebenso wenig wie die psychotherapeutische Fokussierung auf die Einsamkeit. Erst als der Therapeut nach Kriegserlebnissen fragte – der Patient lebte in der Kindheit in einer Stadt mit Rüstungsindustrie – kamen dem Patienten die nächtlichen Luftangriffe und die schrecklich lauten Flugabwehrgeschütze wieder in den Sinn. Mit der Erinnerung an die damalige angsterregende Realität gingen die Angstanfälle in der Nacht schlagartig zurück.
Besondere psychosoziale Aufgaben Mit dem Älterwerden verändern sich regelhaft die Aufgaben, Beziehungen, Interessen und die Einstellung zu Leben und Tod, auch wenn der Lebenslauf nicht normiert werden kann. Radebold (7) spricht von altersstufenbezogenen psychosozialen Aufgaben, während Peters (8) Entwicklungsaufgaben und Konflikte beschreibt, die im Alter zum Beispiel beim Übergang in den Ruhestand (9) eine neue Sinn- und Identitätsfindung notwendig machen und die, einhergehend mit Veränderungen im Verhältnis zur eigenen Sexualität, Veränderungen in nahen Beziehungen erfordern. Für jüngere Therapeuten ist es wichtig, nicht ihre auf das eigene Alter bezogene Weltsicht auf die Problematik älterer Patienten zu projizieren.
Narzisstische Konflikte und Kränkbarkeit Mit zunehmendem Alter nimmt man wahr – und muss dies auch akzeptieren –, dass die Jüngeren häufig auf der Überholspur sind, und das nicht nur im sportlichen Bereich. Demgegenüber haben die Älteren zwar einen Erfahrungsvorsprung, es ist aber nicht so, dass sich Altersweisheit von selbst entwickelt. Die Verschiebung der Leistungsfähigkeit auf jüngere Generationen führt
dazu, dass die Autorität Älterer infrage gestellt wird, was insbesondere dann mit Kränkungen einhergeht, wenn früher im Leben das Selbstbewusstsein von Stärke und Schnelligkeit abhängig war. Zusätzlich verstärken sich häufig narzisstische Einstellungen nach Verlusten, wenn die Libidobesetzung vom verlorenen Liebesobjekt auf das eigene Selbst zurückgezogen wird (Tertiärer Narzissmus, 10). Die Häufung von Suiziden im Alter, insbesondere bei Männern, steht oft mit narzisstischen Konflikten im Zusammenhang.
Rollenerwartungen Die Rollenerwartungen, die jüngere an ältere Menschen haben – aber auch diese an sich selbst – sind in der Regel extrem eng und konservativ, insbesondere was Beziehung und Sexualität betrifft. In dörflichen Gemeinschaften ist dieser Druck der Erwartungen sicher grösser als in Städten, in denen eine gewisse Anonymität möglich ist. Erwachsene «Kinder» können ebenso wenig wie neiderfüllte Nachbarn akzeptieren, dass sich Ältere nach neuen Beziehungen umschauen, wenn der bisherige Partner verstorben ist oder auch schon, wenn durch Krankheit oder sonstige Faktoren die vorhandene Beziehung nicht mehr befriedigend ist. Hier müssen jüngere Therapeuten ihre Emotionen selbstkritisch reflektieren und sich fragen, ob sie bei den älteren Patienten andere Massstäbe anlegen, weil sie selber noch einem traditionelles Altersklischee verhaftet sind.
Die Altersrelation zwischen Patient und Therapeut Junge Menschen, insbesondere mit einer glücklichen Kindheit, erlebten die Beziehung zu ihren Eltern meist als hilfreich und übertragen diese Erfahrung auf ihren Therapeuten, der in der Regel älter als sie selbst ist. Wird die therapeutische Beziehung als hilfreich erlebt, wirkt sich dies positiv auf die Psychotherapie aus. Ältere Patienten müssen dagegen häufig die Erfahrung machen, dass die Ärzte oder Therapeuten, die sie konsultieren, jünger als sie selbst sind. Sie finden also eine umgekehrte Altersrelation vor, in der nicht sie selbst in der Autoritäts- oder Helferrolle sind, sondern Hilfe bei Jüngeren suchen müssen. In der Übertragung (10, 11) werden jüngere Therapeuten am Anfang der Therapie von den Patienten häufig als Kind angesprochen, im positiven Sinn als ideales, im negativen hingegen als enttäuschendes Kind. So geschieht es nicht selten, dass zu Beginn einer Therapie Therapeuten nach einer anfänglichen Idealisierung plötzlich entwertet werden können. Wird die therapeutische Beziehung dann intensiver, wandelt sich die Übertragung in der Regel, sodass auch der jüngere Therapeut in seiner Eltern- oder Helferposition anerkannt wird. Umgekehrt ist es auch für jüngere Therapeuten häufig nicht einfach, mit älteren Patienten zu arbeiten, wenn chronische Konflikte mit den eigenen Eltern nicht gelöst werden konnten und diese die Emotionen älteren Menschen gegenüber bestimmen. Voraussetzung für eine gelingende Therapie ist es, dass jüngere Therapeuten ihre Gegenübertragung reflektieren und nicht ausagieren.
Psychotherapie im dritten Lebensalter In dieser kurzen Abhandlung ist es nicht möglich, das psychotherapeutische Vorgehen mit älteren Patienten umfassend darzustellen. Deshalb soll hier kurz auf die
2/2012
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
21
FORTBILDUNG
Psychotherapie häufiger Alterskrankheiten, nämlich auf die Behandlung von Depression, Angst und Demenz eingegangen werden, wobei neben den tiefenpsychologisch/psychoanalytischen Vorgehensweisen auch die verhaltenstherapeutischen Möglichkeiten beschrieben werden sollen. Systemisches Denken, dass Patienten auch Symptomträger für einen Familienkonflikt sein können, ist insbesondere bei depressiven Erkrankungen dann sinnvoll, wenn in der Therapie keine Fortschritte gemacht werden (12). Psychotherapeutische Erfahrungen liegen vor allem für Patienten im dritten Lebensalter vor, das heisst für die jungen Alten, die Schwierigkeiten und Verluste noch kompensieren können, während bisher kaum über Therapien mit Menschen, die im vierten Lebensalter (ab 80 bis 85 Jahren) stehen, berichtet wurde (13).
Psychotherapie von depressiven Störungen im dritten Lebensalter Depressionen im dritten Lebensalter werden heutzutage nach denselben Kriterien (ICD und DSM) diagnostiziert wie in jüngeren Lebensaltern. Die depressive Symptomatik hat bei älteren Patienten jedoch eine spezifische Akzentuierung (14) mit: ● Neigung zu ängstlicher Klagsamkeit (Jammerdepres-
sion) ● körperbezogenen Klagen mit hypochondrischer
Überbewertung vorhandener Beschwerden, aber auch mit somatoformen Störungen (sog. larvierte Depression) ● Episoden-überdauernder Restsymptomatik ● häufiger auftretendem depressiven Wahn, insbesondere Verarmungswahn ● Regressionsneigung und Rückzug auch im Sinne von selbstdestruktivem Verhalten ● demenzieller Symptomatik (Pseudodemenz).
Depressionen werden primär überwiegend medikamentös behandelt. Leider scheint die Wirkung der Antidepressiva nur geringgradig besser zu sein als die der Plazebotherapie: Nach der Auswertung von Zulassungsstudien zur Therapie ist der Plazeboeffekt zu 68 bis 89 Prozent verantwortlich für die Besserung einer Depression (15). Die Plazebowirkung ist bemerkenswerterweise bei der Depressionstherapie zwischen 1981 und 2000, also innerhalb von 20 Jahren, um 14 Prozent gestiegen (16). Zur Psychotherapie kommen meist Patienten, die im Vorfeld schon medikamentös behandelt wurden und die in der Regel nicht wesentlich von der medikamentösen Therapie profitiert hatten. Auch wenn bei diesen Patienten oft nicht geklärt wird, ob eine Therapieresistenz nach definierten Kriterien vorliegt, nämlich eine vergebliche vierwöchige Behandlung mit zwei Antidepressiva in einer genügend hohen Dosierung, kann man bei den meisten Patienten von einer relativen Therapieresistenz sprechen.
Psychoanalytisch orientierte beziehungsweise tiefenpsychologisch fundierte Behandlung Generell ist die Behandlung von Patienten, bei denen schon eine medikamentöse Therapie ohne grossen Erfolg durchgeführt wurde, auch psychotherapeutisch nicht einfach (17). Wie die Auswertung von psychoana-
lytisch orientierten Behandlungsberichten (13) zeigt, sind allerdings depressive ältere Patienten, die eine psychotherapeutische Behandlung aufsuchen und bei denen die depressive Symptomatik akut begonnen hat, sei es durch Kränkungen, Belastungen oder Verluste, in der Regel gut behandelbar. Obwohl die Konflikte und Belastungen im Alter meist krankheitsauslösend waren, stellte sich in der therapeutischen Arbeit heraus, dass bei den erfolgreichen Behandlungen Kindheitskonflikte bearbeitet werden. Offensichtlich stellen die Belastungen im Alter eine existenzielle Wiederholung von kindlichen Belastungen und Enttäuschungen dar. Insbesondere Radebold (4) hat zahlreiche Behandlungsberichte publiziert, aus denen hervorgeht, dass auch Patienten, die zuvor langfristig und vergeblich in einer psychiatrischen Klinik behandelt worden waren, von einer ambulanten psychoanalytisch orientierten Behandlung profitieren.
Verhaltenstherapeutische Methoden In der Verhaltenstherapie werden unterschiedliche Verfahren bei älteren depressiven Patienten angewendet. Wichtig ist, die Leistungsfähigkeit der älteren Patienten zu berücksichtigen. Zur operanten Konditionierung gehört der Aufbau angenehmer Aktivitäten. Inzwischen liegen ausgearbeitete Listen angenehmer Aktivitäten für altersdepressive Patienten vor (18), die den Patienten helfen sollen, wieder aktiv zu werden. Wichtig sind auch Selbstständigkeitsinterventionen, wobei es darum geht, Aktivitäten des täglichen Lebens wie das Einkaufen, Kochen, Haushaltsführung und Benutzung von Verkehrsmitteln zu trainieren. Positive Anreize, wie das Erreichen eines Kompetenzgefühls und die Anerkennung oder Freude über das Erlernte, wirken antidepressiv (19). Bei den kognitiven Behandlungsmethoden im Alter kommt es darauf an, typische dysfunktionale Kognitionen bei älteren Patienten zu bekämpfen. Hierzu gehören: ● ein verinnerlichtes negatives Altersstereotyp, dass
das Alter notwendigerweise mit Verlust, Krankheit und Sinnlosigkeit verbunden sei, und ● die Wahrnehmung einer eingeschränkten Lebenszeit, die nicht genügend Zeit übrig lässt, um an Veränderungen in einer Therapie zu arbeiten (19).
Negative Altersstereotypen können mit den üblichen kognitiven Techniken hinterfragt werden. Bei dem Verweis auf die eingeschränkte Lebenszeit könnte der Therapeut fragen: «Nehmen wir an, Sie leben noch drei Jahre oder mehr. Würden Sie diese Zeit gerne so leben, wie Sie es jetzt tun? Wenn eine Änderung möglich wäre, ist es vielleicht nützlich, die nächsten Monate dazu zu verwenden und zu schauen, was noch möglich ist. Wenn Sie recht haben, haben Sie nichts verloren, wenn aber nicht, dann gewinnen Sie auf jeden Fall.» (ebd. 16). Auch wenn Klagen über körperliche Veränderungen im Mittelpunkt der Symptomatik stehen, kann die Erarbeitung funktionaler Kognitionen dabei helfen, dass es dem Patienten besser geht (Vorsatz: Ich richte meine Aufmerksamkeit auf das, was in der Situation angenehm ist). In der Depressionsbehandlung wie in der Arbeit mit traumatisierten Patienten hat sich auch die Lebens-
&22 2/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
rückblick-Intervention bewährt, bei der Lebensbilanzierung und Sinnfindung zu den Kernthemen der Behandlung gehören. In strukturierter Weise wird nach Maercker (5) jeweils in ein bis zwei Sitzungen jedes Lebensalter von der Kindheit über die Jugend, das frühe und spätere Erwachsenalter bis zum jetzigen Alter besprochen. Zum Abschluss der Therapie wird herausgearbeitet, welche persönlichen Entwicklungen gemacht werden konnten und was im Leben wichtig war. Nicht nur bei traumatisierten älteren Patienten kann es stabilisierend sein, wenn sie das biografisch Erarbeitete auch aufschreiben. Relativ neu in der Verhaltenstherapie sind achtsamkeitsbasierte Behandlungsmethoden. In formellen Übungen wie beispielsweise im Body-Scan (19) wird versucht, die Körperteile nacheinander und zum Schluss den Körper als Ganzes wahrzunehmen, was bei einer akzeptierenden und meditativen Haltung zu einem Wohlgefühl führen kann. Günstig ist es, wenn Patienten lernen, achtsam auch im alltäglichen Leben zu sein und mit Achtsamkeit Alltags- und Routinehandlungen, wie beispielsweise Duschen, Treppensteigen oder Essen, durchführen. Bei der klinischen Depressionsbehandlung hat nicht zuletzt die Psychoeduktion einen wesentlichen Stellenwert (20).
Systemische Denkweisen und andere therapeutische Angebote In der systemischen Therapie steht nicht die Diagnose eines Familienmitglieds (Indexpatient) im Vordergrund, sondern die Familienkommunikation. Das gestörte Verhalten des Indexpatienten wird als sinnstiftendes Element in den Beziehungen der Mitglieder begriffen (12). Bei einer depressiven Symptomatik wird zum Beispiel versucht, symptomverstärkende Teufelskreise, die in der Familienkommunikation in der Suche nach Zuwendung entstehen, therapeutisch zu beeinflussen. Wesentlich in der Depressionstherapie sind auch multimodale Therapieangebote, die in der stationären Psychiatrie und Psychosomatik zur Anwendung kommen. Hier haben sich vor allem die Bewegungstherapie (21), aber auch andere kreative Verfahren wie Kunsttherapie (22) und Musiktherapie (23) sehr bewährt.
Psychotherapie von Angststörungen Je nach Untersuchungsinstrument schwankt die Häufigkeit von Angststörungen bei älteren Menschen zwischen 0,7 und 10,2 Prozent (24). In der Berliner Altersstudie wurde nur bei 1,9 Prozent der über 70-jährigen Probanden eine Angststörung diagnostiziert (25). Die festgestellte Häufigkeit von Angsterkrankungen bei älteren Menschen liegt meist niedriger als bei jüngeren. Bei älteren Menschen bekommen Sorgen («Worries») eine wesentlich grössere Bedeutung (26), da sie mit entsprechenden Vorsichts- und Absicherungsmassnahmen einhergehen. Benzodiazepine bieten bei Angsterkrankungen eine vorübergehende Entlastung, wobei die Suchtgefahr berücksichtigt werden muss. Die Effekte von Antidepressiva und dem Antikonvulsivum Pregabalin und so weiter sind bei Angsterkrankungen aus klinischer Sicht nicht sehr eindrucksvoll. Mittel der Wahl ist deshalb unseres Erachtens bei Angststörungen die Psychotherapie. Ein Grundsatz bei allen Therapieformen ist es,
dass Patienten in der Therapie lernen, angstauslösenden Situationen nicht mehr aus dem Weg zu gehen.
Psychoanalytisch orientierte Psychotherapie von Angststörungen im Alter Angststörungen im Alter haben meist eine lange Vorgeschichte. Die früheren Symptome werden nicht selten als körperliche Erkrankungen verstanden und nicht im Zusammenhang mit der jetzt aufgetretenen Angststörung gesehen. So berichtete ein 70-jähriger Patient, dass er mit 20 Jahren – also zirka 50 Jahre vor der Diagnose einer Angststörung – wegen einer koronaren Minderdurchblutung im Krankenhaus aufgenommen wurde, weil beängstigende Herzbeschwerden in einem Autoritätskonflikt aufgetreten waren. Sicher handelte es sich damals um eine Fehldiagnose. Schon bei der Erhebung der biografischen Anamnese lassen sich oft rezidivierende Belastungssituationen herausarbeiten, die mit der Angstsymptomatik in Zusammenhang stehen. So kann eine kindliche Verlassenheitserfahrung dazu führen, dass spätere Verlustdrohungen mit Anklammerungsbemühungen und Angstzuständen beantwortet werden und in der Angstsymptomatik die Verlassenheit schon vorweggenommen wird. Trieb-Abwehr-Konflikte haben nach unserer Erfahrung gegenüber Verlassenheitsängsten im Alter meist eine weniger grosse Bedeutung. Gelegentlich hängen Angstzustände, wie das erste Patientenbeispiel zeigt, mit traumatischen Erlebnissen in der Kriegs- und Nachkriegszeit zusammen, wobei aktuelle Konflikte die Entwicklung von Angst im Sinne einer Traumareaktivierung hervorrufen können (27). In der analytisch orientierten und tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie werden die hinter den Symptomen stehenden, primär unbewussten Konflikte in der Übertragung durchgearbeitet.
Verhaltenstherapie bei Angststörungen im Alter Obwohl sich durch die Desensibilisierung bei phobischen Störungen in der frühen verhaltenstherapeutischen Ära der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit der Verhaltenstherapie erbringen liess, wird diese Methode auch bei älteren Menschen mit Angststörung nur noch vereinzelt angewandt. Im Vordergrund steht das Expositionsverfahren. Bei der Exposition wird der Patient primär in Begleitung von Therapeuten mit der angstauslösenden Situation konfrontiert. Dadurch erfahren Patienten, dass sie die Angst anhand erlernter Mechanismen selbst bewältigen können. Und dass die Ängste mit der ermüdenden körperlichen Erregung während der Exposition wieder abklingen. Ergänzt wird die Exposition durch kognitive Methoden, durch die eine realistische Bewertung von angstauslösenden Situationen erlernt werden soll. Ausserdem haben sich Gruppenmethoden in Form eines Selbstsicherheitstrainings zum Abbau von Ängsten und zur Förderung sozialer Kompetenzen im Alter bewährt (28). Um dies zu erreichen, werden im Rollenspiel soziale Rollen geübt, und es wird mit Verstärkern gearbeitet. Entspannungsverfahren wie autogenes Training (AT) und progressive Muskelrelaxation (PMR) kommen als Teil der Verhaltenstherapie zur Anwendung, sind aber auch als eigenständige Verfahren bei Angststörungen wirksam.
2/2012
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
23
FORTBILDUNG
Psychotherapie bei Demenzerkrankungen Die Entwicklung einer Demenz korreliert vor allem mit der Alterung. Sicher gibt es schädigende und schützende Einflüsse, die den Zeitpunkt der Manifestation der Demenzsymptomatik beeinflussen. Eine Depression, bei der psychogen das Denken eingeschränkt ist, wird beispielsweise dazu führen, dass die Demenzsymptomatik sich früher manifestiert und schon während der Depressionszeit für das Verhalten relevant ist. Die Demenzsymptomatik kann sich jedoch wieder bessern, wenn die Depression abklingt. Liegen bei einer Depression schwere kognitive Einschränkungen vor, steht immer die Therapie der Depression im Vordergrund. Langfristig, das heisst nicht erst im Alter, ist auch eine Lebensführung sinnvoll, bei der Risikofaktoren gemieden werden, die zu einem früheren Ausbruch einer Demenz führen können (fehlende geistige Aktivität, Alkoholabusus, hoher Blutdruck, Boxsport mit häufigen Schädel-Hirn-Traumen). Die medikamentöse Therapie ist bei einer Demenzerkrankung leider auf Dauer nur wenig wirksam. Allerdings bleiben die kognitiven Fähigkeiten bei einer Therapie mit Cholinesterasehemmern wahrscheinlich etwas länger erhalten. Die therapeutische Arbeit mit Demenzkranken ist sinnvoll, um ihre Lebensqualität zu verbessern. Sie ermöglicht aber auch die Pflege zu Hause. Hierzu gehören verschiedene Formen der Gruppenarbeit. Wir (10) haben gute Erfahrungen mit einer integrierten therapeutischen Gruppenarbeit gemacht, bei der es darum ging, Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen und so die Lebensfreude zu erhöhen. Die Patienten wurden lebendiger, und ihre Orientierung besserte sich ebenfalls. Ein Programm zur kognitiven Stimulation (29), das im Rahmen einer multizentrischen randomisierten Kontrollstudie durchgeführt wurde, hatte ähnlich positive Effekte auf die kognitiven Fähigkeiten und die Lebensqualität wie die Therapie mit Cholinesterasehemmer. Wesentlich ist auch die therapeutische Einstellung beim Umgang mit Demenzkranken. Methoden des Realitätsorientierungstrainings, bei dem dementen Patienten die eigenen Defizite vor Augen geführt werden, haben sich nicht bewährt. Die Methode der Validation (30), die Gefühle der Betroffenen anerkennt, oder die Selbsterhaltungstherapie (31), bei der es um das Bewahren von Selbst-nahem Wissen geht, fördern hingegen eine positive Beziehung zwischen Betroffenen und Betreuern. Während es in der Psychotherapie von Demenzpatienten keine grossen Fortschritte gibt, wurden zahlreiche Programme zur Entlastung der Angehörigen wissenschaftlich untersucht. Leider haben sich Angehörigengruppen in Bezug auf die Förderung der Lebensqualität und die Verminderung der Depressivität der Angehörigen nicht als effektiv erwiesen (32), auch wenn die Angehörigen mit dem Gruppenangebot zufrieden sind. Hilfreich bei häuslicher Pflege sind dagegen Tagespflegeangebote und Pflegedienste. Ausserdem erweisen sich Einzelberatungen der pflegenden Angehörigen, so auch individuelle verhaltenstherapeutische Interventionen per Telefon (33), als wirksam.
Resümee
Psychotherapie ist auch im höheren Lebensalter sinn-
voll, wenn man bedenkt, dass beispielsweise 60-Jäh-
rige noch ein Drittel ihres Erwachsenenlebens vor sich
haben. Die Psychotherapie unterstützt ältere Men-
schen nachhaltig und hilft im Umgang mit den einher-
gehenden Verlusten und Belastungen im Alter. Berück-
sichtigt man die geschilderten Besonderheiten, ist
Psychotherapie im dritten Lebensalter, wie zahlreiche
Fallschilderungen zeigen, sehr effektiv. Sie kann auch
spannend sein, bringen die Patienten doch das erlebte
Wissen aus früheren Zeiten mit.
●
Korrespondenzadresse:
Dr. Johannes Kipp
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Klinikum Kassel
Mönchebergstr. 41-43
D-34125 Kassel
E-Mail: johanneskipp@t-online.de
Literatur
1. Statistisches Bundesamt: Lebenserwartung der Menschen in Deutschland nimmt weiter zu. Pressemitteilung Nr. 336 vom 27. 8. 2007.
2. Doblhammer G, Dethloff A.: Die demografische Entwicklung in Deutschland als Herausforderung für das Gesundheitswesen. In: Günster C, Klose J, Schmacke N (Hg) Versorgungs-Report 2012. Stuttgart (Schattauer) 3–22.
3. Heuft G, Kruse A, Radebold H.: Lehrbuch der Gerontopsychosomatik und Alterspsychotherapie. 2006; München (Reinhardt).
4. Radebold H.: Kindheit im II. Weltkrieg und ihre Folgen. Psychosozial, 2003; 26: 1–101.
5. Maercker A (Hg): Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie. 2002; Heidelberg (Springer).
6. Franz M.: Wenn der Vater fehlt. Kriegstraumatische und trennungsbedingte Langzeitfolgen der Vaterlosigkeit. Psychotherapie im Alter, 2011; 9(4): 545–558.
7. Radebold H.: Psychodynamik und Psychotherapie Älterer. 1992; Heidelberg (Springer).
8. Peters M.: Klinische Entwicklungspsychologie des Alters. 2004; Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
9. Peters M.: Männer im Übergang in die nachberufliche Zeit – klinische Probleme und therapeutische Möglichkeiten. Psychotherapie im Alter, 2012; 9(1): 69–84.
10. Kipp J, Jüngling G.: Einführung in die praktische Gerontopsychiatrie. 2006; 4. Aufl. München (Reinhardt).
11. Hinze E.: Übertragung und Gegenübertragung in der Behandlung älterer Patienten. Psyche, 1987; 41: 238–253.
12. Johannsen J, Fischer-Johannsen J.: Depression im Altenheim – eine systemische Sichtweise. Psychotherapie im Alter, 2007; 4(4): 59–72.
13. Kipp J, Buck E, Gross M.: Depressionen im dritten und vierten Lebensalter. Psyche, 2005; 59(9/10): 944–963.
14. Wolfersdorf M, Schüler M.: Depressionen im Alter. 2005, Stuttgart (Kohlhammer).
15. Arzneimittel-Telegramm 2005; Nr. 5.
16. Walsh T, Stuart NS, Sysko R, Gould M.: Placebo response in studies of major depression. JAMA, 2002; 287(14): 1840–1847.
17. Kipp J.: Schwierigkeiten der Depressionstherapie im Alter – eine Übersicht. Psychotherapie im Alter, 2007; 4(4): 27–37.
18. Forstmeier S, Maercker A.: Probleme des Alterns. 2008; Göttingen (Hogrefe).
19. Forstmeier S, Mortby M, Maercker A.: Psychotherapie im Alter, 2011; 8(1): 9–25.
20. Geyer S, Daiber S.: Verhaltenstherapeutische Depressionsbehandlung in einer stationären gerontopsychosomatischen Spezialabteilung. Psychotherapie im Alter, 2011; 8(1): 85–98.
21. Wolter R, Kipp J.: Bewegung in der Gruppe. Ein Therapieangebot für ältere depressive Patienten. Psychotherapie im Alter, 2007; 4(4): 101–110.
22. Liermann B.: Kunst- und Gestaltungstherapie in der Gerontopsychiatrie. Psychotherapie im Alter 3, 2006; (2): 23–34.
23. Muthesius D.: Musiktherapie in der häuslichen Versorgung – ein kreatives Versorgungskonzept. Psychotherapie im Alter, 2006; 3(2): 63–75.
24. Wiedemann G, Linden M.: Angst-, Zwangskrankheiten. In: Förstl H (Hg) Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie. Stuttgart (Thieme), 2003; 466–475.
25. Helmchen H, Baltes MM, Geiselmann B et al.: Psychische Erkrankungen im Alter. In: Mayer KU, Baltes PB (Hg) Die Berliner Altersstudie. Berlin (Akademie-Verlag), 1996; 185–219.
26. Schaub T, Linden M.: Epidemiologische Befunde zu Angst im Altern. In: Kretschmar C (Hg) Angst – Sucht – Anpassungsstörungen im Alter. Düsseldorf (Schriftenreihe der DGGPP), 2000; 24–41.
&24 2/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
27. Radebold H.: Für alle im Altersbereich Tätigen stellt sich die Aufgabe, historisch zu denken. Psychotherapie im Alter, 2004; 1(3): 5–9.
28. Stuhlmann W.: Selbst-Sicherheits-Training zur Verbesserung der sozialen Kompetenz im Alter. In: Jovic NI, Uchtenhagen A (Hg) Psychotherapie und Altern. Zürich (Fachverlag), 1995; 278–293.
29. Spector A, Thorgrimsen L, Woods B et al.: Efficacy of an evidencebased cognitive stimulation therapy program for people with dementia. Brit J Psychiatry, 2003; 183: 248–254.
30. Feil N, de Klerk-Rubin V.: Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. 1999; München (Reinhardt).
31. Romero B.: Selbsterhaltungstherapie: Konzept, klinische Praxis und bisherige Ergebnisse. Z Gerontopsychiatrie und Psychologie, 2004; 17(2): 119–134.
32. Zank S.: Belastung und Entlastung von pflegenden Angehörigen. Psychotherapie im Alter, 2010; 7(4): 431–443.
33. Schinköthe D, Wilz G.: Telefonische verhaltenstherapeutische Interventionen für pflegende Angehörige Demenzerkrankter. Eine Falldarstellung. Psychotherapie im Alter, 2010; 7(4): 495–505.
2/2012
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
25