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Fortbildung
Pragmatische verlaufsmodifizierende Therapie der Multiplen Sklerose
Indikationen, Empfehlungen sowie praktische Anleitungen und Abwägungen
Nico Melzer und Heinz Wiendl
Der Artikel informiert über pragmatische Empfehlungen und Symptomatik für eine immunmodulato-
den Stand der verlaufsmodifizierenden Therapie der Multiplen rische Basistherapie qualifizieren. Hier-
bei gelten IFN-β und GA als Therapie der
Sklerose (MS). Immunmodulierende Dauerbehandlungen
ersten Wahl, Azathioprin und intravenöse
sowie immunsuppressive Massnahmen haben in verschiedenen
Immunglobuline (IVIg) als Therapeutika der zweiten Wahl.
Studien der letzten Jahre die Wirksamkeit, aber auch die
Sicherheitsaspekte entsprechender Therapiestrategien identi-
Indikation zur immunmodulatorischen Therapie bei schubförmiger MS (RR-MS)
fiziert. Daraus leiten sich unsere Empfehlungen zur Dauerbehandlung der schubförmig-remittierenden MS, die Empfeh-
Der Beginn einer immunmodulatorischen Therapie mit einem rekombinanten Interferonpräparat oder Glatiramer-
lungen zur Frühtherapie der MS und auch die Vorgehensweise bei sekundär-progredienter sowie primär-progredienter MS
acetat soll möglichst frühzeitig nach Diagnosestellung einer schubförmigen MS (nach McDonald-Kriterien) bei aktivem
ab. Praktische Anleitungen und Abwägungen zu Indikations-
Verlauf begonnen werden (↑↑). Abhängig von der individuellen Situation des Pa-
und Abbruchkriterien werden diskutiert.
tienten (z.B. begleitende Autoimmun-
erkrankungen, Kontraindikationen oder
ablehnende Haltung gegenüber regel-
1. Immunmodulierende Dauerbehand-
lung der schubförmigen MS (RR-MS) Vorbemerkungen, Indikations- und Abbruchkriterien
A ufgrund der auch prognostisch relevanten Anwendungsmöglichkeiten der modernen Bildgebung ist es möglich, bereits beim ersten Schub Hinweise für eine Dissemination des ZNS-Befalls in Ort und Zeit zu erhalten, welche nach den Studien zur Frühtherapie bei erster, MS-verdächtiger Episode
Klassifikation der Evidenzklassen
↑↑ Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch mehrere adäquate, valide klinische Studien (z.B. randomisierte klinische Studien) bzw. durch eine oder mehrere valide Metaanalysen oder systematische Reviews. Positive Aussage gut belegt.
↑ Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch zumindest eine adäquate, valide klinische Studie (z.B. randomisierte klinische Studie). Positive Aussage belegt.
↓↓ Negative Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch eine oder mehrere adäquate, valide klinische Studien (z.B. randomisierte klinische Studie), durch eine oder mehrere Metaanalysen bzw. systematische Reviews. Negative Aussage gut belegt.
↔ Es liegen keine sicheren Studienergebnisse vor, die eine günstige oder ungünstige Wirkung belegen. Dies kann bedingt sein durch das Fehlen adäquater Studien, aber auch durch das Vorliegen mehrerer widersprüchlicher Studienergebnisse.
(CHAMPS, Jacobs et al., 2000; ETOMS,
Comi et al., 2001a und 2001b; BENEFIT, eine signifikante Reduktion der Schub- mässigen i.m./s.c.-Injektionen) kommen
Kappos et al., 2006b) unmittelbare thera- häufigkeit bei RR-MS nachgewiesen wer- weitere Substanzen wie Azathioprin oder
peutische Implikationen haben. Die den. Ein langfristiger Einfluss auf die IVIg für die Basistherapie infrage (↑). Bei
Einbeziehung des MRT in die Indika- Progression der Erkrankung wird ver- nicht tolerablen, lokalen Nebenwirklun-
tionsstellung zur frühen immunprophy- mutet, ist jedoch weniger gut belegt gen an der Haut bei subkutan applizier-
laktischen Therapie gewährleistet, dass (Beobachtungszeiten inzwischen bis 16 ten Präparaten (Rebif®, Betaferon®) kann
weniger Zeit bis zum Behandlungsbe- Jahre). Aus den vorliegenden Studien zum die Umstellung auf die zugelassene intra-
ginn im Sinn einer protektiven Mass- Wirksamkeitsnachweis und den unter- muskuläre Applikationsform (Avonex®)
nahme vergeht. Sowohl für Interferon-β stützenden Befunden zur Krankheitsakti- erwogen werden (↔).
(IFN-β) als auch Glatirameracetat (GA) vität wurden Kriterien erarbeitet, nach Die Indikation zum Beginn der verlaufs-
konnte in grossen kontrollierten Studien denen sich Patienten mit entsprechender modifizierenden Therapie bei RR-MS ist
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bei aktivem Krankheitsverlauf mit min- Vor Beginn der Therapie muss der Patient verständlich über
destens zwei funktionell relevanten realistische Therapieziele, die theoretischen Wirkansätze
Schüben in den letzten zwei Jahren oder und mögliche Nebenwirkungen der Behandlung gemäss der
Auftreten eines schweren Krankheits- aktuellen Produktinformation aufgeklärt werden. schubs mit schlechter Remissionsten-
denz zu stellen. Neben der klinischen
Aktivität (Anzahl, Schwere der Schübe) tion im Kernspintomogramm nach Aus- unterschiedliche Ergebnisse. Wir halten
beziehen wir zusätzlich die kernspin- schluss anderer Ursachen Folgendes vor- IFN-β bei SP-MS für indiziert, wenn so-
tomografische Aktivität (Anzahl von Lä- liegt:
wohl klinisch als auch kernspintomogra-
sionen, T2-Läsions-Last, Vorhandensein a) eine hohe Gesamtläsionslast (≥ 6 Herde; fisch noch deutlich fassbare Zeichen der
Gadolinium-[Gd-]anreichernder Läsio- Barkhof et al., 1997) im kraniellen und/ entzündlichen Krankheitsaktivität (über-
nen, T1-Läsionen, Hirnatrophie) als ob- oder spinalen MRT oder
lagerte Schübe, überdurchschnittlich ra-
jektiven Parameter mit ein. Ein MRT b)eine funktionell deutlich beeinträch- sche Behinderungsprogression, Gd-an-
sollte gegebenenfalls bei Therapiebeginn tigende Schubsymptomatik, die sich reichernde Herde) vorhanden sind (↑).
aktualisiert werden. Dies bietet neben unter Kortisonstosstherapie innerhalb Befindet sich die Erkrankung in einem
einem Ausgangsbefund der Krankheits- von zwei Monaten nicht ausreichend stärker «neurodegenerativen» Stadium
aktivität einen objektiven Verlaufspara- zurückbildet oder
mit geringer Entzündungsaktivität (feh-
meter, an dem man zusätzlich zur Klinik c) aktive Entzündungsherde (Gd-Auf- lende Schübe in den letzten 2 Jahren, ge-
ein Ansprechen auf die Therapie (Zu-/ nahme oder eindeutige Zunahme der ringe Behinderungszunahme, fehlende
Abnahme der Gd-anreichernden Läsio- T2-Läsionen im kraniellen Kernspin- subklinische Krankheitsaktivität im MRT),
nen, Zu-/Abnahme der T2-Läsions-Last) tomogramm), in einer Folgeuntersu- wird auf die Verwendung von IFN-β ver-
im Verlauf festmachen kann.
chung innerhalb von sechs Monaten zichtet. Für Patienten mit höheren Behin-
(Brex et al., 2002).
derungsgraden oder sekundär-chronisch
Indikationen zur immunmodulatorischen The-
progredienten Verläufen gibt es bislang
rapie nach erster MS-verdächtiger Episode Zur Abschätzung der subklinischen keine Daten zum Wirksamkeitsnachweis
(klinisch isoliertes Syndrom)
Entzündungsaktivität kann ein zweites von Glatirameracetat (GA), sodass hier-
Die immunmodulatorische Basistherapie kranielles MRT gemäss den erweiterten für kein Indikationsbereich besteht. Auf-
soll «so früh wie möglich» beginnen, ge- Diagnosekriterien (Polman et al., 2005b) grund einer negativen Studienlage zu
gebenenfalls nach einem ersten Schub. bereits zwei bis drei Monate nach Beginn intravenösen Immunglobulinen bei SP-
Neben den hierzu vorliegenden Studien des initialen Schubereignisses nützlich MS kann diese Therapieoption für diese
unterstützen diese Empfehlungen Er- sein.
Verlaufsform nicht empfohlen werden
kenntnisse über Risikofaktoren, die mit Der Verlauf soll unter der Therapie stan- (↓↓).
dem frühen Auftreten eines zweiten dardisiert dokumentiert werden. Um die
Schubs assoziiert sind sowie die publi- Wirksamkeit der kostenintensiven Im- Behandlungsdauer immunmodulatorischer
zierten Daten über das Risiko der Ent- muntherapie zu überprüfen und die Ad- Therapien
wicklung einer klinisch definitiven MS härenz zu verbessern, sollten besonders Zur optimalen Dauer der Immuntherapie
nach initialer Symptomatik (Brex et al., im ersten Jahr der Behandlung engma- gibt es bis anhin keine kontrollierten Stu-
2002). In der Praxis zwingen die neuen schige klinische Kontrolluntersuchun- dien. Eine hierzu veröffentlichte Meta-
Diagnosekriterien Arzt und Patient damit gen (im Regelfall alle 3 Monate) zur Ab- analyse (Filippini et al., 2003) ist auf-
früher als bis anhin, sich mit der Dia- schätzung des Therapieeffekts und der grund methodischer Schwächen nicht
gnose und ihren Konsequenzen ausein- Verträglichkeit des eingesetzten Präpa- allgemein anerkannt. Auch nach länge-
anderzusetzen.
rats sowie zur Optimierung der Begleit- ren Beobachtungszeiträumen von Pati-
enten innerhalb kontrollierter Studien
Das Diagnosegespräch sollte stets im Bewusstsein um
(IFNB, 1995; PRISMS, 2001) oder offen
die persönlichen Konsequenzen aufseiten des Patienten
(Johnson et al., 2000) mit inzwischen teil-
stattfinden, da hiermit ein irreversibler Prozess in Gang
weise bis zu 16 Jahren Behandlungs-
gesetzt wird, der weit über die vordergründigen Therapieentscheidungen hinausgeht.
dauer wird bei guter Sicherheit der Präparate eine anhaltende Wirksamkeit
angenommen (↔) bis (↑).
In Anlehnung an einen aktuellen Kon- therapie durchgeführt werden.
Eine Fortführung der Therapie ist unter
sensusvorschlag (MSTCG, 2008) begin- Indikation zur immunmodulatorischen Be-
neurologischer Kontrolle gerechtfertigt,
nen wir die immunmodulatorische The- handlung bei sekundär-progredienter MS
wenn:
rapie bereits nach dem ersten Schub, (SP-MS)
■ weiterhin ein Therapieeffekt plausibel
wenn bei Nachweis intrathekaler IgG- Die Studien zum Einsatz immunmodula- ist (z.B. reduzierte Schubfrequenz,
Synthese und subklinischer Dissemina- torischer Agenzien bei SP-MS erbrachten -schwere im Vergleich zur präthera-
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peutischen Phase, verminderte Krankheitsprogression) und ■ keine schwerwiegenden Nebenwirkungen auftreten, die die Lebensqualität des Patienten einschränken.
Insbesondere der erste Punkt entfällt bei Beginn einer immunmodulatorischen Therapie nach dem ersten Schub, was die Einschätzung des Erfolgs erschwert. Hilfreich hierbei ist wiederum die Bewertung der Krankheitsaktivität beziehungsweise -dynamik mittels MR-tomografischer Verlaufsuntersuchungen. Unter welchen Umständen (z.B. keinerlei Krankheitsaktivität klinisch oder kernspintomografisch über 2 Jahre) eine immunprophylaktische Therapie unter- beziehungsweise abge-
mit der Progression vor Therapiebeginn. Die Zeitspanne bis zur ersten Beurteilbarkeit eines Therapieansprechens oder -versagens beträgt mindestens sechs Monate, sinnvollerweise ein Jahr. Als Therapieversagen bei RR-MS wird eine gleichbleibende oder zunehmende Schubrate und bei SP-MS eine gleichbleibende oder zunehmende Progressionsrate über den Zeitraum eines Jahres im Vergleich zum Intervall vor Therapiebeginn gewertet. Die Unterscheidung in ein primäres und sekundäres Therapieversagen ist sinnvoll. Ein primäres Therapieversagen liegt vor, wenn keine Beeinflussung des Krankheitsverlaufs durch die immunprophylaktische Therapie erreicht werden kann. Ein sekundäres Therapieversagen
Wir beraten die Patienten dahingehend, dass die immunmodulatorische Therapie mit IFN- beziehungsweise GA eine Dauertherapie darstellt, die in Abhängigkeit von Verträglichkeit und Nebenwirkungen auch bei klinischer Stabilisierung über Jahre durchgeführt werden soll.
brochen werden kann, ist derzeit unklar und bedarf prospektiver Studien. Bei guter Therapieadhärenz ist nach mindestens dreijähriger Krankheitsstabilität (keine Schübe, keine schubunabhängige Krankheitsprogression, stabiles MRT) eine Unterbrechung der Therapie bei ausdrücklichem Patientenwunsch und nach eingehender Aufklärung vertretbar. Allerdings sollte dies nur unter Fortführung engmaschiger Kontrolluntersuchungen erfolgen.
Therapieversagen Zur Frage des Therapieversagens beziehungsweise der Indikation für die Beendigung einer immunmodulierenden Dauertherapie liegt ebenfalls keine allgemeingültige Definition vor. Eine operationale Definition des Therapieversagens ist in Anlehnung an die gängige Praxis in den Studien zum schubförmigen Verlauf eine nach drei bis sechs Monaten bestätigte Krankheitsprogression um 1 Punkt auf der EDSS-Skala (Expanded Disability Status Scale) beziehungsweise um 0,5 Punkte bei AusgangsEDSS-Werten von 6 beziehungsweise 7. Entscheidungskriterium ist der Vergleich
ist anzunehmen, wenn nach vorübergehender Stabilisierung des Krankheitsverlaufes eine erneute Krankheitsaktivität beziehungsweise -progression eintritt. Als paraklinischer Marker für ein Therapieansprechen eignet sich – mit Einschränkungen – in der Praxis lediglich die Kernspintomografie, die wir unter immunmodulatorischer Therapie in längeren Abständen (z.B. jährlich) empfehlen.
Einbezug der Kernspintomografie in Therapieentscheidungen Der Stellenwert kernspintomografischer Verlaufsuntersuchungen zur Kontrolle der Wirksamkeit einer Immuntherapie ist ausserhalb von Studien bisher nur in Ansätzen untersucht worden. In einer kürzlich publizierten, sechsjährigen Verlaufsbeobachtung waren vor allem niedriges T1-Läsions-Volumen sowie fehlende Gd-Aufnahme und negative neutralisierende Antikörper (NAb) nach einem Jahr Behandlungsdauer mit einem günstigen Ansprechen auf die laufende Immuntherapie assoziiert (Tomassini, 2006). Die Grundlage der diagnostischen Kriterien bildet die zuverlässige Wiedererkennung und Zuordnung von neuen und äl-
teren Läsionen in der MRT-Untersuchung. In Folgeuntersuchungen können Hinweise auf die Krankheitsaktivität aus neuen oder sich vergrössernden Läsionen und dem Kontrastmittelverhalten gewonnen werden. Diese Informationen variieren erheblich je nach Wahl der Untersuchungsparameter und des Vorgehens. Das Ziel eines MRT-Protokolls bei klinischen Fragestellungen ist die Reduktion der methodisch bedingten Variabilität bei der Läsionserkennung (im Besonderen abhängig von der Repositionierung, der Orientierung der Schichten, den Sequenzen, der Kontrastmittelgabe und der Wahl der Schichtdicke) unter Berücksichtigung von unterschiedlichen technischen Voraussetzungen in radiologischen und neuroradiologischen Praxen, Institutionen und Krankenhäusern (Sailer et al., 2008). Auch unter der Voraussetzung, dass die Verlaufsuntersuchung nach festgelegtem Protokoll unter Beachtung genauer Repositionierung, gleichbleibender Schichtdicke (≤ 5mm) und Schichtabstand mit gleichen MR-Sequenzen und genauer Beachtung des zeitlichen Intervalls zwischen Kontrastmittelinjektion und Messung sowie der Dosis des MR-Kontrastmittels durchgeführt wird (Filippi et al., 2006b; Simon et al., 2006), erscheint eine kernspintomografische Kontrolle zur Abschätzung des subklinischen Therapieeffekts frühestens ein Jahr nach Beginn der Immuntherapie sinnvoll (Sailer et al., 2008). Sollten sich aber anhand anamnestischer Angaben des Patienten und im klinischen Untersuchungsbefund nach einem Jahr bereits Hinweise für unveränderte oder erhöhte Schubfrequenz, kognitive Veränderungen oder für eine anderweitige klinische Progression und somit für ein nicht optimales Ansprechen auf die Immuntherapie ergeben (Freedman et al., 2004; Bates et al., 2005), so erfolgt zunächst ein MRT, dann bei Behandlung mit IFN-β eine Bestimmung der NAb und gegebenenfalls eine Stosstherapie mit Kortikosteroiden. Bei deutlichen Hinweisen für eine Verschlechterung der klinischen Situation sollte gemäss dem Schema (Abbildung) eine Modifikation der Immuntherapie vorgenommen werden. In Zweifelsfällen empfiehlt sich eine
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ständen auch nach den jeweiligen Injek-
Krankheitsaktivität
Cyclophosphamid
Therapieeskalation
tionen eingenommen wird (Ibuprofen bis
Mitoxantron**
3 × 400 mg, Paracetamol bis 4 × 500 mg insgesamt). Nach vier bis sechs Wochen
Natalizumab*
kann versucht werden, die begleitende
Beta-Interferon ↔ GLAT Azathioprin IVIg
Basistherapie
antiphlogistische Medikation zu reduzieren oder auszulassen. Aufgrund möglicher symptomatischer Verschlechte-
Kortikosteroid-Puls Plasmapherese***
Schubtherapie
rungen durch IFN- muss besonders bei SP-MS auf ein langsames Eintitrieren geachtet werden (hier am besten aufstei-
* Bei ≥ 2 schweren Schüben pro Jahr auch als Primärtherapie möglich ** Therapiewechsel auf dieser Eskalationsstufe noch nicht erprobt *** Option bei schweren, steroidresistenten Schüben
gend in wöchentlicher Steigerung um 25%, beginnend mit einem Viertel der Gesamtdosis und unter Komedikation mit antiphlogistischer Therapie). Nicht
Abbildung: Immunmodulatorische Stufentherapie der schubförmigen MS (adaptiert nach: MSTCG, J Neurol 2008)
selten führt IFN-β durch die Verstärkung der Spastik zu einer vorübergehenden
Verschlechterung der Gehfähigkeit, die
bei Persistenz zum Wunsch des Patienten
Kontrolle der NAb nach acht bis zwölf ■ IFN-β-1a (Avonex®, Biogen) wird in nach Therapieabbruch führen kann.
Wochen. Bei weiterhin bestehendem einer Dosierung von 6 Millionen IE Die Therapie sollte abgebrochen werden,
Verdacht auf ein Therapieversagen mit (30 µg) einmal pro Woche intramus- wenn die Schubfrequenz unverändert
anhaltend hohem NAb-Titer sollte dann kulär appliziert.
oder es unter Therapie zu einer deutli-
eine Umstellung der Immuntherapie ■ IFN-β-1a (Rebif®, Serono) wird ent- chen Progression kommt (s.o. Therapie-
erfolgen.
weder mit dreimal 22 µg oder dreimal versagen). Auch der kernspintomografi-
44 µg dreimal wöchentlich subkutan sche Verlauf gibt einen Anhaltspunkt für
2. Immunmodulation mit Interferon-
injiziert.
die Therapiewirksamkeit: Das Ausblei-
Für die Behandlung mit Interferonen ■ Für orale Interferon-β-Präparate konnte ben kontrastmittelaufnehmender Herde
(IFN-β) stehen drei Präparate zur Verfü- in kontrollierten Studien keine klini- ist ein Parameter für die Wirksamkeit der
gung (IFN-β-1a: Avonex®, Rebif®; IFN-β-
sche Wirksamkeit gezeigt werden.
Therapie.
1b: Betaferon®). Alle drei Medikamente
Praktisch gehen wir so vor, dass vor Be-
demonstrierten in grossen Phase-III-Stu- Die Patienten erlernen die Injektionen ginn der Therapie eine MRT-Unter-
dien unter der jeweiligen Dosierung ihre jeweils unter geschulter Anleitung ent- suchung nach einem standardisierten
eindeutige Wirksamkeit zur Behandlung weder im Rahmen eines kurzen sta- Protokoll durchgeführt wird, welche bei
der schubförmigen MS (IFNB, 1993;
Jacobs et al., 1996; PRISMS, 1998). Die Aufgrund der Auswertung der Schubfrequenz in grossen
Reduktion der Schubrate unter Inter- Therapiestudien rechnet man bei Therapieansprechen mit
ferontherapie liegt – bei allen Präparaten einem Wirkungseintritt innerhalb von 6 bis 8 Wochen.
ähnlich – bei etwa 30 Prozent. Für alle
Interferonpräparate liegen inzwischen tionären Aufenthalts oder ambulant. Zu klinisch nicht eindeutigem Ansprechen
Studien vor, die zeigen dass die Applika- dieser Anleitung gehört essenziell auch nach einem Jahr wiederholt wird. Im Fall
tion nach einem ersten MS-verdächtigen die ausreichende Aufklärung über mögli- des Einsatzes von Interferonen in der
Ereignis die Manifestation eines zweiten che Nebenwirkungen (siehe unten), ent- Frühtherapie wird eine MRT-Untersu-
Schubs signifikant verzögert (Jacobs et sprechende Gegenmassnahmen sowie chung bereits nach drei bis sechs Mona-
al., 2000; Comi et al., 2001b). Die Wirk- zur Kontrazeption. Im Sinn einer besse- ten empfohlen (Sicherung der Diagnose
samkeit und die Indikation von IFN-β bei ren Adaptation wird in den ersten beiden sowie erste Einschätzung des Therapie-
SP-MS wird kontrovers diskutiert (siehe Wochen nur die Hälfte (bei starker Über- ansprechens). In der Regel lässt sich an-
oben). Ausschlaggebend für die Behand- reaktion auch nur 25%) der jeweiligen hand des klinischen und des kernspinto-
lung dieser Patientengruppe sind die Enddosis injiziert. Die Applikationen mografischen Befunds über die Weiterfüh-
oben genannten Kriterien der Krankheits- sollten von einer antiphlogistischen Me- rung der Therapie entscheiden. Schübe
aktivität und -progression.
dikation (vorzugsweise Ibuprofen 400 mg unter Therapie werden wie üblich mit
■ IFN-β-1b (Betaferon®, Schering AG) oder Paracetamol 500 mg) begleitet hoch dosierten Glukokortikosteroiden
wird in einer Dosierung von 8 Millio- werden, die 30 bis 60 Minuten vor be- (GCS) behandelt. Die IFN-Therapie muss
nen IE im Abstand von zwei Tagen sub- ziehungsweise je nach grippeähnlichen dabei nicht notwendigerweise ausgesetzt
kutan injiziiert.
Nebenwirkungen in variablen Zeitab- werden.
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Die Frage nach der besten Dosierung der Interferone wird weiterhin kontrovers diskutiert. Obschon eine Dosis-WirkungsBeziehung von IFN-β anzunehmen ist, lassen sich aus den Daten zum jetzigen Zeitpunkt keine allgemeinen Empfehlungen zur differenziellen Indikation der einzelnen zugelassenen Präparate ableiten. Insbesondere ergibt sich hieraus derzeit keine Notwendigkeit, Patienten, die bereits mit Interferonen behandelt werden und einen stabilen Krankheitsverlauf zeigen, auf ein anderes Präparat umzustellen. Durch die unterschiedlichen Dosierungen und Applikationsarten wird allerdings eine individuelle Abstimmung der Therapie ermöglicht. Zu den Kriterien gehören die Applikationsfrequenz, der Applikationsweg (i.m. versus s.c.), die Handhabung der Interferonpräparate (Lyophilisat zum Mischen versus Fertigspritze) sowie die individuelle Verträglichkeit und das Nebenwirkungsprofil (lokale Nebenwirkungen an der Injektionsstelle sowie grippeähnliche Nebenwirkungen sind bei i.m.-Injektion geringer). Die Strategie einer Steigerung der Interferondosis innerhalb eines Präparats beziehungsweise zwischen verschiedenen Präparaten bei Verdacht auf Therapieversagen wird nur durch wenige Studien mit niedrigem Evidenzniveau «plausibilisiert» (z.B. Switching Studien) (↔). Bei Vorliegen neutralisierender Antikörper ist eine Umstellung innerhalb der Interferone nicht sinnvoll (neutralisierende Antikörper sind kreuzreaktiv) (↑↑). Anhand der vorliegenden Daten ergibt sich keine ausreichende Evidenz, bei sekundärem Therapieversagen von einem auf ein anderes Interferon-β-Präparat umzustellen. Je nach Krankheitsaktivität schlagen wir hier die Änderung der immunmodulatorischen Strategie vor (Umstellung innerhalb der Immunmodulatoren oder Eskalationstherapie). Trotz relativ guter Verträglichkeit der Präparate insgesamt gibt es einzelne Patienten, die auch bei Ausschöpfung der Möglichkeiten zur Behandlung der Nebenwirkungen über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten starke Unverträglichkeiten zeigen. Bei lokalen Nebenwirkungen nach subkutaner Injektion kann die Umstellung auf ein intramuskuläres Präparat (Avonex®) erwogen wer-
den, jedoch ist die Umstellung eines Interferonpräparats auf ein anderes bei persistierenden schweren grippeähnlichen Nebenwirkungen nicht sinnvoll.
Verträglichkeit, Nebenwirkungen und Kontraindikationen Grundsätzlich sind zu Beginn der Therapie mit Interferonen leichte Nebenwirkungen häufig, ernste Nebenwirkungen – auch nach inzwischen langjähriger Beobachtung – jedoch selten. Initial treten häufig grippeähnliche Symptome auf, die nur bei einem kleinen Teil der Patienten länger als sechs Monate persistieren. Ermüdbarkeit, Kopfschmerzen, allgemeines Krankheitsgefühl und Myalgien werden weiterhin angegeben. Diese Nebenwirkungen treten meist vier bis zwölf Stunden nach der Injektion auf und können durch die Komedikation mit Antiphlogistika beziehungsweise durch die Injektion am Abend gemildert werden. Entzündungen, Rötungen, Indurationen an der Ein-
Dieser meist passagere Effekt kann antispastisch (z.B. mit Baclofen) therapiert werden. Man beobachtet unter Interferonen einen Anstieg der Leberwerte sowie vorübergehende leichtere Leukopenien. Empfohlen wird die monatliche Kontrolle von Blutbild und Leberwerten innerhalb der ersten drei Behandlungsmonate, danach in dreimonatlichen Abständen. Bei Leukozytenwerten < 3000/µl, Thrombozytenwerten < 75 000/µl beziehungsweise Transaminasenerhöhungen über das Fünffache der Norm sollte die Dosis reduziert werden, in extremen Fällen muss die Therapie ausgesetzt oder ganz abgesetzt werden. Über seltene Fälle von toxischen Hepatitiden wurde berichtet. Mehrere Berichte über Schwangerschaften, die unter der Therapie mit rekombinanten IFN-β-Präparaten auftraten, zeigen ein erhöhtes Risiko für Frühabort und vermindertes Geburtsgewicht (Sandberg-Wollheim et al., 2005; Boskovic et al., 2005), sodass weiterhin auf deren
Der Patient sollte die Einstichstellen wechseln. Lokale Nebenwirkungen können durch das Auflegen von Kühlpackungen vor und nach den Injektionen sowie durch das Anwärmen der Ampulle in der Hand gelindert werden.
stichstelle kommen bei den subkutan verabreichten IFN-Präparaten vor. Vereinzelt (1–3%) treten aseptische Hautnekrosen auf, die manchmal zum Therapieabbruch oder zum Aussetzen der Therapie zwingen. Auf das Auftreten oder die Verschlechterung depressiver Symptome (bis hin zur Suizidalität) soll geachtet werden, da sie zum einen bei MS-Patienten gehäuft vorkommen, zum anderen in Interferonstudien darüber gehäuft berichtet wurde (IFNB, 1993; Jacobs et al., 2000). Für Patienten mit einer depressiven Erkrankung sind Interferone zwar relativ kontraindiziert, können aber nach unserer Erfahrung unter strenger psychiatrischer Kontrolle und gegebenenfalls antidepressiver Medikation vertretbar sein, wenn die MS gut auf IFN-β anspricht oder andere Medikamente unwirksam sind. Ein praktisch bedeutsames Problem ist die Verstärkung der Spastik durch Interferone, die sogar zur vorübergehenden Zunahme der motorischen Behinderung führen kann.
Einsatz während der Schwangerschaft verzichtet werden muss. Vor allem sollte unter der Therapie mit rekombinanten IFN-β-Präparaten auf eine sichere Kontrazeption geachtet werden, da in den genannten Arbeiten die beschriebenen Folgen sogar trotz frühen Absetzens der IFN-β-Medikation nach positivem Schwangerschaftstest aufgetreten waren. Bei einer geplanten Schwangerschaft kann jedoch nach entsprechender Aufklärung die IFN-β-Medikation gerade bei Patientinnen mit hoher Krankheitsaktivität vor Beginn der immunmodulatorischen Therapie bis zum Eintritt der Schwangerschaft fortgeführt werden. Eine Indikation zum Abbruch einer Schwangerschaft, die unter IFN-β-Medikation eingetreten ist, wird nicht gesehen. Über negative Auswirkungen der Interferone zur Fertilität beim Mann gibt es keine Daten. Tabelle 1 fasst die wichtigsten Fakten zur Therapie mit Interferonen zusammen.
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Tabelle 1: Wichtige Fakten zur Therapie mit Immunmodulatoren
Präparat
Interferone Avonex® (Interferon-β-1a)
Dosierung, Applikation, Frequenz 30 µg (entspricht 6 MIU), i.m., 1×/Woche
Betaferon® (Interferon-β-1b)
8 MIU (entspricht 250 µg), s.c., jeden 2. Tag
Rebif® (Interferon-β-1a)
22 beziehungsweise 44 µg, s.c., 3×/Woche
Wirklatenz 6–8 Wochen 6–8 Wochen
6–8 Wochen
Zulassung/Indikation
RR-MS CIS RR-MS SP-MS CIS RR-MS SP-MS
Nebenwirkungen: sehr häufig: grippeähnliche Symptome (meist 2–8 h nach Injektion, 12–16 h anhaltend, oft am Beginn der Therapie am stärksten, im Verlauf abnehmend); bei s.c. Applikationen: Hautrötungen, Schwellung, Entzündung; häufig: Leukopenie, Leberwerterhöhung, vorübergehende Zunahme der Spastik und Muskelschwäche, Hautausschläge, Depression (Aufkärung erforderlich!), Flushing, Thrombozytopenie, Anämie; selten bis sehr selten: Nekrose an Injektionsstellen, Alopezie, Schilddrüsenfunktionsstörungen, anaphylaktische Reaktion, Leberversagen (toxische Hepatitis). Kontraindikationen/Warnhinweise: Schwangerschaft und Stillzeit, schwere Depression, Suizidalität, dekompensierte Leberinsuffizienz, Epilepsie therapeutisch nicht ausreichend kontrolliert, Überempfindlichkeit gegen Interferone (oder einen der Hilfsstoffe, z.B. Serumalbumin). Kontrolluntersuchung: Labor: in den ersten 3 Monaten monatliche Kontrolle von Blutbild, GOT, GPT, gGT; dann 3-monatliche Kontrollen; bei Leukozytenwerten < 3000/µl, Thrombozytenwerten < 75 000/µl bzw. Transaminasenerhöhungen über das 5-Fache der Norm: Dosisreduktion oder Aussetzen der Therapie bis zur Normalisierung der Werte; klinisch: im ersten Therapiejahr alle 3 Monate klinische Kontrolle (inkl. EDSS und MSFC) zur Beurteilung der Verträglichkeit, Adhärenz und Wirksamkeit; in 1-jährigen Abständen zusätzliche MRT; elektrophysiologische Zusatzuntersuchungen (VEP, MEP, SEP) in mindestens 1-jährigen Abständen sinnvoll; bei Verdacht auf ein Therapieversagen ist die Bestimmung von neutralisierenden Antikörpern (NAb) sinnvoll; bei klinisch eindeutigem Therapieversagen muss vor Umstellung der Immuntherapie die zweite NAb-Bestimmung nicht abgewartet werden bzw. kann die Entscheidung zur Therapieumstellung rein klinisch gestellt werden! Bei mindestens 2-maligem Nachweis hochtitriger NAb (entsprechend der Befundmitteilung des ausführenden Labors) sollte bei Verdacht auf ungenügende Therapiewirkung die IFN-β-Therapie beendet und auf ein anderes Behandlungskonzept umgestellt werden. Effektive Massnahmen zur Reduktion der NAb sind bis heute nicht belegt. Bewertung, praktische Tipps: Basistherapie der 1. Wahl bei schubförmiger MS (↑↑); Präparate der 1. Wahl für Frühtherapie der MS nach 1. Schub (↑↑); Therapie für aktive SP-MS (gehfähige Patienten, aktiver Verlauf) (↑); zur Vermeidung grippeartiger Nebenwirkungen abendliche Injektion und prophylaktische Gabe von 400 mg Ibuprofen oder 0,5–1g Paracetamol (30–60 min. vor Injektion); neutralisierende Antikörper (NAb) finden sich in zunehmender Häufigkeit bei Avonex®, Rebif®, Befaferon®; anhaltend hochtitrige NAb sind mit klinischem Wirkverlust der Interferone assoziiert (↑↑); es besteht wahrscheinlich eine Korrelation zwischen Dosis/Frequenz und der initialen Reduktion der Schubrate (↑); die relative Relevanz von NAb gegenüber anderen Faktoren, insbesondere Dosis und Häufigkeit von Nebenwirkungen, ist offen.
Glatirameracetat Copaxone® (Glatirameracetat, GA)
20 mg, s.c., täglich
ca. 3 Monate bis zur kompletten Wirkung
RR-MS
Nebenwirkungen: Entzündungen der Einstichstelle, systemische Postinjektionsreaktion (SPIRS): Herzklopfen, Luftnot, Herzrasen, Vasodilatation (innerhalb von Minuten nach Injektion, meist von kurzer Dauer, gehen spontan und ohne Folgen zurück); Lipoatrophie, Lymphadenopathie, Ödeme, Gewichtszunahme, Tremor. Kontraindikationen/Warnhinweise: Schwangerschaft und Stillzeit, Überempfindlichkeit gegenüber GA oder einem der Hilfsstoffe (Mannitol), sehr selten schwere Allergien, gelegentlich Lipoatrophie. Kontrolluntersuchung: Labor: keine regelmässigen Laborkontrollen erforderlich; klinisch: klinische Verlaufsuntersuchungen analog zu Interferonen. Bewertung, praktische Tipps: Basistherapie der 1. Wahl bei RR-MS (↑↑); Wirksamkeit in der Beeinflussung der Behinderungsprogression nicht sicher belegt, keine Indikation in der SP-MS; Alternativoption beim CIS in Fällen, bei denen IFN-β kontraindiziert oder nicht möglich ist (↔); Wirksamkeit von GA ist auch nach vorheriger Interferon-β-Therapie anzunehmen (↑); NAb haben keine klinische Relevanz.
Intravenöse Immunglobuline
0,2 g/kg KG alle 4 Wochen, i.v. (Cave: Infusionsgeschwindigkeit, insb. bei erstmaliger Infusion Geschwindigkeit 1ml/min.), 1×/Monat
innerhalb weniger Wochen
RR-MS (2. Wahl) evtl. postpartal bei stillenden Frauen
Nebenwirkungen: Kopfschmerzen, Myalgien, Schüttelfrost, Übelkeit, Hautekzem, Blutdruckänderungen, Schwindel, Brustenge, Nierenversagen; selten: Überempfindlichkeitsreaktionen mit Hypotonien bis zum anaphylaktischen Schock; reversible aseptische Meningitis, reversible hämolytische Anämie, Transaminaseanstieg, Kreatininanstieg, Nierenversagen, zerebrale Ischämien (Risikofaktoren: ältere Menschen, Hypovolämie, Übergewicht). Kontraindikationen/Warnhinweise: schwere Herzinsuffizienz, IgA-Mangel, Niereninsuffizienz. Kontrolluntersuchung: Labor: vor Behandlung IgA-Mangel ausschliessen, Serumkreatinin, HIV- und HBV-Serologie sinnvoll, Patient während und bis 20 Minuten nach Infusion sorgfältig beobachten; klinisch: klinische und paraklinische Verlaufsuntersuchungen analog zu Interferonen. Bewertung, praktische Tipps: Alternativpräparat bei RR-MS (immer Kostenübernahme beantragen!); Alternativoption beim CIS in Fällen, bei denen IFN-β und GA kontraindiziert sind (1 positive Studie vorliegend) (↔); in der Postpartalphase als Option zur Verhinderung postpartaler Schübe möglich (↔); optimale Dosis unklar, für MS erscheint 0,2 g/kg KG alle 4 Wochen am besten belegt (↔).
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3. Immunmodulation mit Glatirameracetat (Copolymer-1, Copaxone®, GLAT, GA)
Glatirameracetat (Copaxone®) hat sich aufgrund der in den letzten Jahren gewachsenen Wirksamkeitsevidenzen aus Phase-III-Studien (Johnson et al., 1995; Johnson et al., 1998; Johnson et al., 2000) sowie aus kernspintomografischen Studien (Comi et al., 2001b; Filippi et al., 2001) zu einer guten Alternative der Interferone entwickelt und ist seit September 2001 in Deutschland zur Therapie der schubförmigen MS (RR-MS) zugelassen. Kürzlich publizierte Vergleichsstudien belegen die gleichwertige klinische Wirksamkeit über den Zeitraum von zwei Jahren (Mikol et al., 2008; O’Connor et al., 2008; Wiendl und Hohlfeld, im Druck). Die tägliche subkutane Injektion von 20 mg GA, die der Patient nach fachgerechter Anleitung und Aufklärung selbst durchführen kann, wird vergleichsweise gut vertragen und hat auch innerhalb der Langzeitbeobachtung relativ wenige Nebenwirkungen (Tabelle 1). Man beginnt die Therapie mit der vollen Dosis (20 mg), eine begleitende antiphlogistische Medikation ist nicht notwendig. Verschiedene Befunde deuten auf einen differenziellen Wirkmechanismus im Vergleich zu IFN-β hin. Die Kenntnis der Latenz bis zur vollen Entfaltung der Wirksamkeit von GA (etwa 3 bis 6 Monate) ist für die klinische Anwendungspraxis wichtig, da zum Beispiel Schübe innerhalb der ersten Monate einer Therapie mit GA nicht als Hinweis für ein Therapieversagen gedeutet werden dürfen. Für Patienten mit höheren Behinderungsgraden oder sekundär-chronisch progredienten Verläufen gibt es bis jetzt keinen überzeugenden Wirksamkeitsnachweis, sodass die Hauptbedeutung von GA bei Patienten in frühen Krankheitsstadien und mit relativ kurzen Krankheitsverläufen (klinisch bzw. MRtomografisch) liegt. GA kann auch eine Wirksamkeit nach einem Therapieversagen mit IFN-β zeigen. Umgekehrt kann nach Therapieversagen unter GA die Umstellung auf ein IFN-β erfolgen beziehungsweise je nach Verlauf bereits die Therapieeskalation durchgeführt werden. Orales GA ist unwirksam. GA ist
auch als Frühtherapie nach einem ersten Schub wirksam, eine entsprechende Zulassung wird erwartet (Stand 2/2009).
Nebenwirkungen und Kontraindikationen Insgesamt wird die tägliche subkutane Applikation von 20 mg Copaxone® vergleichsweise gut vertragen. Neben lokalen Nebenwirkungen (Juckreiz, Erytheme, Schwellungen, Entzündungen) ist das vereinzelte Auftreten von Lymphknotenschwellungen sowie kurz dauernden, spontan remittierenden, systemischen Reaktionen mit Beklemmungsgefühl, Angst, Herzrasen und Flush-Symptomen (sog. systemische Postinjektionsreaktionen: SPIR) erwähnenswert. Diese treten
Vergleich zu Plazebo zu keiner erhöhten Inzidenz von grippeähnlichen Symptomen, Depression, Fatigue-Symptomen oder Suiziden. Wechselwirkungen von GA mit anderen Medikamenten sind nicht beschrieben. In Schwangerschaft und Stillzeit ist GA kontraindiziert und sollte daher ausgesetzt werden.
4. Immunsuppression mit Azathioprin (AZA, Imurek®)
Azathioprin (AZA; Imurek®) ist das Mittel der zweiten Wahl zur Therapie der RRMS und wird nach wie vor insbesondere in vielen europäischen Ländern als Immunsuppressivum mit relativ günstigem Nebenwirkungsprofil eingesetzt. Obwohl
Hat eine bisherige Azathioprintherapie zu einer gut dokumentierten Stabilisierung des Krankheitsverlaufs geführt, so ist deren Fortführung gerechtfertigt.
als mindestens einmaliges Ereignis meist kurz nach der Injektion auf (bei etwa 10% der Patienten, insgesamt mit einer Häufigkeit von 0,04% bezogen auf die Gesamtzahl der Injektionen, das heisst 1 aus 2500 Injektionen). Die SPIR ist selbstlimitierend und führt nicht zu Langzeit- oder Folgeschäden. Die Patienten müssen vor Therapiebeginn hierüber detailliert informiert werden. Wie bei jeder Applikation einer körperfremden Substanz kann eine anaphylaktische Reaktion grundsätzlich auftreten. Bis jetzt wurden nur vereinzelte nicht fatale anaphylaktische Reaktionen unter GA-Therapie beschrieben. Einzelne Fallberichte existieren – wie für IFN-β – zum Auftreten von Autoimmunerkrankungen unter Therapie (Übersicht bei Ziemssen et al., 2002). Auch wenn es nicht möglich ist, aufgrund einzelner Fallberichte einen kausalen Zusammenhang zur GA-Therapie herzustellen – zumal ein koinzidenzielles Auftreten der erwähnten Autoimmunerkrankungen bei der Grunderkrankung MS nicht ausgeschlossen werden kann –, sollte der behandelnde Arzt anamnestischen oder klinischen Hinweisen auf das Vorliegen von anderen Autoimmunerkrankungen während der Behandlung mit GA gewissenhaft nachgehen. Die Therapie mit GA führt im
die Meinungen über die Wirksamkeit von AZA bis heute kontrovers sind, zeigen Studien bei RR-MS eine Tendenz zur Reduktion der Schubrate (Yudkin et al., 1991) (↑). Bei der chronisch progredienten MS erbrachte das Medikament keinen positiven Effekt (↓↓). In Ländern mit restriktiveren Gesundheitssystemen wird AZA in Ermangelung von IFN-β oder GA auch aufgrund seiner Kostengünstigkeit teilweise bevorzugt verwendet. Unter Dauertherapie mit AZA steigt erst nach mehr als fünf Jahren das Malignomrisiko auf das Doppelte, nach mehr als zehn Jahren um den Faktor 4,4 (Fallkontrollstudie, Confavreux et al., 1996). Die Mehrzahl der Langzeitbeobachtungen unter AZA beschreibt das Medikament bis zur Gesamtanwendungsdauer von zehn Jahren als sicher (Palace und Rothwell, 1997). Bei nachweisbar erhöhtem Risiko für Sekundärneoplasien ist die Dauer dieser immuntherapeutischen Strategie aus unserer Sicht auf fünf (bis 10) Jahre zu begrenzen. Beim Wechsel auf ein anderes immunmodulatorisches Regime (IFN-β, GA) praktizieren wir direktes Absetzen und Initiierung der alternativen Immunmodulation. Bei Entscheidung zum generellen Aussetzen der immunmodula-
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torischen Therapie empfehlen wir ein langsameres Ausschleichen mit Reduktion der Dosis um 50 mg alle drei Monate (in Analogie zum Vorgehen bei der Myasthenia gravis) (↔). AZA wird in einer Dosierung von 2 bis 3 mg/kg Körpergewicht in 1 bis 3 Einzeldosen oral eingenommen (typische Tagesdosis 150–200 mg). Gastrointestinale Nebenwirkungen können durch die Aufteilung in kleinere Einzeldosen vermindert werden. Vor Therapiebeginn ist ein Blutbild inklusive Leukozyten, Hämoglobinwert, MCV und Thrombozyten sowie die Bestimmung der Leberwerte (GPT, AP, Bilirubin) durchzuführen. Wir beginnen mit einer einmaligen Dosis von 50 mg morgens und steigern über vier Wochen auf die volle Dosis, bei gastrointestinalen Nebenwirkungen (Übelkeit, Erbrechen, Unwohlsein) über einen längeren Zeitraum. Die volle immunsuppressive Wirkung entfaltet sich frühestens nach etwa drei Monaten und lässt sich an einer Zunahme des mittleren erythrozytären Volumens (MCV) um 5 bis 10 Prozent sowie der Retikulozytenzahl auf > 15 Promille ablesen. In den ersten sechs bis acht Wochen ist eine wöchentliche Kontrolle, im weiteren Verlauf eine monatliche Kontrolle der Laborparameter sinnvoll. Als Zielgrösse unter einer AZATherapie wird eine Lymphopenie von 600 bis 1000/µl angestrebt. Die absoluten Leukozytenzahlen sollten zwischen 3000 und 5000/µl liegen. Bei Zahlen unter 3000/µl sollte die Dosis reduziert werden. Bei persistierenden Leukozytenwerten unter 3500/µl wird eine Therapiepause empfohlen. Die absoluten und relativen Leukozyten- und Lymphozytenzahlen sollten nicht als alleinige Wirksamkeitsparameter verwendet und Dosissteigerungen sollten nicht aufgrund dieser Zahlen, sondern im Einklang mit der klinischen Wirksamkeit durchgeführt werden.
Nebenwirkungen und Kontraindikationen Relativ häufig sind anfänglich uncharakteristische gastrointestinale Symptome (leichte Übelkeit, Bauchschmerzen). Sie können in Einzelfällen nach der ersten Dosis akut auftreten und mit sofortigem Erbrechen einhergehen (Idiosynkrasie, Häufigkeit < 1%).
Selten entsteht eine medikamenteninduzierte Pankreatitis. Auch besteht eine Neigung zur intrahepatischen Cholestase (Alkoholkonsum und andere potenziell lebertoxische Substanzen sollten abgesetzt werden!), in seltenen Fällen entsteht eine schwere Hepatitis. Während fieberhafter Infektionen mit Temperaturen > 38,5 °C sollte die AZATherapie vorübergehend unterbrochen und eine antibiotische Therapie initiiert werden. Selten löst AZA selbst ein medikamentöses Fieber aus. Unter AZA-Dauertherapie muss mit einer erhöhten Kanzerogenität gerechnet werden. Beschrieben werden vermehrt Tumoren des lymphatischen Systems. Bei Patienten nach Organtransplantation wurden sie gehäuft beobachtet. Die Mehrzahl der Langzeitbeobachtungen unter AZA beschreibt das Medikament bis zur Gesamtanwendungsdauer von zehn Jahren als sicher (Palace und Rothwell, 1997). Wegen des verzögerten Azathioprinabbaus bei gleichzeitiger Gabe von Allopurinol (Xanthinoxidasehemmer) sind die immunsuppressive Wirkung und die Toxizität von AZA verstärkt. Die AZA-Dosis muss bei dieser Komedikation auf ein Viertel reduziert werden (Blutbildkontrollen!). Beim Auftreten von Bauchschmerzen muss unbedingt eine Mitbestimmung der Pankreasenzyme erfolgen. Eine bis zu vierfache Erhöhung der g-GT und der Transaminasen wird unter AZATherapie noch toleriert. Wie bei anderen Immuntherapien ist auf eine sichere Kontrazeption zu achten, AZA ist potenziell teratogen. Sowohl bei männlichen als auch weiblichen Patienten sollte die Kontrazeption nach Absetzen von AZA noch mindestens sechs Monate fortgesetzt werden. Kommt es während der AZA-Therapie zu einer Schwangerschaft, so ist dies keine absolute Indikation für einen Abbruch, da bisherige Untersuchungen auf ein niedriges Risiko für Mutter und Kind hinweisen. Eine Beratung durch einen Gynäkologen über die möglichen Risiken sollte dennoch erfolgen. Wir raten während der Schwangerschaft dringlich zum Aussetzen der Therapie. Kontraindikationen stellen chronische Lebererkran-
kungen, chronische Infektionen, Schwangerschaft und AZA-Unverträglichkeit dar.
5. Immunmodulation mit intravenösen Immunglobulinen (IVIg)
Die praktische Bedeutung von IVIg in der MS-Therapie ist in den letzen Jahren aufgrund kontroverser, teilweise negativer Studienergebnisse zum Wirksamkeitsnachweis bei SP-MS (Hommes et al., 2004), RR-MS (PRIVIG-Studie, Fazekas et al., 2008) sowie zur Förderung der Rekonstitution bei akutem MS-Schub (Sorensen et al., 2004) kontinuierlich zurückgegangen. IVIg gelten als Reservemedikation zur Behandlung der schubförmigen MS, wenn sich der Einsatz von Interferonen und GA als wirkungslos, kontraindiziert oder von nicht tolerablen Nebenwirkungen begleitet darstellt (↑). Gleiches gilt für eine Therapie nach dem ersten Schub, seit in dieser Indikation eine positive Studie vorliegt (Achiron et al., 2004a). Für chronisch progrediente Verlaufsformen kann aufgrund der derzeitigen Studien keine Empfehlung gegeben werden (↓↓). Bei geplanter Neueinstellung auf IVIg ist in jedem Fall eine Kostenübernahme zu beantragen (off label use!). Bei Patienten mit Kinderwunsch und Bedarf der Fortführung einer immunmodulatorischen Therapie stellen IVIg eine Alternative dar. Dies gilt auch für die Stillzeit. Zur Verhinderung postpartaler Schübe sind IVIg das Mittel der ersten Wahl (↔). Über die günstigste Dosis sowie die Applikationsintervalle besteht kein Konsens (in den vorliegenden Studien differieren die Dosierungen bis um den Faktor 10!). Wir verwenden IVIg (z.B. Flebogamma®) in der Dosierung von 0,2 g/kg KG über drei bis fünf Tage, wobei die Zyklen alle ein bis zwei Monate wiederholt werden. Da es keinen Beleg gibt, dass IVIg wirksamer sind als Azathioprin – welches als Alternativpräparat nach den Medikamenten der ersten Wahl ebenfalls infrage kommt –, stellen wir die Indikation zur IVIg-Therapie in der MS zunehmend strenger.
Nebenwirkungen und Kontraindikationen Die meisten der nach IVIg-Therapie aufgetretenen Nebenwirkungen stellen nur leichte Allgemeinreaktionen wie Fieber,
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Tabelle 2: Praktisches Vorgehen bei Therapie mit Natalizumab (Tysabri®)
Indikation Monotherapie bei hochaktiver schubförmiger MS bei ■ Patienten mit hoher Krankheitsaktivität trotz immunmodulatorischer Behandlung (IFN-β oder GA)
– im letzten Jahr mindestens 1 Schub und – mind. 9 T2-hyperintense Läsionen oder ≥ 1 Gd-anreichernde Läsion. ■ Patienten mit rasch fortschreitender, schubförmig remittierend verlaufender MS (mind. 2 schwere Schübe pro Jahr) – 2 oder mehr Schübe mit Behinderungsprogression in einem Jahr und – mit ≥ 1 Gd-anreichernde Läsion im MRT oder mit einer signifikanten Erhöhung der T2-Läsionen im Vergleich zu früheren – MRT-Aufnahmen.
Dosierung 300 mg i.v. im Abstand von 4 Wochen (1 × monatlich)
Applikation 1. 15 ml des Natalizumabkonzentrats werden zu 100 ml einer 0,9%-igen NaCl-Infusion gegeben. 2. Infusionsdauer 1 Stunde; Nachbeobachtung 1 Stunde. 3. Biologische Vorprobe: 1 ml der Infusionslösung infundieren, abstellen und 15 Min. beobachten (Anaphylaxie?). Diese Massnahme ist bei
1. und 2. Applikation zwingend.
Cave: anaphylaktische/anaphylaktoide Reaktionen, insbesondere bei der 2. Gabe.
vor 1. Gabe 1. Sichere Diagnose! Aufklärung, Einverständniserklärung. 2. MRT (falls vorhergehendes länger als 3 Monate zurückliegt). 3. Keine immunmodulatorische/-suppressive Begleitmedikation
Abstand zu vorheriger Therapie mit Immunmodulatoren ≥ 14 Tage Abstand zu vorheriger Therapie mit Immunsuppressiva 3–6 Monate (CAVE: strenge Risiko-Nutzen-Abwägung). 4. Normale Leukozyten/Lymphozyten-Werte, Blutbild, ggf. CD4/CD8-Ratio («Immunkompetenz»). 5. Keine akute Infektion, keine rezidivierenden oder schweren Infekte in der Vorgeschichte.
Verlaufskontrollen/Besonderheiten/Hinweise ■ vierteljährliche neurologische Kontrolluntersuchungen durch MS-erfahrene Behandler (z.B. MS-Zentren) unter besonderer Berücksich-
tigung kognitiver und neuropsychologischer Funktionen (z.B. Aphasie, Apraxie, kortikale Blindheit als möglicher Hinweis für eine PML) ■ dokumentierte Aufklärung der Patienten über die besonderen Risiken der Therapie ■ vor Beginn der Therapie kranielles MRT als Basisuntersuchung und zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung «atypischer MS-Läsionen»
(MRT nicht älter als 3 Monate) ■ etablierte Notfallmassnahmen zur Behandlung allergischer und anaphylaktischer Reaktionen sollten beim Behandler vorhanden und eine
standardisierte MRT-Verlaufsdiagnostik möglich sein ■ die Asservierung von Liquor vor Therapie ist optional («Basisliquor» als Vergleich mit späteren Untersuchungen) ■ Einsatz nur als Monotherapie in zugelassener Dosierung und Applikationsintervallen bei immunkompetenten Patienten (normales Diffe-
renzialblutbild und Infektausschluss) nach Versagen einer Therapie mit rekombinantem IFN-β oder GA ■ nach aktueller Einschätzung mind. 14 Tage therapiefreies Intervall nach IFN-β oder GA vor der ersten Natalizumabgabe ■ Einsatz bei Patienten mit vorangegangener Immunsuppression nur unter genauer individueller Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnis-
ses (nach aktueller Einschätzung/Expertenmeinung mindestens 3 Monate therapiefreies Intervall vor der 1. Gabe; es liegen aber noch keinerlei Erfahrungen zum zeitlichen Abstand vor!) ■ bei Verdacht auf das Vorliegen einer PML (klinisch oder MRT nach den Leitlinien der DGN) sollte die Therapie mit Natalizumab zunächst unterbrochen und ein MRT sowie eine Lumbalpunktion mit PCR (polymerase chain reaction) zum Nachweis/Ausschluss von JCV-DNS (Polyoma-Viren-DNS) durchgeführt werden. Bei hochgradigem PML-Verdacht, aber negativer PCR, kann eine Hirnbiopsie in Erwägung gezogen werden. ■ bei Hypersensitivitätsreaktionen/allergischen Reaktionen: Abbruch der Natalizumabtherapie ■ bei Verdacht auf Therapieversagen: Bestimmung neutralisierender Antikörper (geschätzte Häufigkeit 6%) ■ MS-Schub unter Natalizumabtherapie: Therapie mit Kortikosteroiden möglich (cave: Ausschluss von Hinweisen auf opportunistische Infektionen).
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Kopfschmerzen, Myalgien, Schwindelgefühl und Übelkeit dar. Seltener sieht man anaphylaktoide Reaktionen. Bei raren Fällen von IgA-Mangel (Prävalenz in Europa etwa 1:600) können durch anti-IgA-Antikörper schwere anaphylaktoide Reaktionen auftreten, da manche
Immunglobulinpräparate üblicherweise Spuren von allogenem IgA enthalten. Die quantitative Bestimmung der IgAKonzentration im Serum vor Beginn der Therapie deckt dieses Risiko auf. Infolge einer Volumenüberlastung kann es bei zu schneller IVIg-Infusion zur
systemischen Hypersensitivität sowie zu Nierenversagen oder zu Herzinsuffizienz kommen. IVIg führen vorübergehend zu einer Viskositätssteigerung und erhöhtem Plasmavolumen. Die Pathogenese rezidivierender aseptischer Meningitiden unter IVIg ist ungeklärt. Die strenge
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Kopplung von meningealen Reizerscheinungen an Auffrischungsinfusionen deutet auf die Notwendigkeit einer vorausgegangenen Sensibilisierung hin. Die Patienten sollten darauf hingewiesen werden, dass IVIg möglicherweise mit Impfungen durch Lebendimpfstoffe interferieren können (vgl. auch Tabelle 1).
6. Behandlung der schweren schubförmigen MS (RR-MS), der sekundärchronisch progredienten MS (SP-MS) und der primär-progredienten MS (PP-MS)
6.1. Immunspezifische Behandlung mit Natalizumab (Tysabri®) Natalizumab ist der erste selektive Adhäsionsmolekülblocker sowie der erste monoklonale Antikörper, der eindeutige Wirksamkeitsbelege in einer Phase-IIIStudie bei MS zeigt. Der vermutete Wirkmechanismus ist durch verschiedenste tier- und humanexperimentelle Untersuchungen plausibel belegt, wobei der Hauptmechanismus in der Inhibition der Transmigration putativ enzephalitogener Zellen in das ZNS zu liegen scheint. Darüber hinaus dürften jedoch auch andere Effekte durch den monoklonalen Antikörper induziert sein (Rice et al., 2005). Natalizumab ist zugelassen für die krankheitsmodifizierende Monotherapie von hochaktiver schubförmiger MS bei Patienten mit hoher Krankheitsaktivität trotz Behandlung mit einem IFN-β-Präparat oder bei unbehandelten Patienten mit rasch fortschreitender, schubförmig remittierend verlaufender MS (mindestens 2 schwere Schübe pro Jahr) (siehe Abbildung 1 sowie Tabelle 2). Zusätzlich zu den klinischen Parametern sollten entsprechende kernspintomografische Belege der Krankheitsaktivität erbracht sein. Bei nicht vorbehandelten und hochaktiven Patienten (besondere Schwere der Schübe ≥ 2 sowie hohe Läsionslast in der Kernspintomografie) kann Natalizumab als Primärtherapie erwogen werden (bisher war nach den Empfehlungen der MSTKG allein Mitoxantron hierfür vorgesehen). Der Einsatz als Primärtherapie bei Patienten mit mindestens zwei schweren Schüben pro Jahr sollte nur nach Rücksprache mit einem MS-Zentrum durchgeführt werden. In einer
Natalizumab kommt als Präparat der Eskalationstherapie bei schubförmig verlaufender MS ohne Zeichen der sekundären Progression, aber nicht ausreichendem Effekt einer Basistherapie mit IFN- oder GA, zum Einsatz.
Untersuchung zur Behandlung des akuten MS-Schubs hatte die einmalige intravenöse Applikation von Natalizumab (Tysabri®) keinen signifikanten Effekt auf die Rückbildung der Schubsymptome (O’Connor et al., 2004), sodass hoch dosierte Glukokortikoide derzeit die einzige uneingeschränkt empfohlene Schubtherapie bleiben. Natalizumab stellt daher als Monotherapie nach der aktuellen Zulassungs- und Empfehlungssituation eine Therapieoption in der Eskalationstherapie der schubförmigen MS dar. Natalizumab wird in einer Fixdosierung von 300 mg alle vier Wochen beziehungsweise einmal monatlich verabreicht. Die Wirkung sollte in Analogie zur Beeinflussung der kernspintomografischen Parameter innerhalb von ein bis zwei Monaten eintreten. Die Verträglichkeit der Substanz ist – von Hypersensitivitätsreaktionen abgesehen – gut. Patienten mit einer Überempfindlichkeitsreaktion (ca. 4% in Zulassungsstudien) müssen dauerhaft von einer Behandlung mit Natalizumab ausgeschlossen werden, behandelnde Ärzte/Einrichtungen müssen mit der Behandlung der Anaphylaxie vertraut sein. Momentan schwer ein-
zuschätzen ist das Risiko opportunistischer Infekte oder anderer unerwarteter Nebenwirkungen der Therapie in der Langzeitanwendung. Die in der Arztinformation und den Managementleitlinien für Tysabri® niedergelegten, sehr detaillierten Informationen und Empfehlungen müssen hier berücksichtigt werden (Arztinformation und Management-Leitlinien unter www. biogenidec.de). Zu beachten ist noch, dass auch bei Natalizumab persistierende NAb auftreten können (nach Studienlage bis zu 6%), diese mit einem Wirksamkeitsverlust einhergehen und auch mit einem erhöhten Risiko für Infusionsreaktionen verbunden sind. Da in den ersten Jahren nach Zulassung von Natalizumab durchaus mit neuen Erkenntnissen zu rechnen ist und in der Folge die Nutzen-Risiko-Einschätzung der Substanz überdacht werden muss, sind seitens der Hersteller umfangreiche Anwendungsbeobachtungen in den Ländern vorgesehen, in denen dieses Präparat zugelassen wurde. Daher sollten sich Ärzte, die Tysabri® regelmässig anwenden, über diese Neuerungen informieren (siehe auch Tabelle 3).
Tabelle 3: Offene Punkte und Fragen zum praktischen Einsatz zu Natalizumab (Tysabri®), die momentan nicht evidenzbasiert zu beantworten und im Rahmen wissenschaftlicher Studien zu klären sind (siehe auch Kappos et al., 2007):
■ (a) Entwicklung früher Prädiktoren für ein Ansprechen auf die Therapie (bis jetzt keine bekannt, Beurteilung erfolgt – wie bei Immunmodulatoren – im Verlauf)
■ (b) Bestimmung der Inzidenz einer PML unter der Monotherapie, Risikofaktoren und diagnostische Verfahren (gegenwärtige Schätzung weiterhin Risiko 1:1000–1:10000 bei Behandlungsdauer von ca. 18 Monaten)
■ (c) Evaluierung der notwendigen und optimalen Dauer der Behandlung (pragmatische Empfehlung wäre bei guter Verträglichkeit und Wirksamkeit zunächst 2 Jahre)
■ (d) Eskalation nach einer Therapie mit Natalizumab (z.B. Versagen oder Unverträglichkeit) ■ (e) Wechsel von Mitoxantron auf Natalizumab (bis jetzt keine Empfehlung zur Umstellung bei Stabi-
lität unter Mitoxantron, bei hoher Krankheitsaktivität unter Mitoxantron kann die Umstellung auf Natalizumab erwogen werden) ■ (f) Von der Adhäsionsmolekülblockade unabhängige, potenziell relevante Wirkmechanismen ■ (g) Etablierung von praktikablen Methoden zur Dokumentation der Immunkompetenz vor und während der Therapie mit Natalizumab ■ (h) Ansprechraten und Risiken von Impfungen unter Natalizumab ■ (i) Auswirkungen von Natalizumab während Schwangerschaft und Stillzeit (momentan hier kontraindiziert) ■ (j) Therapie der kindlichen MS mit Natalizumab
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Nebenwirkungen und Kontraindikationen Die Antikörpertherapie war in einigen Fällen (ca. 4%) mit Hypersensitivitätsreaktionen assoziiert, nur in 8 Prozent der Fälle kam es zu schweren Hypersensitivitätsreaktionen, die insbesondere bei der zweiten Gabe auffällig wurden. Die Bildung von Antikörpern gegen Natalizumab wurde insgesamt bei 9 Prozent während der Studie nachgewiesen. Davon hatten 6 Prozent persistierende Antikörper, die mit einer Erhöhung infusionsassoziierter Nebenwirkungen und einem Verlust der Wirksamkeit verbunden waren. Daneben wurde über Fatigue oder leichte Kopfschmerzen berichtet. Die Infektrate allgemein war unter Natalizumabtherapie nicht erhöht (Polman et al., 2006). Malignome waren nach zweijähriger Beobachtungszeit ebenfalls nicht gehäuft aufgetreten. Kontraindikationen bestehen bei Überempfindlichkeitsreaktionen, Patienten mit erhöhtem Risiko für opportunistische Infektionen, Schwangerschaft und Stillzeit sowie Patienten mit aktiven Malignomen. Angesichts der Sicherheitsbedenken verbietet sich zudem jeglicher Einsatz von Natalizumab in Kombination mit einer immunmodulierenden oder -suppressiven Therapie. Kommen MSPatienten, die bereits mit Imurek®, Mitoxantron oder Cyclophosphamid behandelt wurden, für eine Therapie mit Natalizumab infrage, muss besonders sorgfältig abgewogen und dafür gesorgt werden, dass dem Immunsystem ausreichend Zeit gegeben wird, um sich wieder zu erholen. Angesichts des Risikos opportunistischer Infektionen empfiehlt sich eine sorgfältige individuelle Nutzen-RisikoAnalyse, die durch ein spezialisiertes MSZentrum erfolgen sollte. Hilfreiche Algorithmen zum Monitoring hinsichtlich opportunistischer Infektionen, insbesondere der progressiven multifokalen Leukoenzephalopathie (PML), bei Patienten unter Behandlung mit Natalizumab wurden vorgeschlagen (Kappos et al., 2007). Die Zulassung von Natalizumab (Tysabri®) stellt eine besondere Situation in der MS-Therapie dar. Auf der einen Seite steht ein hochwirksames und innovatives Medikament zur Verfügung, das eine grosse Bereicherung für das therapeutische Arsenal bei MS darstellt. Auf der
anderen Seite steht ein bis jetzt unzureichend verstandenes Sicherheitsprofil mit erhöhtem Risiko für opportunistische Infektionen, insbesondere der PML. Es ist daher von grosser Bedeutung für die Zukunft des Medikaments, dass eine verantwortungsvolle und wachsame Anwendung erfolgt, die sicherlich in der ersten Zeit der Therapie primär in Absprache mit auf MS-Diagnose und -Therapie (inklusive Infusionstherapie) spezialisierten Zentren stattfinden sollte.
6.2. Mitoxantron (MIX, Novantron®) Das Chemotherapeutikum Mitoxantron kann bei Versagen einer immunmodulierenden Basisbehandlung im Sinne der Therapieeskalation beziehungsweise bei schweren und rasch progredienten MSVerläufen eingesetzt werden. In mehreren Studien wurde übereinstimmend eine signifikante Reduktion der Schubzahl und in der zweijährigen Dosisvergleichsstudie (MIMS-Studie; Hartung et al., 2002) auch der Krankheitsprogression nachgewiesen (↑). Es wird als ein effektives immunprophylaktisches Medikament in der Behandlung sowohl der schubförmigen als auch der sekundärprogredienten MS angesehen, welches aber aufgrund seiner Kardiotoxizität oberhalb einer Dosis von 140 mg/m2 Körperoberfläche (KOF) nur etwa 24 bis 36 Monate eingesetzt werden kann. Der Effekt auf die Krankheitsaktivität kann nach Absetzen von MIX andauern. Eine Wirksamkeit bei primär-progredienter MS konnte bisher nicht gezeigt werden (Leary und Thompson, 2005). Wir stellen die Indikation bei Patienten mit: ■ hoch aktivem schubförmigem Verlauf
mit ≥ 2 Schüben/Jahr und/oder Progression im EDSS mit schlechter Remissionstendenz mit oder ohne vorangegangene Immuntherapie (IFN-β, GA, AZA, IVIg) ■ Therapieversagen der Medikamente der ersten (und zweiten) Wahl bei schubförmiger MS ■ SP-MS mit rascher Progression (≥ 1 EDSS-Punkt pro Jahr).
Die bläuliche Substanz, die bei Raumtemperatur gelagert werden kann, wird
nach Verdünnung in physiologischer Kochsalzlösung in einer zirka 30-minütigen Infusion appliziert. Die Applikationsintervalle betragen in Anlehnung an die MIMS-Studie drei Monate für die Gesamtdauer von zwei Jahren (d.h. 9 Infusionen mit einer Dosis von 12 mg/m2 KOF). Zur Vermeidung von infusionsbedingter Übelkeit wird die zusätzliche Medikation mit einem oralen oder intravenösen Antiemetikum (z.B. Ondansetron oder Tropisetron) empfohlen (Tabelle 4). Die Patienten sollten zur ausreichenden Flüssigkeitszufuhr (2–3 l) am Tag nach der Infusion angehalten werden, zudem müssen sie über eine kurzfristig auftretende Blauverfärbung des Urins beziehungsweise der Skleren informiert werden. Inzwischen wurden aus grösseren Verlaufsbeobachtungen und Einzelfallberichten vereinzelt schwere Nebenwirkungen wie Kardiomyopathie oder sekundäre Leukämien (Bosca et al., 2008) bei MS-Patienten während und nach der Behandlung mit Mitoxantron bekannt, sodass eine Reduktion der kumulativen Höchstdosis auf 100 mg/m2 KOF erfolgte. In Deutschland liegt nach Intervention der DMSG eine neue Fachinformation vor, die eine Fortführung der Behandlung durch einen MS-Spezialisten bis zu einer Gesamtdosis von 140 mg/m2 KOF unter strenger Nutzen-Risiko-Abwägung und gleichzeitiger Überwachung der Herzfunktion on-label ermöglicht. Da unerwünschte kardiale Nebenwirkungen nicht wie in der MIMS-Studie zunächst beschrieben vor allem unter höheren Gesamtdosen auftreten, sondern unabhängig von der jeweilig aktuellen Gesamtdosis beobachtet wurden, erging Mitte 2008 eine Empfehlung der USamerikanischen FDA, vor jeder MIX-Applikation eine echokardiografische Kontrolle (LVAF) zu veranlassen (http:// www.fda.gov/Cder/drug/InfoSheets/HCP/ mitroxantroneHCP.htm). Die kumulative Höchstdosis beträgt damit für die ambulante Anwendung weiterhin 100 mg/m2 KOF und 140 mg/m2 KOF für die Anwendung in spezialisierten MS-Zentren. Nach Abschluss der Mitoxantrontherapie sollten für den Zeitraum von fünf Jahren jährliche echokardiografische Nachkontrollen erfolgen.
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Tabelle 4: Praktisches Vorgehen bei Therapie mit Mitoxantron
Indikation ■ hochaktiver schubförmiger Verlauf mit ≥ 2 Schüben/Jahr und/oder Progression im EDSS mit schlechter Remissionstendenz mit oder
ohne vorangegangene Immuntherapie (IFN-β, GA, AZA, IVIg) ■ Therapieversagen der Medikamente der 1. (und 2.) Wahl bei schubförmiger MS ■ SP-MS mit rascher Progression (≥ 1 EDSS Punkt pro Jahr).
Einschlusskriterien Kontraindikationen: kardiale Vorerkrankungen, pathologische EKG-Veränderungen, LVEF < 50%, vorbestehende Myelonsuppression, bereits erfolgte Anthrazyklintherapie oder mediastinale Radiation, mögliche kardiotoxische Komedikationen (z.B. Lithium), Schwangerschaft oder Stillzeit; relative Kontraindikation: eingeschränkte Leberfunktion. Vor Therapiebeginn: Röntgen Thorax, EKG, Echokardiografie, Blutbild, Leberwerte, Nierenwerte, klinische Chemie, Urinstatus, Schwangerschaftstest, bei Frauen sichere Kontrazeption.
Therapieschema 1. Echokardiografischer Ausschluss einer relevanten Kardiomyopathie vor jeder Mitoxantrongabe. 2. Prophylaktische Antiemese (z.B. Navoban® 5 mg i.v.) 30–60 min. vor der Infusion. 3. Mitoxantron 12 mg/m2 Körperoberfläche, gelöst in 250 ml 0,9%-prozentiger NaCl-Infusion über ca. 30 min. 4. Nach Infusion: regelmässige Blutbildkontrolle (alle 3–4 Tage) bis zum Erreichen des Leukozyten-Nadirs 10–14 Tage nach Infusion und
Dokumentation des Wiederanstiegs der Leukozyten vor erneuter Mitoxantrongabe (ab der 4. Woche in 14-tägigem Abstand). 5. Dosismodifikation bei Leukozyten/Thrombozyten-Nadir:
Leukozyten-Nadir < 2000/µl oder Thrombozyten-Nadir < 50 000/µl: Reduktion auf 10 mg/m2 KOF Leukozyten-Nadir < 1000/µl oder Thrombozyten-Nadir < 25 000/µl: Reduktion auf 8 mg/m2 KOF Leukozyten < 3500/µl und/oder Thrombozyten < 100 000/µl zum geplanten Infusionszeitpunkt: Aufschub bis zur Leukozyten/Thrombozyten-Normalisierung. 6. Therapieintervall: Infusionen alle 3 Monate. 7. Maximaldosis: 140 mg/m2 KOF (MS-Zentren), 100 mg/m2 KOF (ambulanter Bereich). 8. Abbruchkriterien: Reduktion der linksventrikulären Auswurffraktion um > 10% im Vergleich zum Ausgangswert oder < 50% im Absolutwert, keine Beeinflussung der Erkrankungsprogression bzw. Schubfrequenz innerhalb von 6 bis 12 Monaten.
Begleitende Massnahmen 1. Ausführliche Information und Aufklärung des Patienten über toxische Nebenwirkungen, schriftliche Einverständniserklärung. 2. Ausstellung Chemotherapiepass. 3. Kontrollechokardiografie vor jeder Mitoxantrongabe und jährlich für 5 Jahre nach Abschluss der Therapie. 4. Ggf. begleitende Kortisonpulstherapie während der ersten 3 Monate (unterstützend bis zum Greifen der Immunsuppression).
6.3. Dauer der Eskalationstherapie, Immundeeskalation Zunehmend hinterfragt wird inzwischen die Dauer einer erfolgreichen Immuneskalation und die nachfolgende Therapie (Deeskalation). Eine Rationale hierfür wäre die erneute Suszeptibiliät eines «supprimierten» Immunsystems für eine mildere immunmodulatorische Therapie, sprich INF-β oder alternativ GA (Ramtahal et al., 2006). Bis anhin liegen hierzu keine evidenzbasierten Daten vor. Letztere Strategie wird gegenwärtig in verschiedenen Studien geprüft (z.B. REMAIN-Studie) und findet bereits in der täglichen Praxis Anwendung. Bei erfolgreicher Immuneskalation kommen folgende Möglichkeiten in Betracht: ■ Die Dauer der Mitoxantrontherapie
kann durch Reduktion der jeweiligen Dosis von 12 auf 5 mg/m2 gestreckt werden
■ Mitoxantron wird ohne Folgetherapie beendet
■ Mitoxantron wird beendet (auch vor der zugelassenen Höchstdosis) und eine immunmodulatorische Therapie (re-)initiiert (Deeskalation) (↔).
Zusammen mit dem Wissen um die (kumulative und nicht kumulative) Toxizität des Alkylans sind die wenigen vorliegenden Daten mit dem letzteren Konzept vereinbar (Ramtahal et al., 2006). Zeigt sich ein Patient (insbesondere bei vormals progredient-schubförmiger oder schubförmiger Verlaufsform) nach einem Jahr MIX-Therapie (damit bei einer Dosis von ca. 60 mg/m2 KOF) eindeutig stabilisiert (auch durch MRT belegt), so ist aus unserer Sicht die frühe Deeskalation auf einen Immunmodulator durchaus zu vertreten (↔). Engmaschige Verlaufskontrollen zur Dokumentation einer wei-
teren Stabilisierung unter Deeskalation sind notwendig.
Nebenwirkungen und Kontraindikationen Die Behandlung sollte immer in Kooperation mit einem MS-Zentrum unter engmaschiger Kontrolle des Blutbilds sowie der Leber- und Nierenfunktionswerte erfolgen. Wegen möglicher kardiotoxischer Nebenwirkungen sollte vor Beginn und vor jeder Mitoxantrongabe eine echokardiografische Untersuchung mit Bestimmung der linksventrikulären Auswurffraktion (LVEF) durchgeführt werden. Eine Reduktion um 10 Prozent im Vergleich zum Vorbefund beziehungsweise absolut < 50 Prozent ist ein Abbruchkriterium (Tabelle 4). Die häufigsten Nebenwirkungen sind gastrointestinaler Art, an erster Stelle stehen Übelkeit und Erbrechen (bis zu 70% der Patienten). Selten tritt eine reversible Alopezie auf, bei
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Frauen häufiger eine sekundäre Amenorrhö (meist reversibel). Schwerwiegender sind die erwähnten kardiotoxischen Nebenwirkungen wie Herzinsuffizienz, seltener Herzinfarkt, die dosisabhängig bisher vorwiegend bei Tumorpatienten, aber auch dosisunabhängig berichtet wurden. Seltene Nebenwirkungen sind Ikterus, Krampfanfälle, Kopfschmerzen, Husten und Dyspnoe. Wegen der möglichen MIX-induzierten Kardiotoxizität sollten MS-Patienten mit Herzerkrankungen (LVEF < 50%), anhaltender oder vorausgegangener Therapie mit anderen kardiotoxischen Substanzen (z.B. Lithium, Anthrazykline) oder vorausgegangener Mediastinalbestrahlung nicht mit Mitoxantron behandelt werden. Absolute Kontraindikationen sind weiterhin Schwangerschaft und Stillzeit sowie eine Leukopenie von < 1500 Zellen/µl. Eine relative Kontraindikation ist eine eingeschränkte Leberfunktion. Sowohl bei männlichen als auch weiblichen Patienten sollte die Kontrazeption nach Absetzen von Mitoxantron noch mindestens sechs Monate fortgesetzt werden. Auf die Möglichkeit der Samenspende ist bei männlichen Patienten vor der Therapie hinzuweisen!
6.4. Cyclophosphamid (CTX, Endoxan®) Cyclophosphamid (CTX), eines der stärksten Immunsuppressiva überhaupt, ist bei besonders malignen MS-Verläufen mit häufigen Schüben und/oder rasch progredientem Voranschreiten der Erkrankung indiziert, bei denen andere immunsuppressive oder -modulierende Massnahmen wirkungslos waren (Abbildung). Evidenzen für eine Wirksamkeit von CTX nach Mitoxantron – inzwischen eine der häufigsten Indikationen für CTX – fehlen (↓↓). Im Vergleich von Mitoxantron mit CTX in paralleler Gabe zeigte eine kleine offene Therapiestudie ähnliche Wirksamkeit (Perini et al., 2006) (↔). Das Toxizitätsprofil von CTX ist jedoch schlechter als das von Mitoxantron. CTX wird nach folgendem Schema eingesetzt: Begonnen wird mit einer Induktionstherapie von 350 mg/m2 KOF (in 250 ml 0,9%-iger NaCl-Lösung als Kurzinfusion über 30 min.) an drei aufeinanderfolgenden Tagen (wird besser vertragen als eine initiale Gabe der vollen
nachfolgenden Dosen), danach folgen Auffrischinfusionen mit 600 mg/m2 KOF in Abständen von vier (bis 6) Wochen. Man steigert dann die monatliche Dosis um jeweils 100 mg/m2 KOF, bis ein Leukozyten-Nadir von 2000/µl erreicht wird, wobei eine Maximaldosis von 1000 mg/m2 KOF nicht überschritten wird. Nach sechs bis neun Monaten können die Abstände auf zwei bis drei Monate erweitert werden: Im Anschluss an die ersten monatlichen Infusionen werden sechs Infusionen (mit der ermittelten Höchstdosis) im Abstand von zwei Monaten gegeben (= 12 weitere Monate) und dann drei Infusionen im Abstand von drei Monaten verabreicht (= 9 weitere Monate), bevor die Behandlung abgesetzt wird. Dieses Schema wird insgesamt deutlich besser vertragen als das Originalprotokoll mit Induktionsphase nach (Weiner et al., 1993b). 100 g CTX stellen eine Obergrenze für die kumulative Gesamtdosis dar. Die Infusionen erfolgen morgens, da Übelkeit und Erbrechen beziehungsweise Brechreiz bei nachmittäglichen Gaben häufiger auftreten. Begleitend werden folgende Massnahmen durchgeführt: ■ Übelkeit/Erbrechen: 15 bis 30 Minuten
vor der CTX-Infusion Antiemetika, zum Beispiel Tropisetron (Navoban®) 5 mg intravenös oder oral. Sollte die antiemetische Wirkung nicht ausreichen, so wird eine zweite Gabe vier Stunden nach Infusion ergänzt. ■ Blasentoxizität: Zur Minderung/Vermeidung der Blasentoxizität wird neben ausreichender Flüssigkeitszufuhr von mindestens drei Litern/Tag intravenös jeweils eine Ampulle Mesna (Urometixan®, 200 mg) zu den Stunden 1, 4, 8 und 12 nach Infusion verabreicht. Eventuell vorübergehende Anlage eines Blasenkatheters. ■ Gastrointestinale Unverträglichkeit: Methylprednisolon oder Prednison oral mit einer Dosis von 1 mg/kg KG wird am Morgen der CTX-Infusion gegeben, um die gastrointestinale Unverträglichkeit zu vermindern. Während der Behandlung sollten alle zwei bis drei Tage nach der Infusion Blutbildkontrollen erfolgen (erwarteter Nadir 1 bis 2 Wochen nach Infusion; erwarteter
Wiederanstieg 3 bis 4 Wochen nach der Infusion; Dokumentation im Chemotherapiepass), zusätzlich regelmässige Harnsedimentkontrollen (Erythrozyten).
Nebenwirkungen und Kontraindikationen Diese sind denen des Azathioprins ähnlich, jedoch deutlich ausgeprägter. Bei unzureichender Flüssigkeitszufuhr sind besonders die ableitenden Harnwege betroffen (hämorrhagische Zystitis, Inzidenz 2–40%). Da Patienten, die älter als 50 Jahre sind, deutlich mehr Nebenwirkungen während der CTX-Behandlung aufweisen, wird die Substanz jenseits dieses Alters nur ausnahmsweise gegeben. Kontraindikationen sind Schwangerschaft, Stillzeit, akute Infektionen und vorbestehende Myelosuppression.
6.5. Andere Therapiemassnahmen Methotrexat (MTX): Aufgrund der Studienlage kann keine allgemeine Empfehlung für den Einsatz von MTX bei MS gegeben werden, insbesondere aufgrund der marginalen Therapieeffekte mit Dosierungen, wie sie in der Rheumatherapie eingesetzt werden. In Einzelfällen kann bei Versagen anderer Therapiemassnahmen ein Behandlungsversuch bei Patienten zur Stabilisierung der Koordination angebracht sein (↔). MTX wird dann oral mit 7,5 mg/Woche verabreicht. Cyclosporin A (CSA, Sandimmun®): Cyclosporin A zeigte in Studien einen der Azathioprinbehandlung vergleichbaren Effekt, allerdings auf Kosten hoher Nebenwirkungen, sodass darin die Limitation dieser Behandlungsform besteht. CSA (übliche Tagesdosis oral 5 mg/kg KG) kommt nur bei Patienten infrage, bei denen Interferone und GA nicht verfügbar sind oder sich verbieten, zudem auch Azathioprin nicht gewirkt hat. Wegen der beträchtlichen Nebenwirkungen (v.a. Nierentoxizität, Entwicklung einer arteriellen Hypertonie, Hypertrichose, Gingivahyperplasie) sollten insbesondere junge MS-Patienten CSA nicht erhalten. Auch Kombinationsbehandlungen mit Azathioprin zeigten in kleinen unkontrollierten Studien keinen überzeugenden Effekt, sodass insgesamt CSA bei MS in unseren Zentren keine praktische Bedeutung hat.
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7. Behandlung der primär chronisch-progredienten MS
Bis heute steht für die Behandlung der primär chronisch-progredienten Verlaufsform keine in Studien nachgewiesene effiziente Behandlung zur Verfügung (Leary und Thompson, 2005). Ist die Diagnose einer PP-MS sicher zu stellen (Thompson et al., 2000), so halten wir bei schubförmiger Verschlechterung (ca. 20% haben Schübe) die Durchführung einer Stosstherapie mit Kortison für angebracht, die abhängig vom (seltenen) Erfolg gegebenenfalls in wiederholten Pulsen weitergeführt werden kann (↔). Bei rascher Progredienz der Symptomatik kann auch ein individueller Heilversuch mit Mitoxantron erwogen werden (↔). ◆
Das umfangreiche Literaturverzeichnis kann beim Verlag angefordert werden, auch per E-Mail: info@rosenfluh.ch
Acknowledgements: Dieser Artikel ist modifiziert und adaptiert nach: Wiendl H, Kieseier BC. Multiple Sklerose. In: Reihe «Klinische Neurologie» (Herausgegeben von Brandt T, Hohlfeld R, Noth J, Reichmann H), KohlhammerVerlag, 2009. Im Druck.
Für die Autoren: Prof. Dr. med. Heinz Wiendl Neurologische Klinik und Klinische Forschungsgruppe Neuroimmunologie Julius-Maximilians-Universität
Würzburg Josef-Schneider-Strasse 11,
D-97080 Würzburg
Die Forschungsarbeiten des Autors werden unterstützt von DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft), BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung), DMSG (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft) und IZKF (Interdisziplinäres Zentrum für Klinische Forschung) Würzburg.
Wir danken Frau Anke Bauer für das Editieren und Redigieren des Manuskripts.
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