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FORTBILDUNG
Sozialarbeit bei Epilepsie:
«Den Patienten als Experten seines Lebensalltags begreifen»
Die Erkrankung Epilepsie ist nicht nur mit Schwierigkeiten in der medizinischen Behandlung verbunden. An Epilepsie erkrankte Menschen haben – bedingt durch die Krankheit – zum Teil grosse psychische, berufliche und soziale Probleme. Zur Lösung bedarf es der Unterstützung durch die Sozialarbeit. Klaus Fetscher ist Leiter der Sozialarbeit am Schweizerischen Epilepsie-Zentrum in Zürich. Im Gespräch zeigt er die Möglichkeiten, aber auch die Limitationen der Beratungsstelle auf.
Klaus Fetscher
Psychiatrie & Neurologie: Warum ist die Sozialarbeit ein so wichtiges Thema für Menschen mit Epilepsie? Klaus Fetscher: Menschen mit Epilepsie haben generell ein erhöhtes Risiko gesellschaftlicher Exklusion, insbesondere im Bereich des Erwerbslebens und – damit zusammenhängend – mit finanziellen Nachteilen. Darüber hinaus zeigen Forschungsergebnisse zu den Krankheitskosten, dass die sekundären Krankheitskosten, die beispielsweise durch länger andauernde Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit oder eine frühzeitige Berentung verursacht werden, die Ausgaben der medizinischen Behandlung bei Weitem übersteigen. Die Sozialarbeit kann, vorausgesetzt sie agiert in einem interdisziplinären Setting, hier auf verschiedene Weise wirksam werden. Einerseits indem wir mit unserer Klientel diejenigen Umweltfaktoren, die die Lebensqualität mindern und auf diese Weise pathogenen Einfluss auf die körperliche und psychische Gesundheit haben können, durch gezielte Interventionen verändern, andererseits indem wir durch ein vernetztes Vorgehen und grösstmögliche Kooperation die psychosoziale Integration voranbringen. Der methodische Ansatz fokussiert daher sowohl auf den einzelnen Menschen als auch auf seine Lebenswelt, womit in beiden Bereichen – wenn wir Erfolg haben – ein gesundheitsfördernder Beitrag für das Individuum und ein positiver ökonomischer Effekt für die Gesellschaft geleistet wird.
Wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen? Klaus Fetscher: Im Zentrum des Beratungs- und Behandlungsprozesses steht zu Beginn die Aufgabe, die individuelle Lebenslage eines Menschen möglichst genau zu erfassen. Dies erfordert ein hohes Mass an kommunikativem und diagnostischem Know-how, da wir keine «Rezepte» bereitstellen, sondern den Patienten als Experten seines Lebensalltags begreifen. Im Schweizerischen Epilepsie-Zentrum können wir neben der sozialen Diagnostik medizinische und, falls vorhanden, (neuro-)psychologische Befunde zur Situationseinschätzung heranziehen, was ein enormer Vorteil für die Interventionsplanung ist. Alle weiteren Schritte vollziehen sich unter der Maxime, was der Klient aktuell in
seiner Lebensplanung als veränderungswürdig empfindet, und dem Einbezug verschiedenster persönlicher, familiärer und sozialversicherungsrechtlicher Ressourcen.
Welche Geschichten verstecken sich hinter der Sozialarbeit? Klaus Fetscher: In unseren Beratungsgesprächen spiegelt sich eine grosse Vielfalt an menschlichen Fragen und Problemen, aber auch beeindruckender Stärken und Lebenskunst wider. Das Spektrum reicht von einmaligen Kontakten, anlässlich deren wir Grundlageninformationen, beispielsweise zu sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen, vermitteln, bis zu äussert komplexen Problemsituationen, in denen eine bereits lebensgeschichtlich belastete Person zusätzlich eine Epilepsiediagnose erhält und bei der Krankheitsbewältigung Schwierigkeiten hat. Zum Beispiel hatte ich vor einiger Zeit ein Gespräch mit einem jungen Handwerker, der mithilfe der IV und etwas finanzieller Unterstützung seiner Familie in eine andere Branche umgeschult werden konnte. Wie sich später herausstellte ein für ihn glücklicher Umstand, da er mir vor Kurzem mitteilte, dass er sich in seinem neuen beruflichen Umfeld wesentlich besser entwickeln könne und eventuell sogar eine Kaderposition in Aussicht habe. Wesentlich häufiger sehen wir uns in den Beratungen jedoch mit belasteten und komplexen Notlagen konfrontiert. Eine Patientin im mittleren Lebensalter äusserte sich über ihre pharmakoresistente Epilepsie mir gegenüber, dass sie in den vergangenen Jahren jede Zuversicht und Lebensfreude verloren habe. Im Beratungsprozess zeigte sich, dass sie bereits traumatisiert als Kriegsflüchtling vor 15 Jahren in die Schweiz gekommen war. Sie heiratete, wurde Mutter von zwei Kindern und begann als Reinigungskraft zu arbeiten. Bereits nach den ersten epileptischen Anfällen verlor sie ihren Arbeitsplatz, es kam zu einer Ehekrise und aufgrund eines hohen Kredits zu massiven finanziellen Problemen. Heute lebt sie alleine mit ihren Kindern, hat grosse Existenzsorgen und traut sich aus Angst, Anfälle in der Öffentlichkeit zu bekommen, selten und nur in Begleitung aus der Woh-
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nung. In solchen Situationen geht es zunächst darum, eine soziale Grundlage für weitere therapeutische Schritte zu erarbeiten – im Fall dieser Frau geht es also um Sicherheit, Schuldensanierung, Entlastung bei der Versorgung der Kinder und Unterstützung bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Hier befinden wir uns bereits im Übergang von der Beratung zur sozialen Therapie, die, wenngleich sehr bedeutsam, für Epilepsiepatienten in der Schweiz leider äusserst spärlich angeboten wird.
Wie verläuft dann die Integration und welche Aufgaben übernehmen Sie? Klaus Fetscher: Zunächst einmal ermitteln wir in einem diagnostischen Prozess die für die spezifische Situation eines Patienten notwendigen beruflichen und psychosozialen Fakten. Mithilfe eines speziell für Menschen mit Epilepsie entwickelten Assessments werden
Wie eng arbeiten Sie mit Hausärzten, Spezialisten und Lehrern zusammen? Klaus Fetscher: Wir begrüssen und schätzen die Zusammenarbeit mit externen Personen sowie Stellen und versuchen diese im Sinne einer Netzwerkarbeit kontinuierlich zu erweitern und zu pflegen. Der Erfolg unserer Arbeit hängt wesentlich von der Qualität der Kooperation mit diesen Stellen ab. Im Kinder- und Jugendbereich sind dies häufig Schulen, Internate und Heime, im Erwachsenenbereich verschiedenste Arbeitgeber, die Invalidenversicherung sowie gemeindebezogene Stellen wie Sozialämter, Vormundschaftsbehörden und die Regionale Arbeitsvermittlung. Entwicklungspotenzial sehen wir in der Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten, insbesondere Neurologen und Psychiater. Möglicherweise ist unser Beratungsangebot noch zu wenig bekannt, wir bieten unsere Dienstleistung ja in der gesamten deutschsprachigen Schweiz an – unabhängig davon, wo sich eine Person medizinisch behandeln lässt. Auch für diesen Personenkreis ist unser Angebot unentgeltlich.
Der Arbeitnehmer von heute soll belastbar, motiviert und sozial kompetent sein. Was aber passiert mit denen, die krankheitsbedingt sensitiv und kognitiv eingeschränkt sind?
Wie häufig können Patienten mit Epilepsie beruflich wieder eingegliedert werden? Klaus Fetscher: Zuverlässige Zahlen zur beruflichen Integration von Menschen mit Epilepsie existieren nicht, dies wurde in der Schweiz bis jetzt nicht umfassend untersucht. Darüber hinaus hängt die Frage, ob eine berufliche Wiedereingliederung gelingt, von sehr verschiedenen Umwelt- und personenbezogenen Faktoren ab. Personenbezogen sind dies, neben der medizinischen Behandelbarkeit und Prognose, in erster Linie der Bildungsstand – hier haben gut ausgebildete Personen wesentlich bessere Chancen –, das Vorhandensein sozialer Unterstützung und motivationale Aspekte. Menschen mit einem gesundheitlichen Handicap benötigen ein Mindestmass an Zuversicht und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, dass ihre beruflichen Kompetenzen für den ersten Arbeitsmarkt ausreichen und sie in der Lage sind, die Anforderungen, trotz gesundheitlicher Probleme, zu meistern. Hier geht es in der sozialarbeiterischen Beratung und Behandlung vorrangig um das psychische Grundbedürfnis ausreichender Orientierung und Kontrolle. Bei den Umweltfaktoren spielen der Arbeitsmarkt, die ökonomischen Reserven eines Menschen und die Erschliessung sozialversicherungsrechtlicher Ressourcen eine zentrale Rolle. Hierbei zeigt sich, dass eine möglichst zeitnahe Intervention wesentlich mehr Erfolg verspricht. Befindet sich ein Mensch durch eine lang andauernde Wartezeit und damit verbundene Ungewissheit erst einmal in einer Art von psychischer «Abwärtsspirale», ist der integrative Aufwand deutlich höher.
dann die Daten und Fakten analysiert und im Anschluss gemeinsam mit dem Patienten weitere Schritte definiert. Vielfach kann dieser Prozess jedoch nur unter Beiziehung weiterer Professionen, insbesondere der Neuropsychologie und Psychiatrie, gestaltet werden, da ein Teil der Patienten kognitive Probleme und psychiatrische Komorbiditäten aufweist. Die Frage der konkreten, berufsbezogenen Auswirkungen dieser Einschränkungen sollten im Hinblick auf eine nachhaltige berufliche Wiedereingliederung unbedingt untersucht werden. Nach dem diagnostischen Prozess variiert unsere Arbeit von einem einmaligen Round-Table-Gespräch mit einem Arbeitgeber über die Unterstützung zur Anmeldung bei Sozialversicherungen – vor allem der Invalidenversicherung – bis hin zu einem komplexen Case Manage-
“Ich habe zunehmend den Eindruck,
dass der idealtypische Arbeitnehmer heute zur Kunstfigur wird,
die jung, flexibel, belastbar, hoch motiviert
”und obendrein noch sozial kompetent sein sollte.
ment, was in der Regel dann eine längere Beratung und Begleitung mit sich bringt. Um diesen sehr verschiedenen Erfordernissen gerecht werden zu können, haben wir im Epilepsie-Zentrum in Zürich 2007 die Fachstelle Arbeit gegründet – hier arbeiten wir mit den Bausteinen des Assessment, der Soziotherapie und des Case Managements (ASC-Modell).
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Läuft die Sozialarbeit im EPI-Zentrum speziell gut, weil es ein Zentrum ist? Wie ist es dann mit Aussenstationen, kleineren Zentren? Klaus Fetscher: Qualitativ hochstehende, epilepsiespezifische Sozialarbeit ist immer das Ergebnis interdisziplinärer Zusammenarbeit. In unserem Zentrum hat die Comprehensive Care eine lange Tradition und ist auch heute lebendiger Alltag. Angesichts fortschreitender Diagnostik- und Behandlungsmethoden in der Epileptologie und der zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens stellt eine engmaschige Kooperation und Kommunikation über den Behandlungsverlauf einen zentralen Aspekt bestmöglicher Behandlung dar. Im Epilepsie-Zentrum Zürich sind die Kommunikationswege zwischen der Pflege, der Psychologie, der Medizin und der Sozialarbeit kurz und eingespielt, was
“Entwicklungspotenzial sehen wir in der
Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten,
”insbesondere Neurologen und Psychiatern. dem einzelnen Patienten zugute kommt, da er umfassend informiert wird und sowohl in medizinischen als auch psychosozialen Belangen Unterstützung bekommen kann. Darüber hinaus können wichtige Fragen, wie beispielsweise inwiefern der Zeitpunkt einer stationären medikamentösen Umstellung oder einer prächirurgischen Abklärung mit dem Arbeitgeber abgestimmt werden sollte, vorbesprochen werden. Das EpilepsieZentrum verfügt über keine Aussenstellen, für Epilepsiepatienten existiert jedoch auch in der Klinik Bethesda in Tschugg und der Institution de Lavigny die Möglichkeit, eine Sozialberatung in Anspruch zu nehmen.
Wird es aufgrund der wirtschaftlichen Situation langsam schwieriger, Gelder zu erlangen? Klaus Fetscher: Ja, eindeutig. In erster Linie erhöht sich kontinuierlich der hierfür notwendige administrative Aufwand – sowohl in Bezug auf die Belange unserer Klientel als auch bezüglich des Bundesamtes für Sozialversicherungen, von dem wir mitsubventioniert werden. Soziale Arbeit steht vor allem in der Politik im Ruf, Kosten zu verursachen, es wird viel zu wenig auf die positive ökonomische Bilanz unserer Arbeit hingewiesen. Von unserer Dienstleistung profitieren verschiedene Sozialversicherungen. Nachhaltige berufliche und psychosoziale Integration spart mehr Steuerausgaben ein als sie kostet – mithilfe massgeschneiderter sozialer Interventionen können beispielsweise kostenintensive stationäre Aufnahmen, wie in einem Wohnheim, vermieden werden und jeder Monat, in dem eine Krankentaggeldversicherung nicht einspringen muss, spart Tausende von Franken.
wegen des gesellschaftlichen Primats der Leistungsfähigkeit und der Verknappung finanzieller Ressourcen zur beruflichen Rehabilitation und Integration. Ich habe zunehmend den Eindruck, dass der idealtypische Arbeitnehmer heute zur Kunstfigur wird, die jung, flexibel, belastbar, hoch motiviert und obendrein noch sozial kompetent sein sollte. Menschen mit chronischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Handicaps laufen im ersten Arbeitsmarkt Gefahr, als Risiko- oder gar Störfaktor betrachtet zu werden. Wenngleich sich die Vorurteile gegenüber Menschen mit Epilepsie in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten mit Sicherheit reduziert haben, berichten laut einer internationalen Studie 56 Prozent aller befragten Schweizer Epilepsiepatienten, sich stigmatisiert zu fühlen, 15 Prozent sogar stark. Meines Erachtens unterschätzen viele Firmen die positive Wirkung auf das Betriebsklima und damit zusammenhängend auf die Motivation aller Arbeitnehmer, wenn ein erkrankter Mitarbeiter weiter beschäftigt wird beziehungsweise im Betrieb eine Chance erhält, sich zu beweisen.
Was fordert Sie in dem Beruf besonders? Klaus Fetscher: Die grösste Herausforderung ist, die soziale Arbeit im Bereich verschiedenster Schnittstellen zur Medizin, (Neuro-)Psychologie, Psychiatrie und Pflege kontinuierlich weiterzuentwickeln. Ich schätze die dynamische Entwicklung dieser Professionen, insbesondere im Bereich der Neurowissenschaften, und bin zuversichtlich, dass es mithilfe der klinischen Sozialarbeit, die sich ihrerseits als gesundheitsspezifische Fachsozialarbeit versteht, gelingen kann, zu mehr sozialarbeiterischer Evidenz in der Epileptologie zu kommen. Dies erfordert allerdings auch Forschung, die in der Sozialarbeit grosse Probleme in finanzieller Hinsicht hat. Hinzu kommt, dass die epilepsiespezifische Sozialarbeit im Bereich des schweizerischen Sozialversicherungswesens ein grosses Wissen benötigt, damit unsere Klientel die bestmögliche Unterstützung bekommt und wir einen medizinischen oder psychiatrischen Befund einem Versicherer in seiner sozialen beziehungsweise arbeitsmedizinischen Dimension quasi «übersetzen» können. Obwohl ich der Überzeugung bin, dass diese vielfältigen Entwicklungsaufgaben grundsätzlich machbar sind, sehe ich eine gewisse Gefahr, dass sich die zeitlichen Ressourcen, die hierfür notwendig sind, derart verknappen, dass der zu behandelnde Mensch vor lauter Prozeduren, Codierungen und Leistungserfassungen aus dem Mittelpunkt rückt – dies wäre meines Erachtens der Anfang vom Ende der Spitzenmedizin.
Herr Klaus Fetscher, wir danken Ihnen für das Gespräch. ●
Das schriftliche Interview führte Annegret Czernotta.
Ist es heute einfacher oder eher schwieriger, Patienten mit Epilepsie wieder einzugliedern? Klaus Fetscher: Beides. Einfacher im Sinne der vorhandenen Vielfalt möglicher Lebensentwürfe, das heisst, heute sind die Lebens- und Berufsbiografien vieler Menschen von steten Veränderungen gekennzeichnet, sodass zum Beispiel ein Berufs- oder Wohnortwechsel nicht nur als Belastung, sondern auch als Chance, Neues zu entdecken, betrachtet wird. Schwieriger ist es
Korrespondenzadresse: Klaus Fetscher M.A.
Leiter Sozialberatung Fachstelle Arbeit
Schweizerisches Epilepsie- Zentrum Bleulerstrasse 60 8008 Zürich
E-Mail: klaus.fetscher@swissepi.ch Internet: http://swissepi.ch
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