Transkript
Interview
«Neue Erkenntnisse und Therapieoptionen stimmen optimistisch»
Interview mit Dr. med. Christian Meyer zum Umgang mit MS-Patienten in der neurologischen Praxis
Die eigentliche Ursache der multiplen Sklerose ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Wachsende Erkenntnisse der Pathogenese und daraus resultierende neue Konzepte in den Bereichen Diagnostik und Therapie stellen den niedergelassenen Arzt vor immer neue Herausforderungen. Wir sprachen mit dem Neurologieexperten Dr. Christian Meyer, Baden, über wichtige Fragen und Probleme im Umgang mit MS-Patienten in der täglichen Praxis.
Schwierigkeit für den niedergelassenen Arzt ergibt sich allenfalls dann, wenn die Neurologen keine klare Aussagen machen und sich auch nicht bestimmt zum weiteren Vorgehen äussern. In einem solchen Fall soll der Hausarzt den Patienten alle drei Monate einbestellen, um so den Verlauf rein klinisch zur Kenntnis nehmen zu können. Ergeben sich neue Aspekte, erfolgt die Kontaktaufnahme mit dem Neurologen, welcher neu beurteilen muss. Auf diese Weise fühlt sich der Patient nicht hängen gelassen. Bei der nicht immer so einfachen Diagnosestellung der MS sind nicht nur die international festgelegten Kriterien nach McDonald von Bedeutung, sondern auch die Erfahrung des Untersuchers.
MS führt fast zwangsläufig zu mas-
Der Krankheitsverlauf der MS ist behandelt wird. Es gibt dafür keine siven Veränderungen im Leben der
bekanntlich sehr variabel. Dennoch messbaren Verlaufsparameter. Da neu oft noch jungen Patienten. Was kann
fürchtet ein Grossteil der Betroffe- auf den Markt kommende Medika- und sollte der Arzt tun, um den Be-
nen nach der Erstdiagnose, schon mente eine bessere Wirksamkeit ha- troffenen bei der Krankheitsbewäl-
bald die Gehfähigkeit zu verlieren. ben als die bisherigen, hilft uns dies, tigung so weit wie möglich zu unter-
Wie sieht die Realität in der Praxis optimistisch zu sein und dies auch stützen?
aus? Können überhaupt Vorhersa- entsprechend zu kommunizieren. Es Die Frage der Akzeptanz des Leidens
gen getroffen werden?
ist auch nicht gut, wenn neben dem tritt bei MS-Patienten häufig auch spä-
Dr. med. Christian Meyer: Die Mitteilung Wort MS – wie es in den früheren ter immer wieder auf, hier braucht es
der Diagnose MS löst sowohl beim Pa- Publikationen für Patienten der Fall die Unterstützung des Hausarztes. Vor
tienten als auch bei seiner Umgebung war – der Rollstuhl erscheint. Eine allem die psychosozialen Auswirkun-
vorerst eine allgemeine Verunsiche- grosse Gruppe von MS-Patienten führt gen und Veränderungen sind schwie-
rung aus. Es geht um die Konfronta- schliesslich ein ganz normales Leben, riger zu erfassen, bei den kurzen Un-
tion mit dem Verlust der Gesundheit, hat Familie und ist berufstätig.
tersuchungen kommen sie oftmals gar
nicht allein nur der Gehfähigkeit. Es
nicht zur Sprache. Es können Krisen
treten Ängste auf, unter anderem Stichwort MS-Diagnostik: Was darf auftreten, und man muss auch beach-
auch im Hinblick auf eine im weiteren in diesem Bereich auf keinen Fall ten, dass die akuten Symptome einer
Krankheitsverlauf zu erwartende Ab- fehlen oder übersehen werden, und Krise chronisch werden können. Es
hängigkeit von anderen.
welche Differenzialdiagnosen stel- kommt beispielsweise zu depressiven
Diese Ängste haben natürlich schon len den niedergelassenen Arzt vor Erkrankungen, Angsterkrankungen,
ihre Berechtigung. Wir haben keine die grössten Probleme?
Persönlichkeitsveränderungen, Verän-
Möglichkeit, den Verlauf der Krank- Die Diagnostik gehört in die Hand des derung der Familiendynamik. Arbeits-
8 heit vorauszusagen, auch nicht, wenn Facharztes für Neurologie. Die grosse losigkeit und Invalidisierung gehören
Neurologie 1•2009
Interview
Dr. med. Christian Meyer Facharzt FMH für Neurologie
auch dazu. Die Krankheit eines Familienmitglieds kann die Familiendynamik im positiven wie auch im negativen Sinn beeinflussen. Echtheit und einfühlendes Verständnis sind die Voraussetzungen für den Aufbau einer vertrauensvollen und therapeutischen Beziehung. Auch das Prinzip der Hoffnung wirkt sich in mancherlei Hinsicht positiv auf den Krankheitsverlauf und die Neuorientierung aus. Insbesondere ist die Persönlichkeitsstruktur des Patienten vor der Erkrankung zu beachten. Im Übrigen gelten die Kriterien der Therapiebegleitung wie bei allen chronischen Krankheiten.
Fragen zur Aufklärung MS-Kranker über ihre Erkrankung werden auch unter Medizinern oft kontro-
vers diskutiert. Wie und zu welchem Zeitpunkt soll Aufklärung erfolgen, um die Betroffenen nicht möglicherweise unnötig zu beunruhigen? Dieser Punkt sollte heute nicht mehr kontrovers diskutiert werden. Da wir (vor allem mit dem MRI) gegenüber früher über bessere Abklärungsinstrumente verfügen, gehört es zur Aufklärungspflicht des Arztes, den Patienten in geeigneter Form schon initial über die Diagnose zu informieren. Seit über zehn Jahren stehen uns spezielle Medikamente zur Verfügung (auch wenn sie einen unterschiedlichen Wirkungsgrad haben), und man muss die Möglichkeiten, damit positiv auf den Krankheitsverlauf einzuwirken, mit dem Patienten thematisieren. Vor 1995 (der Einführung des ersten Beta-Interferons in der MS-Therapie) wurde die Diagnose nach dem Erstschub dem Patienten nicht immer mitgeteilt, wegen fehlender therapeutischer Konsequenzen und um ihn nicht zu belasten. Diese Auffassung ist heute nicht mehr haltbar. Für die Meinung, wenn man dem Patienten die Diagnose mitteile, hätte dies einen negativen Einfluss auf den Krankheitsverlauf, gibt es keine stichhaltigen Daten.
Exogene Faktoren wie Infektionen, Impfungen, Stress, chirurgische Eingriffe unter Narkose oder eine Schwangerschaft werden von den Betroffenen oft angeschuldigt, Auslöser eines Schubs zu sein beziehungsweise die Erkrankung zu verschlimmern. Welche Empfehlungen können Sie den Patienten diesbezüglich geben? Solches steht leider immer noch in gewissen Büchern älteren Datums oder in neueren Abhandlungen, bei denen einfach abgeschrieben wurde. Früher
wurden Impfungen kontrovers diskutiert, heute ist klar, dass sie durchgeführt werden können. Auch Eingriffe unter Narkose erfordern keine besonderen Massnahmen. Tatsache ist, dass man bis heute immer noch nicht weiss, welche Faktoren sich wirklich negativ auf den Krankheitsverlauf auswirken. Sicher nicht die Schwangerschaft; höchstens nach der Geburt kann es zu einer leichten Zunahme der Schubrate kommen. Bei frühzeitigem Wiedereinsetzen der immunmodulierenden Behandlung ist diese Gefahr jedoch sehr gering. Es gibt keine stichhaltigen Belege dafür, dass irgendein Fehlverhalten vonseiten des Patienten schubfördernd sein könnte.
Nach den USA hat sich jetzt auch in
Europa die Überzeugung durchge-
setzt, dass MS-Patienten für eine
halbwegs «normale» Lebensgestal-
tung auch nichtärztliche Unterstüt-
zung und Anregung benötigen. Wie
sieht die Situation einer spezifi-
schen Betreuung (MS-Nursing) der-
zeit in der Schweiz aus, und was
liegt hier alles noch im Argen?
In der Schweiz ist diese Meinung
heute ebenfalls vorhanden. Entspre-
chend unserem liberalen Gesundheits-
system gibt es allerdings leider noch
keine übergreifende Zusammenarbeit
der verschiedenen Institutionen, wel-
che auf diesem Gebiet tätig sind. Zu-
nehmend wird auch die Finanzierung
zum Problem. Die Erfahrung im Pra-
xisalltag hat in den letzten zehn Jah-
ren – vor allem bei Patienten, die un-
ter Therapie stehen – klar gezeigt, wie
wichtig neben der ärztlichen Betreu-
ung auch das MS-Nursing ist.
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Das Interview führte Norbert Mittermaier.
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