Transkript
FORTBILDUNG
Kopfschmerzen infolge Medikamentenübergebrauch
State of the Art der Therapie
Kopfschmerzen infolge Medikamentenübergebrauch sind mit einer Prävalenz von etwa 1 Prozent in der Bevölkerung ein häufiges und oft auch schwerwiegendes Problem. Sie stellen die wahrscheinlich häufigste sekundäre Kopfschmerzform dar und führen zu beträchtlichen persönlichen sowie sozioökonomischen Einbussen.
Peter S. Sandor Walter Jenni
4/2011
Peter S. Sandor und Walter Jenni
K opfschmerzen infolge Medikamentenübergebrauch zu erkennen, ist wesentlich, da deren Behandlung möglich und prognostisch günstig ist. Die kritische Grenze für die Einnahme akuter Schmerzmittel liegt bei zehn Tagen monatlich (1, 2). In spezialisierten Kopfschmerzambulanzen sind die Kopfschmerzen infolge Medikamentenübergebrauchs die dritthäufigste Ursache; mindestens 10 Prozent der dort behandelten Patienten sind davon betroffen (3). Bemerkenswerterweise kommen Kopfschmerzen infolge Medikamentenübergebrauchs auch schon bei Kindern vor (4). Eine häufige klinische Situation, in deren Rahmen ein Kopfschmerz infolge Medikamentenübergebrauchs beginnen kann, ist ein Status migraenosus. Immer wieder kommen Patienten auf die Notfallstation, die einen längeren Migräneanfall mit multiplen Einnahmen niedrig dosierter Schmerzmittel ohne genügenden Nutzen behandeln. Dies ist regelhaft mit einer langen Anfallsdauer vergesellschaftet und kann – über die fortgesetzte Selbstbehandlung – direkt in einen Kopfschmerz infolge Medikamentenübergebrauch münden. Die richtige Strategie, einer solchen Entwicklung innerhalb eines Migräneanfalls vorzubeugen, ist es, im Rahmen der Akutbehandlung genügend hoch zu dosieren. Das gilt sowohl für den Arzt auf der Notfallstation als auch für den Patienten zu Hause.
Ursachen des Medikamentenübergebrauchs Eine weitere typische «Eintrittspforte» zum Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch ist eine, durch welche Faktoren auch immer, bedingte Verschlechterung einer Kopfschmerzgesamtsituation. Diese kann ausgelöst worden sein durch einen Wohnungsumzug, vermehrten Stress am Arbeitsplatz oder aber durch psychosoziale Faktoren, die den Patienten belasten und somit zu vermehrten Kopfschmerzen führen. Laut grossen epidemiologischen Studien (5) ist bei einer Kopfschmerzhäufigkeit von etwa zehn Tagen mo-
natlich die Gefahr einer darüber hinaus zunehmenden Kopfschmerzhäufigkeit gegeben. Diese zehn Tage pro Monat haben gewissermassen «magischen Charakter». Patienten mit dieser Anzahl von Kopfschmerztagen, ebenso solche mit mehr Kopfschmerztagen, aber zehn Behandlungstagen pro Monat, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, chronisch tägliche Kopfschmerzen zu entwickeln. Besteht einmal ein Schmerzmittelübergebrauch, dann können prophylaktische Massnahmen nur noch in geringem Umfang wirken. Der Entzug akuter Schmerzmedikamente ist dann die einzige Möglichkeit, innert nützlicher Frist einen deutlichen klinischen Erfolg zu bewirken (6).
Indikationen für einen stationären Entzug In den meisten Fällen kann ein ambulanter Entzug versucht werden. Es gibt jedoch bestimmte Umstände, die die Erfolgswahrscheinlichkeit im ambulanten Setting deutlich verringern und somit eine Indikation für einen stationären Entzug darstellen. So sind klinisch signifikante psychiatrische Komorbiditäten, insbesondere Angst und Depression, aber auch Suchtverhalten, ungünstig. War bereits ein ambulanter Entzugsversuch erfolglos oder gibt es andere, zum Beispiel psychosoziale Gründe, die die Lebenslage des Betroffenen erschweren, oder besteht bereits ein Missbrauch bestimmter Substanzklassen wie Benzodiazepine und Opioide, dann sollte stationär entzogen werden. Hierbei ist zu beachten, dass der Triptanentzug am einfachsten und schnellsten durchzuführen ist und der Grossteil der Patienten bereits nach fünf bis sieben Tagen kopfschmerzfrei ist, während der Entzug von sogenannten einfachen Schmerzmitteln oder von nichtsteroidalen Antirheumatika erst langsam (über ein bis zwei Monate) zu einer deutlichen Besserung der Kopfschmerzsituation führt. Bei diesen Patienten ist eine engmaschigere Nachbetreuung notwendig, um die Motivation aufrechtzuerhalten.
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FORTBILDUNG
Ablauf des stationären Entzugs Der Entzug von akut wirksamen Kopfschmerzmedikamenten kann im stationären Kontext mit einem abrupten Absetzen der Substanzen unter dem Schutz von Prednison (100 mg/Tag) über fünf Tage und unter dem Schutz eines PPI (Protonenpumpenhemmer) erfolgen (nach Pageler et al. 2008). Laut den Empfehlungen der Therapiekommission der Schweizerischen Kopfschmerzgesellschaft (www.headache.ch) und kongruent mit den US-amerikanischen Richtlinien sowie den Leitlinien der Deutschen Neurologischen Gesellschaft (www.dgn.org) ist eine Prophylaxe zu etablieren, wobei diese bereits während der Hospitalisation beginnen kann. Im Entzug kann als Reservemedikation sinnvollerweise ein Präparat aus einer Substanzklasse verwendet werden, die im Vorfeld nicht übergebraucht worden ist. Die Hospitalisationsdauer beträgt fünf bis sieben Tage. Einschränkend ist zu bemerken, dass im akuten Setting meist nur eine ungenügende Psychoedukation erfolgen kann. Die Kapazität für eine Physiotherapie bei Nackenverspannungen ist meist nicht gegeben, es können oftmals keine Verhaltenstherapie und auch kein Biofeedback erfolgen. Auch die Möglichkeiten für eine sportliche Betätigung sind limitiert oder nicht vorhanden. Dies ist umso mehr ein Problem, da sich in den letzten Jahren die Hinweise häuften, dass Patienten mit Kopfschmerzen infolge Medikamentenübergebrauchs eine Impulskontrollstörung für eine Substanzeinnahme haben könnten, was mit einer gewissen Suchtpersönlichkeit assoziiert ist (7). Darauf deuten auch Studien hin, die den Metabolismus bei Patienten mit Medikamentenübergebrauch untersuchen (8).
Kopfschmerzspezifisches Neurorehabilitationsprogramm in Bad Zurzach Basierend auf der Erfahrung des Gründers Dr. Hansruedi Isler, Abteilung Kopfweh und Schmerz am Universitätsspital Zürich, und seiner Nachfolger wurde von den Autoren ein kopfschmerzspezifisches Neurorehabilitationsprogramm entwickelt. Im Rahmen dieses interdisziplinären Programms werden schwer betroffene Patienten über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen rehabilitiert. Die aus evidenzbasierten Bausteinen zusammengesetzte Therapie besteht aus einer neurologischen Behandlung, physikalischer Therapie und psychologischen Therapieformen. Das Programm
wurde zunächst in Leukerbad eingeführt und hat sich
im Oktober 2010 durch die Autoren in RehaClinic Bad
Zurzach erfolgreich etabliert. Das Programm wurde
von Beginn an wissenschaftlich begleitet, die Ergeb-
nisse stehen zum Zeitpunkt der Publikation des vorlie-
genden Artikels allerdings noch aus.
Die Neurorehabilitation nach erfolgtem Entzug ist so-
mit für eine ausgesuchte Patientengruppe eine spezifi-
sche Therapieform, die nach klinischer Erfahrung nach-
haltig zu sein scheint. Auch hat sie das Potenzial,
Migränepatienten wieder in den Arbeitsprozess zu in-
tegrieren und so, insbesondere aus volkswirtschaft-
licher Perspektive, Kosten zu sparen.
Zusammengefasst ist der Kopfschmerz infolge Medika-
mentenübergebrauchs ein beträchtliches klinisches
Problem, das insbesondere bei einer Einnahmefre-
quenz akuter Schmerzmedikamente von mehr als zehn
Tagen pro Monat auftritt. Stratifizierte Behandlungs-
möglichkeiten mit einer günstigen Prognose haben
sich erfolgreich etabliert.
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Korrespondenzadresse:
PD Dr. Peter S. Sandor
Leitender Arzt Neurologie
Leitung Kernprozess Akutnahe Neurorehabilitation
RehaClinic Bad Zurzach
Quellenstrasse 34
5330 Bad Zurzach
E-Mail: p.sandor@rehaclinic.ch
Literatur:
1. Castillo J, Muñoz P, Guitera V, Pascual J.: Kaplan Award 1998. Epidemiology of chronic daily headache in the general population. Headache. 1999 Mar; 39(3): 190–6.
2. Wang SJ, Fuh JL, Lu SR, Liu CY, Hsu LC, Wang PN, Liu HC.: Chronic daily headache in Chinese elderly: prevalence, risk factors, and biannual follow-up. Neurology. 2000 Jan 25; 54(2): 314–9.
3. Rapoport A, Stang P, Gutterman DL, Cady R, Markley H, Weeks R, Saiers J, Fox AW.: Analgesic rebound headache in clinical practice: data from a physician survey. Headache. 1996 Jan; 36(1): 14–9.
4. Hering-Hanit R, Gadoth N, Cohen A, Horev Z.: Successful withdrawal from analgesic abuse in a group of youngsters with chronic daily headache. J Child Neurol. 2001 Jun; 16(6): 448–9.
5. Bigal ME, Lipton RB.: What predicts the change from episodic to chronic migraine? Curr Opin Neurol. 2009 Jun; 22(3): 269–76. Review.
6. Diener HC, Limmroth V.: Medication-overuse headache: a worldwide problem. Lancet Neurol. 2004 Aug; 3(8): 475–83. Review.
7. Radat F, Lanteri-Minet M.: What is the role of dependence-related behavior in medication-overuse headache? Headache. 2010 Nov; 50(10): 1597–611. doi: 10.1111/j.1526-4610.2010.01755.x. Epub 2010 Aug 27. Review.
8. Fumal A, Laureys S, Di Clemente L, Boly M, Bohotin V, Vandenheede M, Coppola G, Salmon E, Kupers R, Schoenen J.: Orbitofrontal cortex involvement in chronic analgesic-overuse headache evolving from episodic migraine. Brain. 2006 Feb; 129(Pt 2): 543–50.
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