Transkript
FORTBILDUNG
Genetische Abklärungen bei Patienten mit geistiger Behinderung und Epilepsie
Geistige Behinderung hat sehr häufig eine genetische Ursache. Epileptische Anfälle und auch psychiatrische Symptome sind bei geistig Behinderten häufiger als bei nicht behinderten Menschen. Sie sind aber nicht notwendig unspezifische Begleitsymptome, sondern vielmehr enger an die zugrunde liegende (genetisch bedingte) Krankheitsentität gekoppelt. Die genaue Kenntnis der (genetischen) Ursache erlaubt ein besseres Management der diversen neurologischen und psychiatrischen Symptome. In Zukunft werden auch immer mehr spezifische Behandlungsverfahren zur Verfügung stehen, die den Verlauf der Grunderkrankung abmildern können. Genetische Abklärungen sind aber teuer, und ihr Ergebnis hat allenfalls noch weitere sozialmedizinische Implikationen.
von Thomas Dorn
In den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) [1] werden Gründe für eine fundierte Abklärung der Ätiologie einer geistigen Behinderung angeführt, so zum Beispiel das Anrecht des Betroffenen auf eine angemessene Diagnostik zur Erforschung der Natur und Ursache des Gesundheitsproblems, des Weiteren die Verhütung, Früherkennung und bessere Behandlung von typischen Komplikationen und Zusatzerkrankungen (wie z.B. von epileptischen Anfällen) und schliesslich die bessere Akzeptanz der Beeinträchtigung und Einordnung in die Lebensgeschichte. Bei bestimmten genetisch bedingten Erkrankungen mit geistiger Behinderung und Epilepsie hat die Kenntnis der zugrunde liegenden Ursache direkte Auswirkungen auf die Epilepsietherapie (z.B. Glucose-Transporter-Defekt [2]) beziehungsweise ermöglicht den Einsatz eines Therapieverfahrens, mit dem der Verlauf der Erkrankung günstig beeinflusst werden kann (z.B. tuberöser Sklerose [3]). Zu beachten ist, dass es sich um Untersuchungen an nicht einwilligungsfähigen Personen handelt. Es sind also bei der Durchführung von genetischen Abklärungen die gesetzlichen Bedingungen zu beachten.
Neue Regelung bei der Übernahme der Kosten für genetische Abklärungen Genetische Abklärungen syndromaler Erkrankungen mit geistiger Behinderung sind abgesehen von den mit «Blickdiagnosen» oder einfachen Abklärungsprozeduren zugänglichen Entitäten (noch) sehr teuer und werden von den Krankenkassen nicht ohne Weiteres bezahlt. Seit dem 1. April 2011 ist eine «Orphan»-Regelung in Kraft, die hier eine Verbesserung schafft. Der zu stellende Antrag kann von der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Genetik (SGMG) (www.sgmg.ch) heruntergeladen und der Ablauf des Antragsverfahrens eingesehen werden. Der Nachweis einer medizinisch-therapeutischen Konsequenz muss im Gegensatz zur bisher gültigen Vergütungsregelung in diesem Verfahren nicht mehr erbracht werden. Die Verordnung genetischer Analysen ist nur durch Ärzte mit eidgenössischem Weiterbildungstitel «Medizinische Genetik» oder einem eidgenössischen Weiterbildungstitel in engstem fachlichem Zusammenhang mit der untersuchten Krankheit
möglich. Das Labor muss bestimmte Qualitätsmerkmale aufweisen, das heisst zertifiziert sein, wie es im Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) vom 8. Oktober 2004, das ab 1. April 2007 gültig ist, geregelt ist, kann aber im Gegensatz zur bisherigen Regelung auch im Ausland situiert sein. Sind die Untersuchungen nur im Ausland möglich, sind diese durch ein Labor in der Schweiz zu veranlassen. Der verordnende Arzt sendet den Auftrag und die Probe einem geeigneten Labor in der Schweiz. Es bleibt zu wünschen, dass die Krankenversicherungen diese Regelungen respektieren.
Geburtsgebrechen Für bestimmte Erkrankungen, sogenannte Geburtsgebrechen, übernimmt die Invalidenversicherung (IV) statt der Kranken- oder Unfallversicherungen bestimmte Leistungen. Es handelt sich um die ärztliche Behandlung, allenfalls auch im stationären Rahmen, und die ärztlich verordneten medizinischen Massnahmen. Hierzu zählen vor allem Medikamente, Physiotherapie, Ergotherapie und Psychotherapie. Die Behandlung muss wissenschaftlich anerkannt, wirtschaftlich und zweckmässig sein. Als Geburtsgebrechen im Sinne von Artikel 13 IVG gelten Gebrechen, die bei vollendeter Geburt bestehen. Somit handelt es sich bei einem wesentlichen Teil der Geburtsgebrechen um genetisch bedingte Erkrankungen. Somit erlangt eine exakte genetische Diagnose in einer unklaren Situation, zum Beispiel bei einer erst in der Kindheit sich entwickelnden progredienten Erkrankung, sozialmedizinische Bedeutung. Die blosse Veranlagung zu einem Leiden gilt allerdings nicht als Geburtsgebrechen. Der Zeitpunkt, in dem ein Geburtsgebrechen als solches erkannt wird, ist unerheblich. Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang des Gesetzes aufgeführt. Diese Liste kann das Eidgenössische Departement des Innern jährlich anpassen (4).
Referenzen: 1. Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften. Medizinisch-ethische
Richtlinien und Empfehlungen. Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit Behinderung. Schweizerische Ärztezeitung 2008; 89: 1063–1078. 2. Gordon N, Newton RW.: Glucose transporter type1 (GLUT-1) deficiency. Brain Dev. 2003 Oct; 25(7): 477–80. 3. Krueger DA, Care MM, Holland K, Agricola K, Tudor C, Mangeshkar P, Wilson KA, Byars A, Sahmoud T, Franz DN.: Everolimus for subependymal giant-cell astrocytomas in tuberous sclerosis. N Engl J Med. 2010 Nov 4; 363(19): 1801–11. 4. Germann S.: Geburtsgebrechen unter besonderer Berücksichtigung von Epilepsie und geistiger Behinderung. Epileptologie 2008; 25: 209–216.
&6 5/2011 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE