Transkript
Editorial
Vielerorts wird die Diagnose «somatoforme Schmerzstörung» als eine Art Restkategorie für all jene chronischen Schmerzzustände verwendet, bei denen der Untersucher nach Abklärung eine Diskrepanz zwischen seinem Befund und dem Ausmass der Schmerzschilderung des Patienten festzustellen glaubt. Damit wird die Diagnose somatoforme Schmerzstörung zu einem Synonym für «psychisch überlagerte» Schmerzzustände, teilweise auch für Aggravation oder gar Simulation. So gibt diese Diagnose dem Untersucher die Möglichkeit, an einem reduktionistischen
Trotzdem wird in der klinischen Praxis der Patient weiterhin munter im peripheren Bereich traktiert, gespritzt, «genadelt» oder anderweitig invasiv behandelt. Selbst oder offiziell ernannte Schmerzspezialisten wetteifern mit immer neuen originellen Ideen, was sich peripher noch alles hinter dem Schmerzgeschehen verstecken könnte. Bildgebungsbefunde werden überinterpretiert – alles, um das Schmerzgeschehen doch noch auf einen peripheren Befund zurückführen zu können. Führen all diese elaborierten Massnahmen nicht zum erhofften Erfolg, dann ..., ja dann
Somatoforme Schmerzstörung – was ist das eigentlich?
Schmerzparadigma festzuhalten, wie es von René Descartes im Jahre 1644 («L’Homme») postuliert wurde. Danach ist eine periphere Gewebeschädigung Bedingung für Schmerz, und das Ausmass der Schmerzen ist eng mit dem Ausmass der Gewebeschädigung verknüpft.
Aktuelle Erkenntnisse werden kaum klinisch umgesetzt Das Bemühen um eine strikte Abgrenzung vom damals vorherrschenden Schmerzverständnis, wonach anhaltender Schmerz eine Strafe Gottes für im Leben aufgeladene Schuld darstellt, liess wenig Raum für Schmerzen, die nicht durch eine periphere Gewebeschädigung bedingt sein könnten (2). Die neurobiologische Forschung der letzten 10 Jahre hat jedoch verdeutlicht, dass dieses reduktionistische Reiz-Reaktions-Konzept gerade bei chronischen Schmerzzuständen wissenschaftlich überholt ist. Da es viele Patienten chronifiziert und nicht zuletzt auch teuer für das Gesundheitswesen ist, ist es mehr als nur bedauerlich, dass sich diese neurobiologischen Erkenntnisse bisher kaum im klinischen Handeln niederschlagen. Denn selbst wenn ursprünglich eine periphere Gewebe- oder Nervenschädigung als Auslöser fungiert hat, spielt diese im Rahmen der in erster Linie zentral in verschiedenen Hirnbereichen (ACC, Präfrontalkortex, Amygdala, Hippocampus, Insula) ablaufenden Chronifizierungsprozesse keine wesentliche Rolle mehr. Das Gehirn übernimmt das Drehbuch für das weitere Schmerzgeschehen!
bleibt nur noch die Möglichkeit, dass der Patient an einer somatoformen Schmerzstörung leiden muss. Inzwischen sind durchschnittlich 7 bis 9 Jahre seit Beginn des Schmerzgeschehens vergangen (5). Der Patient ist inzwischen doppelt zum Leidenden geworden: er leidet sowohl unter seinen Schmerzen als auch am Selbstverständnis des Systems, das vorgibt, ihm diese mit immer invasiveren Methoden nehmen zu wollen. Die zahlreichen Untersuchungen und Behandlungen haben ihn auf eine periphere Verursachung seiner Schmerzen fixiert. Durch die mit der Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung einhergehende Überweisung zum Psychiater fühlt er sich diskreditiert und geht stattdessen oft lieber zu «Heilsversprechern», welche sich zwischenzeitlich zuhauf in dieser Nische einrichten. Diese setzen in erster Linie auf die bei Schmerz ohnehin erhöhte Plazeborate, indem sie – oft erstmalig – über ein ausführliches Gespräch und viel Empathie beim Patienten eine hohe Wirkerwartung für ihre Methode schaffen. Leider ist auch der Plazeboeffekt üblicherweise kein anhaltender, und die Enttäuschungsspirale des Patienten dreht sich weiter. Sollte er jedoch tatsächlich irgendwann zum Psychiater gelangen und dann zu einem Psychotherapeuten überwiesen werden, hat er gute Chancen, dass ihm das übergestülpt wird, was dieser schulenspezifisch gelernt hat: der Verhaltenstherapeut macht als Pauschalangebot Schmerzbewältigungstraining, und da dafür eine genauere
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Psychiatrie & Neurologie 3•2009
Editorial
Differenzierung der zugrunde liegenden Pathomechanis- generieren (6). Dabei werden biografisch früh geprägte
men nicht erforderlich ist, wird er sich in der Regel nicht Schmerzerfahrungen reaktiviert, die mit Gefühlen von Hilf-
mit differenzialdiagnostischen Überlegungen abmühen. losigkeit und Ausgeliefertsein einhergegangen waren (1).
Letzteres gilt auch für den Psychoanalytiker. Dieser geht Diese sprechen nur auf einen sehr spezifischen psychothe-
pauschal von einem Konversionskonzept aus – war dieses rapeutischen Ansatz an und können durch einen solchen
doch von Freud gerade an einer Patientin mit chronischen vollständig und anhaltend zum Verschwinden gebracht
Schmerzen entwickelt worden – und versucht über ein (oft werden (3, 4). Auch für andere unter dem diagnostischen
nur durch seine eigene Phantasiefähigkeit begrenztes) Omnibus «somatoforme Schmerzstörung» subsumierten
Verständnis der Ausdruckshaltigkeit des Symptoms früh- Pathomechanismen trifft dies zu: Patienten mit körper-
kindlich entstandene intrapsychische Konflikte zu kons- licher und psychischer Komorbidität brauchen – gut auf-
truieren, die mit Schuld und Bestrafung einhergehen.
einander abgestimmt – Schmerztherapie, Psychotherapie
und Psychopharmakotherapie. Bei Patienten mit durch
Inflationäre Diagnosestellung
Muskelverspannung bedingten Schmerzzuständen sollten
So bietet die somatoforme Schmerzstörung für jeden et- unbedingt Biofeedback oder andere Entspannungsverfah-
was: sei es, das Versagen des fachspezifisch somatischen ren, gegebenenfalls auch Angstbewältigungstraining (für
Therapieansatzes im Nachhinein zu begründen, sei es dem die hier häufig übersehenen Angsterkrankungen!) durch-
Patienten einen schulenspezifischen Psychotherapieansatz geführt werden (3). All dies wird – wenn es bereits früh
anzudienen. Ist alles ausgeschöpft, kann die Diagnose eingesetzt wird – nicht nur ganz erheblich die Kosten, son-
dann sogar noch die Frühinvalidität begründen. Ist es da dern auch die Zahl schwer chronifizierter und iatrogen
noch überraschend, dass die Diagnose sich in den letzten geschädigter Schmerzpatienten reduzieren. Psychiatrie,
Jahren vergleichbar einer Pandemie ausbreitete? In Psychosomatik und Psychotherapie können dazu Wesentli-
Deutschland wurde dies zusätzlich dadurch beschleunigt, ches beitragen! Ein erster Schritt wäre eine kritische Über-
dass durch eine solche «F-Diagnose» auch noch das DRG- prüfung der Einheitsdiagnose somatoforme Schmerz-
Pauschalsystem ausgebremst werden kann und damit wie- störung.
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der ein «ordentlicher» Tagessatz Grundlage der Abrech-
nung stationärer und teilstationärer Leistungen ist.
Prof. Dr. Ulrich T. Egle
Dass Diagnosen eigentlich dazu dienen, eine möglichst ge-
Ärztlicher Direktor
zielte Therapieplanung durchzuführen, und dass zu Dia-
Psychosomatische Fachklinik Gengenbach
gnosen deshalb auch differenzialdiagnostische Überlegun-
Wolfsweg 12
gen gehören, wird durch all die skizzierten Vorteile
D-77723 Gengenbach
überlagert. Eine möglichst gezielte und ökonomisch effizi-
ente Behandlung vieler chronischer Schmerzpatienten entsprechend den dem Schmerzgeschehen zugrunde-
Literatur: 1. Egle UT, Nickel R: Somatoforme Schmerzstörung. Deutsches Ärzteblatt
liegenden Mechanismen unterbleibt!
(im Druck). 2. Egloff N, Egle UT, von Känel R: Weder Descartes noch Freud? Aktuelle
Wir hätten effiziente therapeutische Möglichkeiten!
Dabei wissen wir heute über die neurobiologischen Zusammenhänge bei der Schmerzentstehung und -verarbeitung hinreichend Bescheid und haben für eine wirksame Behandlung der beteiligten Pathomechanismen auch
Schmerzmodelle in der Psychosomatik. Praxis 2008; 97: 549–557. 3. Egloff N, Egle UT, von Känel R: Therapie zentralisierter Schmerzstörun-
gen. Praxis 2009; 98: 271–283. 4. Nickel R, Egle UT: Manualisierte psychodynamisch-interaktionelle Grup-
pentherapie. Therapiemanual zur Behandlung somatoformer Schmerzstörungen. Psychotherapeut 2001; 46:11–19.
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genügend Methoden in den Bereichen Psychotherapie, Psychosomatik, Physiotherapie und Sporttherapie zur Verfügung! Dies gilt gerade auch für die somatoforme Schmerzstörung im engeren Sinne, bei der keinerlei peripherer Input als Schmerzursache besteht, sondern zentrale Vorgänge im Gehirn durch Wechselwirkungen von Schmerz- und Stressverarbeitungssystem die Schmerzen
5. Nickel R, Hardt J, Kappis B, Schwab R, Egle UT: Somatoforme Störungen mit Leitsymptom Schmerz. Ergebnisse zur Differenzierung einer häufigen Krankheitsgruppe. Schmerz (im Druck, DOI 10.1007/ s00482-009-0805-6).
6. Stoeter P, Bauermann T, Nickel R, Corluka L, Gawehn J, Vucurevic G, Vossel G, Egle UT: Cerebral activation in patients with somatoform pain disorder exposed to pain and stress: An fMRI study. NeuroImage 2007; 36: 418–430.
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