Transkript
Kongressbericht
Multiple Sklerose
Von der Pathophysiologie zur immunmodulierenden Therapie
Renate Bonifer
Bereits vor mehr als 160 Jahren entdeckten Pathologen die MS-typischen Läsionen in Hirn und Rückenmark. Der «Vater der Neurologie», Professor JeanMartin Charcot, beschrieb 1868 die «Sclérose en plaques» als Krankheitsentität mit ihren Schlüsselsymptomen. Am Kongress in Montreux gab Professor Alastair Compston von der Universität Cambridge einen Überblick zur Pathophysiologie der MS und zu den daraus folgenden therapeutischen Optionen.
«Multiple Sklerose ist eine primär inflammatorische Erkrankung mit neurodenegerativen Folgen», resümierte Alastair Compston eine seit rund 100 Jahren andauernde Diskussion über die Pathomechanismen der MS. Bereits 1863 – noch vor der Definition der MS durch Charcot – postulierte der deutsche Pathologe Georg Eduard von Rindfleisch, zu dieser Zeit in Zürich tätig, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Entzündungsvorgängen und der Erkrankung. Rund 50 Jahre später beschrieb James Dawson an der Universität Edinburgh anhand mikroskopischer Präparate detailliert, dass sich die Degeneration der Nervenzellen auf der Grundlage einer Entzündungsreaktion abspielt. Trotzdem blieb die Frage, ob die Entzündung Ursache oder Folge der neuronalen Degeneration sei, Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Erst 1972 war man sich mehr oder
weniger einig, dass die MS auf autoimmunen Entzündungsprozessen beruht. Damals wurde ein Zusammenhang zwischen bestimmten genetischen HLA-Varianten (Histokompatibilitätskomplex) und dem MS-Risiko nachgewiesen. Dank neuer genetischer Analysemethoden wurden kürzlich weitere immonologisch/inflammatorisch relevante Gene entdeckt, die ebenfalls mit MS korreliert sind, darunter diejenigen der Rezeptoren für Interleukin 2 (IL2) und Interleukin 7 (IL7).
Wie Inflammation die Neurone schädigt
Der Neuroimmunologe Kenneth J. Smith von der Guy’s, King’s and St Thomas’ School of Medicine in London publizierte 2001 eine Antwort auf diese Frage: Entzündungsmediatoren wie NO (Stickstoffmonoxid) verursachen einerseits eine reversible Block-
ade der elektrischen Axonleitfähigkeit. Ein zweites Phänomen ist die anterograde Axondegeneration, die Smith und sein Team in vitro nachweisen konnten, wenn normale Nervenimpulse in Anwesenheit von NO durch die Axone laufen. Man könne es sich so vorstellen, dass die akute Schädigung zu einer erhöhten Vulnerabilität des Axons gegenüber zytotoxischen Faktoren führt, erläuterte Compston. Auch sei der später eintretende Axonverlust vom Ausmass der ursprünglichen Entzündungsreaktion abhängig, denn ein demyeliniertes Axon hat mangels Versorgung mit neurotrophen Gliafaktoren nur noch eine begrenzte Überlebensdauer. Compston und sein Team zeigten in Zellkulturexperimenten, dass das Überleben der Neurone von IGF-1 (insulin-like growth factor) und das Axonwachstum von GDNF (glial cell derived nerve growth factor) abhängig ist. NO beeinträchtigt sowohl Neuronenüberleben als auch Axonwachstum, während die beiden genannten Faktoren vor der schädlichen NO-Wirkung schützen: «Der biologische Status des Nervensystems ist ausschlaggebend dafür, ob es mit einem inflammatorischen Insult fertig wird oder nicht», sagte Compston. Es erstaune darum nicht, dass eine möglichst früh einsetzende Therapie höhere Erfolgschancen einer Schadensbegrenzung verspricht und das Voranschreiten der MS verhindern oder zumindest verzögern könnte.
Krankheit oder Syndrom?
Man war sich zwar irgendwann über die immunologisch-entzündliche Natur der MS-Ursache einig, doch eine
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Kongressbericht
Multiple Sklerose: Meilensteine der Forschung und Therapie
1838/1842
1849
1863 1868
1906 1916 1935 1942 1972 1981 1983 1986 1993
1996 2001 2006
Robert Carswell und Jean Cruveilhier beschreiben unabhängig voneinander MS-typische makroskopische Läsionen in Gehirn und Rückenmark. Friedrich Theodor von Frerichs dokumentiert die Verbesserung des Zustands von Patienten zwischen den Schüben, mentale Veränderungen sowie den Nystagmus als typisches Symptom der Erkrankung. Georg Eduard von Rindfleisch erkennt die chronische Gefässentzündung in MS-Plaques. Jean-Martin Charcot gibt der Erkrankung den Namen «Sclérose en plaques» und formuliert die diagnostische «CharcotTrias»: Diplopie, Ataxie und Dysarthrie. Otto Marburg beschreibt die retrograde Degeneration von Nervenfasern bei MS. James Dawson schildert inflammatorische Reaktionen an den Hirngefässen bei disseminierter MS. Thomas Rivers stellt die experimentelle allergische Enzephalomyelitis (EAE) bei Mäusen als «Tiermodell» der MS vor. Elvin A. Kabat beschreibt typische Gammaglobuline (oligoklonale Banden) im Liquor von MS-Patienten. Casper Jersild, Arne Sveigaard und T. Fog publizieren die Zusammenhänge zwischen HLA-Typ und MS-Risiko. Ian R. Young publiziert CT- und MRI-Aufnahmen mit den typischen Läsionen im Gehirn von MS-Patienten. Die Poser-Kriterien zur MS-Diagnose werden etabliert. Robert Grossman (Philadelphia) entdeckt die Spezifität des Kontrastmittels Gadolinium im MRI von MS-Läsionen. Interferon-beta-1b (Betaferon®) wird für die Behandlung von MS-Patienten zugelassen, es folgen die Zulassungen der Beta-1a-Interferone Avonex® (1996) und Rebif® (2002). Zulassung von Glatirameracetat (Copaxone®) McDonalds-Kriterien zur frühzeitigen MS-Diagnose (Wieder-)Zulassung von Natalizumab (Tysabri®) in den USA und der EU
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neue Debatte nahm ihren Anfang: Ist MS eine «Krankheit» mit im Wesentlichen identischer Pathogenese oder ist sie ein «Syndrom» aufgrund unterschiedlicher pathophysiologischer Vorgänge, die am Ende alle zur gleichen Symptomatik führen? Keine rein akademische Frage, denn unterschiedliche Pathophysiologien müssten therapeutisch unterschiedlich angegangen werden. Typisch für die schubförmige MS sind fokale Lymphozyteninfiltrationen mit einzelnen, abgrenzbaren Läsionen, während eine weit verteilte, diffuse Aktivierung der Mikroglia mit Axondegeneration typisch für die progrediente MS ist. Vier Mechanismen liegen Inflammation und Axondegeneration zugrunde: ein T-Lymphozyten/Monozyten-vermittelter Vorgang, eine durch Antikörper und Komplement mediierte Form (besonders bei Neuromyelitis optica), ein hypoxisch/ischämischer Mechanismus und
eine primäre Degeneration der Glia (Oligodendrozyten). Für Compston ist die Sache trotzdem klar, auch wenn es bis zur definitiven Klärung der Frage noch einiges zu tun gebe: «MS ist eine komplexe Krankheit, aber kein Syndrom.» Die optiko-spinale Form der MS (Neuromyelitis optica) ist seiner Auffassung nach die ursprüngliche demyelinisierende Erkrankung, aus der sich auf der Basis genetischer Variation die heutzutage als schubförmige MS bezeichnete, «westliche» Form entwickelt habe. Compston stützt sich in seiner Argumentation auf epidemiologische Erkenntnisse. Neuromyelitis optica ist als demyelinisierende Krankheit bei der ursprünglichen Bevölkerung in Afrika und Asien viel häufiger als die schubförmige MS anzutreffen, während sich dies in Europa und bei der weissen Bevölkerung Nordamerikas gerade umgekehrt verhält. Ein
weiteres Phänomen ist die Verschiebung der Häufigkeit vom optikospinalen Typ zur schubförmigen MS bei der japanischen Bevölkerung, die mit der Verwestlichung des Lebensstils einherging. Der MS-Phänotyp in einer Bevölkerung kann sich also relativ rasch ändern. Dies spreche dafür, dass es zum einen sehr unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselben Krankheit gebe und andererseits der Phänotyp von genetischen wie Umweltfaktoren abhänge, erläuterte Compston. Wichtige Umweltfaktoren in diesem Sinne scheinen virale Infektionen in bestimmten Lebensaltern zu sein. So wurde 2002 eine Korrelation zwischen MS-Risiko und Epstein-Barr-VirusInfektionen in der Kindheit postuliert. Die sogenannte Infektionshypothese für die Pathophysiologie der MS ist übrigens keine neue Idee, denn sie wurde bereits 1884 von Pierre Marie,
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einem Schüler Charcots, zum ersten Mal formuliert.
Immunmodulierende Therapie
In den Neunzigerjahren wurden die ersten Beta-Interferone (Betaferon®, Avonex®, Rebif® [2002]) sowie Glatirameracetat (Copaxone®) für die Behandlung von MS-Patienten zugelassen. Die immunmodulierenden Eigenschaften der Beta-Interferone und des Glatirameracetats zielen auf die Monozyten/T-Lymphozyten-Interaktion sowie die Suppression einer potenziell gliaschädigenden Zytokinausschüttung. Einen anderen Ansatz verfolgt man mit dem monoklonalen Antikörper Natalizumab (Tysabri®), der an ein Adhäsionsmolekül aktivierter T-Lymphozyten bindet und damit die Passage aktivierter T-Lymphozyten durch die Blut-Hirn-Schranke unterbinden soll. Ein dritter Ansatz besteht in der T-Lymphozyten-Depletion mithilfe des monoklonalen Antikörpers Alemtuzumab (MabCampath®), der für die Indikation MS noch nicht zugelassen ist. Die beiden Antikörper sind gleichzeitig Beispiele dafür, dass Eingriffe in
die äusserst komplexen Regulationswege des Immunsystems mithilfe immunmodulierender Substanzen zwar erstaunliche Therapieerfolge, aber auch beträchtliche Gefahren mit sich bringen können. So wurde Natalizumab im Februar 2005 in den USA kurz nach der Zulassung wieder vom Markt genommen, weil es unter der Therapie zu 3 Fällen einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) gekommen war. 2006 wurde erneut eine Zulassung mit entsprechenden Kontrollauflagen erteilt. Man geht derzeit davon aus, dass das Risiko für das Auftreten einer PML bei einer Therapie mit Natalizumab unter 1:1000 liegt. In einer Alemtuzumabstudie gab es 6 Fälle (2,8%) von idiopathischer thrombozytischer Purpura (ITP), 1 der Patienten starb. Bei ITP kommt es zu einer Abnahme der Thrombozytenzahl, die eine abnorme Blutungsneigung nach sich ziehen kann. Alastair Compston ist optimistisch, was die Zukunft der immunmodulatorischen MS-Therapie angeht. Er erinnerte die Kongressteilnehmer daran, dass man vor gar nicht allzu langer
Zeit, nämlich noch Mitte der Neunzi-
gerjahre, nur Patienten mit bereits
weit fortgeschrittener MS immunmo-
dulatorisch behandelte: «Jetzt wissen
wir aber, dass das ein Fehler war, und
wir behandeln Patienten mutiger und
in einem viel früheren Stadium – mit
extrem guten Resultaten!» Der nächste
Schritt werden neue Erkenntnisse zur
Früherkennung der MS sein, sodass
man immer früher und somit wir-
kungsvoller in das Krankheitsgesche-
hen werde eingreifen können, davon
ist der MS-Spezialist aus Cambridge
überzeugt.
◆
Renate Bonifer
Quellen: The story of multiple sclerosis. Vortrag von Professor Alastair Compston am SNG-Kongress in Montreux, 23. April 2008. Schött D.: Interferone, Glatirameracetat und Natalizumab – was für wen? TMJ Schweiz Zeitsch Innere Med 2007; 2: 7–9. Fact Sheet der Bayer HealthCare zur CAMMS223-Studie, Juni 2007.
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