Transkript
FORTBILDUNG
Die individualisierte Therapie der Depression
Bildgebende Verfahren sind für das Studium funktionaler und anatomischer neuraler Korrelate von Krankheiten essenziell geworden. Dr. Julia Sacher vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitionsund Neurowissenschaften zeigt in ihren Studien, dass die bildgebende Untersuchung bei depressiv Erkrankten nicht nur quantitativ anhand von Metaanalysen möglich ist, sondern auch aufschlussreiche Ergebnisse bei homogenen, aber kleinen Risikogruppen liefern kann. Der Einsatz bildgebender Verfahren in der Neuropsychiatrie könnte zukünftig Betroffenen zu einer individualisierten Therapie verhelfen.
1/2012
Psychiatrie & Neurologie: Sie haben eine kleine Risikogruppe von 15 postpartalen Frauen mit PostpartumBlues untersucht und eine grössere Metaanalyse bei annähernd 300 Patienten mit einer unipolaren Depression durchgeführt. Wie kamen Sie zu diesem speziellen Studiendesign? Dr. Julia Sacher: Das Problem an der klinischen Interpretierbarkeit von Ergebnissen bildgebender Verfahren ist es, aufgrund von mittleren Gruppenunterschieden auf Individuen zu schliessen. Das ist besonders schwierig, wenn die Gruppen sehr heterogen sind. Dies war bei der Metaanalyse der Fall – einer zusammenfassenden Untersuchung von insgesamt zehn Einzelstudien. Deshalb schlossen wir in der ersten Studie 15 gesunde Frauen ein, die sich nicht in der postpartalen Phase befanden, und 15 Frauen in der ersten Woche postpartum. Die Anzahl der Studienteilnehmer ist also relativ klein, aber die Gruppen sind sehr homogen.
Warum entschieden Sie sich dazu, eine Studie an Frauen durchzuführen? Julia Sacher: Generell wird im Bereich weibliche Gesundheit nach wie vor zu wenig geforscht, obwohl Frauen ein höheres Risiko für eine Depression besitzen – insbesondere in Phasen einer hormonellen Umstellung wie nach der Geburt. Auch meine persönlichen, beruflichen Erfahrungen in diesem Bereich decken sich mit studienbasierten Daten, die zeigen, dass die Schuldgefühle von Frauen sehr gross sind, wenn diese nach der Geburt nicht nur riesige Freude für das Neugeborene empfinden. Das Thema ist stark stigmatisiert, und Frauen schweigen oftmals zu diesem Thema. Daher gehen wir davon aus, dass die Zahl der Frauen mit einer postpartalen Depression eigentlich noch viel grösser ist. Ausserdem hatte ein neurobiologisches Modell der Wochenbettsmelancholie bis anhin gefehlt.
Julia Sacher
Hatten Sie Probleme bei der Rekrutierung? Julia Sacher: Nein, aber es war notwendig, überaus vorsichtig und sensibel vorzugehen. Oftmals hatten die Frauen Angst, dass sie ihre Kinder abgeben müssen, wenn sie zugeben, unter einem Stimmungstief zu leiden. Dabei leiden rund eine Woche nach der Geburt viele Frauen unter dem sogenannten postpartalen Blues, einer Stimmungsveränderung, die sich durch erhöhte Emotionalität, aber auch durch verstärkte Melancholie und depressive Verstimmung ausdrücken kann. Und bis zu etwa 13 Prozent der Frauen entwickeln in den Wochen danach tatsächlich das Vollbild einer postpartalen Depression.
Was zeigte sich neurobiologisch bei diesen Frauen? Julia Sacher: Unser Modell beinhaltete die Hypothese, dass eine erhöhte Monoamino-Oxidase-A (MAO-A) zu verstärktem Monoaminverlust bei postpartalen Frauen und damit zu Symptomen einer Depression führen kann. Verstärkter Östrogenabfall, der ja mit jeder Entbindung einhergeht, kann einen solchen akuten MAOA-Anstieg auslösen. Unsere Studienergebnisse erhär-
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
17
FORTBILDUNG
ten diese Hypothese: Bei den 15 postpartalen Frauen war die gemessene MAO-A-Konzentration in allen Hirnregionen global um 40 Prozent im Vergleich zu nicht postpartalen Frauen erhöht.
Welche klinische Relevanz hat dieses Ergebnis? Julia Sacher: Ich denke, die Ergebnisse sind ein wichtiger Beitrag zur Destigmatisierung. Wenn wir Phänomene wie die Wochenbettmelancholie besser verstehen, und dazu gehören neben psycho-sozioökonomischen Faktoren auch neurobiologische Aspekte, trägt dies massiv zu einer Entlastung der betroffenen Frauen und ihren Familien bei. Darüber hinaus liefern unsere Ergebnisse erste Hinweise für Ansatzpunkte einer möglichen Therapie und Prävention von postpartaler Depression.
Gibt es denn bereits Formen der Intervention bei erhöhter Vulnerabilität? Julia Sacher: Ja, mögliche Ansatzpunkte umfassen einerseits die vorsichtige Abmilderung des akuten Östrogenabfalls nach der Entbindung, indem wir beispielsweise Nahrungsmittel anbieten, die über den gleichen Mechanismus wie Östrogene verstoffwechselt werden und dessen Abbau verlangsamen. Ein zweiter theoretischer Mechanismus wäre es, Vorstufen von Monoaminen zur Verfügung zu stellen, wie zum Beispiel Tryptophan. Das ist eine Vorläufersubstanz des Neurotransmitters Serotonin, die vermehrt in Vollkornprodukten, Naturreis, Sojabohnen, Käse, Quark, Nüssen, Bananen und Schokolade vorhanden ist, also in vielen Nahrungsmitteln, die manchmal auch als «Feel-goodFood» bezeichnet werden. Zu all diesen Ansätzen braucht es aber umfangreiche Folgestudien, die Aspekte der Hirnforschung mit der klinischen Testung dieser Nahrungsergänzungsmittel verbinden.
Wie sieht die zweite Studie aus? Julia Sacher: Die Metaanalyse umfasste 278 depressive Patienten und 269 gesunde Probanden aus Kontrollgruppen von insgesamt zehn Einzelstudien. Wir wollten wissen, welche Strukturen sich bei der unipolaren Depression im Gehirn verändern. Um alle diese Einzelstudien vergleichbar zu machen, bedient man sich eines sogenannten standardisierten Koordinatensystems. Anhand dieser Koordinaten kann dann eine Wahrscheinlichkeitskarte erstellt werden. Man kann mit dieser «Anatomie- beziehungsweise aktivierungsbasierte Likelihood Estimation (ALE)» genannten Methode berechnen, wir hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass in einer Einzelstudie gefundene Ergebnisse sich mit anderen Studienergebnissen decken. In einem zweiten Schritt wird dann getestet, ob diese Ergebnisse genauso wahrscheinlich durch Zufall entstehen könnten. Endresultate einer solchen Analyse sind also nur diejenigen Ergebnisse aus Einzelstudien, die einerseits über mehrere Studien konsistent sind und die «überzufällig» auftreten.
Wir analysierten mit diesem Design insgesamt zehn selektierte PET- und MRI-Studien. Die PET-Daten zeigen den Glukosemetabolismus bei Depressiven, das MRI gibt Aufschluss über die strukturellen Veränderungen bei einer Depression. Bei den Ergebnissen zeigten sich sowohl strukturelle Veränderungen als auch Veränderungen im Glukosemetabolismus.
Welche Ergebnisse hatte die Metaanalyse? Julia Sacher: Strukturell zeigt sich bei Patienten mit einer unipolaren Depression eine Volumenabnahme in der Amygdala, im dorso-frontomedianen Kortex und dem paracingulären Kortex. Der Glukosemetabolismus war bei den eingeschlossenen depressiven Patienten im Bereich des subgenualen und pregenualen anterioren cingulären Kortex erhöht. Eine mögliche Interpretation dieser Ergebnisse deutet darauf hin, dass die Depression eine neurodegenerative Erkrankung darstellt, die auch mit einem Verlust an Gehirnsubstanz einhergeht. Aus manchen Folgestudien gibt es Hinweise darauf, dass Antidepressiva diesen Verlust aufhalten können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Vielzahl von Veränderungen im menschlichen Gehirn bei depressiven Episoden zu beobachten ist. Antidepressiva und auch andere therapeutische Ansätze, wie die Verhaltenstherapie, scheinen in der Lage zu sein, diese Veränderungen positiv zu beeinflussen. Leider ist die grosse Mehrheit der eindeutig behandlungsbedürftigen Patienten nach wie vor nur unzureichend therapiert. Das mag auch daran liegen, dass die Depression noch immer stark stigmatisiert ist. Forschungsergebnisse und die klinische Umsetzung neuer Erkenntnisse am Krankenbett liegen viel zu weit auseinander. Wir müssen weiter daran arbeiten, durch eine verbesserte Kommunikation von Forschern und Klinikern unserem gemeinsamen Ziel, nämlich einer individualisierten antidepressiven Therapie, näher zu kommen. Die bildgebenden Verfahren können in diesem Bereich sicherlich einen wertvollen Beitrag liefern.
Dr. Julia Sacher, wir danken Ihnen für das Gespräch. ●
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Dr. Julia Sacher
Max-Planck-Institut für Kognitionsund Neurowissenschaften
Departement für Kognitive Neurologie Stephanstr.1a
D-04103 Leipzig E-Mail: sacher@cbs.mpg.de
&18 1/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE