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Kongressbericht
Integrierte psychiatrische Versorgung in der Schweiz
Aktueller Bettenüberhang und Lösungsmodelle
Bärbel Hirrle
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In der Psychiatrie sind die integrierte Patientenversorgung und die Einführung einer leistungsorientierten Finanzierung Kernpunkte einer neuen Entwicklung, die hochkomplex ist und auf verschiedenen Ebenen auch kontrovers diskutiert wird. Die heutige Situation in der Schweiz, Hintergründe und Lösungsansätze wurden unter leitenden Psychiatern, Gesundheitsökonomen und einem Kantonspolitiker auf dem Mental Health Forum in Bern diskutiert.
Warum brauchen wir neue Lösungen in der Psychiatrie?
E pidemiologische Studien über psychische Erkrankungen zeigen, dass die Prävalenz dieser Erkrankungen weiterhin zunimmt. Die meisten Hospitalisierungen entstehen heute bei schwerer Depression, danach folgen Angststörungen, Drogenabusus, stressbedingte neurotische Störungen sowie Persönlichkeitsstörungen. Professor Dr. Pierre Baumann wies auf Daten des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums hin, nach denen die längste Hospitalisationsdauer in der Schweiz für die Schizophrenie besteht, vor der schweren Depression (www.obsan. admin.ch, doc.24; 2007). Seit zehn Jahren habe ferner die Zahl der IV-Bezüger in der Schweiz aufgrund einer mentalen Erkrankung zugenommen, ergänzte Baumann. Schweizerische wie auch internationale Daten der Studie Global burden of disease für die Jahre 1990 bis 2020 weisen darauf hin, dass die Bürde der zunehmenden psychischen Erkrankungen veränderte Massnahmen erfordert. Gemäss Baumann werden Prävention und Früherkennung psychischer Störungen sowie der Zugang zu verbesserten Versorgungssystemen der Betroffenen eine Notwendigkeit in unseren modernen Gesundheitssystemen.
Der Bettenüberhang in der Schweizer Psychiatrie
Professor Dr. Werner Strik, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie in Bern, beschrieb Entwicklungen der stationären psychiatrischen Versorgung in der Schweiz und im europäischen Vergleich. Seit Mitte der Siebzigerjahre fand in fast allen euro-
päischen Ländern eine unterschiedlich ausgeprägte De-Institutionalisierung in der Psychiatrie statt, bei welcher zunehmend wohnortnahe Betreuungsangebote (Tageskliniken, Wohnheime, sozialpsychiatrische Zentren, Psychiatriepraxen) begünstigt wurden. Der Bettenabbau in psychiatrischen Kliniken fand fast ausschliesslich im Bereich der Langzeitpsychiatrie durch Entlassungen der Patienten statt. In der Folge kam es allerdings häufig zu Fehlplatzierungen der psychiatrischen Patienten, vor allem in somatischen, psychosomatischen und privaten Kliniken. Laut Strik müssen konsequent adäquate Umplatzierungen stattfinden: Gemäss neueren Studiendaten sind 20 bis 30 Prozent der gegenwärtig stationär behandelten Patienten in Tageskliniken behandelbar, sogar von den Akutpatienten können 21 bis 39 Prozent in Tageskliniken versorgt werden. Die Schweiz liegt im europäischen Vergleich weit vorn bezüglich der Zahl der psychiatrischen Betten. Gemäss «Mental Health Atlas» der WHO 2005 gibt es in der Schweiz 1,32 psychiatrische Betten auf 1000 Einwohner, in Deutschland 0,75 Betten auf 1000 Einwohner, in Italien liegt die Zahl bei 0,46/1000. Dabei befinden sich in der Schweiz alle psychiatrischen Betten in Psychiatriekliniken, in den anderen Ländern wird ein grosser Teil der Patienten in anderen Einrichtungen versorgt. Wie kommt es zu diesen überhöhten Bettenkennzahlen? Strik erklärte folgende Fakten: ◆ Die Liegedauern in den kantonalen
psychiatrischen Spitälern in der Schweiz sind im Akutbereich nicht länger als in anderen europäischen Ländern.
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◆ In einigen kantonalen Kliniken bestehen noch grosse Langzeitbereiche (v.a. Alterspsychiatrie, geistige Behinderung, Suchtbehandlung).
◆ Durch die institutionalisierte Angliederung an staatliche Kliniken werden vorhandene sozialpsychiatrische Einrichtungen wie betreutes Wohnen als «Psychiatriebetten» mitgezählt. Somit werden die Schweizer Zahlen verfälscht.
◆ Die Überkapazitäten in den Psychiatriekliniken werden heute zu einem hohen Anteil von Patientengruppen belegt, für die spezialisierte Einrichtungen geeigneter und kosteneffizienter wären.
Ursachen und Auswege Die zu überwindenden Hürden dieser Situation finden sich nach Strik vor allem im dualen Finanzierungsmodell der Schweiz, welches falsche Anreize setzt. Das aktuelle Tarifsystem benachteiligt ambulante und teilstationäre Angebote: 50 Prozent der psychiatrischen Spitalkosten werden von den Krankenkassen übernommen, der Rest wird vom Kanton gedeckt. Ambulante Behandlungen in den Arztpraxen haben die Kassen gesamthaft zu übernehmen. Strik sieht Lösungen für eine verbesserte Versorgung der psychiatrischen Patienten durch ◆ die kantonale finanzielle Förderung
ambulanter, teilstationärer und aufsuchender Behandlungen ◆ die Förderung spezialisierter Einrichtungen mit Aufnahmepflicht für Demenz, Sucht, geistige Behinderung, Forensik ◆ die Verbesserung der psychiatrischen Betreuung im Vollzug ◆ die konsequente Umsetzung der regionalisierten Versorgung.
Die Integrierte Psychiatrie Winterthur
Als realisiertes, modernes Psychiatrieprojekt in der Schweiz stellte Dr. med. Andreas Andreae die Integrierte Psychiatrie Winterthur (IPW) vor. Der Ärztliche Direktor der IPW hatte das Modellprojekt mit Kollegen und verschiedenen Institutionen als
strukturelle Neuordnung der psychiatrischen Versorgung der Region Winterthur entworfen und vor zehn Jahren als Pilotprojekt gestartet. Zielsetzung ist, alle Bereiche der psychiatrischen Versorgung miteinander zu vernetzen und zu optimieren. Insbesondere bei in der stationären Behandlung sehr teuren Erkrankungen soll durch spezialisierte Angebote kostengünstiger und effektiver therapiert werden. Das Versorgungskonzept der Psychiatrieregion Winterthur» wird von vier Ebenen aus gesteuert: 1. Ebene: Fallkoordination (Case Management) 2. Ebene: Klinische Koordination (Triage und Interventionsmanagement) 3. Ebene: Angebotskoordination (Koordinationsstelle) 4. Ebene: Netzwerkkoordination (Psychiatriekommission mit Geschäftsstelle).
Nach dem Grundsatz «ambulant vor stationär behandeln» erfolgen bei Aufnahme eines psychiatrischen Patienten die Triage und das Interventionsmanagement. Das Modell der IPW ist in den Jahren 1999 bis 2003 evaluiert und ausgebaut worden. Dabei hat sich laut Andreae gezeigt, dass die Projektziele richtig und wichtig sind, die Patientenorientierung und die Gemeindenähe gut realisiert sind, das institutionelle Angebot angemessen und die zentrale Koordinationsstelle wichtig ist. Im Vergleich zur alten Versorgungsstruktur wurden eine höhere Patientenzufriedenheit und eine höhere Zahl von Spitalaustritten direkt nach Hause und in gegenseitigem Einverständnis erreicht – dies bei Kostenneutralität in der Umsetzung der Neustrukturierung. Zu den künftigen Zielen gehören der Ausbau des intensiven psychiatrischen Case Management, die Entwicklung einer elektronischen Patientenakte, Leistungsstatistik und Qualitätsmessung im Netzwerk sowie die Integration in ein Projekt Gesundheitsregion Winterthur. Andreae ist bereits mit der Projektentwicklung für eine zweite integrierte Psychiatrieregion in der Schweiz beauftragt.
Integrierte Versorgung in Deutschland
Innovative Versorgungsmodelle in der Psychiatrie sind auch in Deutschland im Aufbau, um in Zeiten erhöhten Kostendrucks konkurrenzfähig zu bleiben und dabei die Effizienz und Qualität der Versorgung bei psychiatrischen Patienten auszubauen. Dr. med. Werner Kissling, Leiter des Centrums für Disease Management an der Psychiatrischen Klinik der Technischen Universität München, stellte das patientenorientierte Münchner Modell Depression und Schizophrenie vor. Dieses sieht vor, die medizinische Versorgung stärker als bis anhin auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einzelner Patientengruppen auszurichten, indem die neuen vielfältigeren Organisationsstrukturen einer integrierten Versorgung genutzt werden. Wesentlicher Eckpfeiler ist es, die Compliance von Psychosepatienten (Schizophrenie) und Depression in der Langzeittherapie zu verbessern, um so weitgehend eine Rückfallprophylaxe zu erreichen. Dazu wird mit jedem Patienten ein individuell abgestimmtes Complianceprogramm vereinbart, welches Psychoeduktation, ein Frühwarntraining, einen Krisenplan, Hausbesuche, sozialpädagogische Massnahmen, Freizeitaktivitäten sowie Bonusreize einschliesst. Der Übergang von der Klinik zur ambulanten Weiterbehandlung wird dadurch erleichtert, dass kurz vor der Klinikentlassung eine Vorstellung beim niedergelassenen Psychiater erfolgt. In diesem Rahmen wurden neuartige Patienteninformationen entwickelt, in denen laiengerecht Vor- und Nachteile von Behandlungsformen beschrieben sind. Diese Hilfen wurden in der Routineversorgung bei 133 schizophrenen Patienten in geschlossenen Akutstationen eingesetzt und auf ihre kurz- und langfristigen Effekte untersucht. Die Evaluation nach zwei Jahren ergab: Entgegen allen Erwartungen möchten Patienten mit Schizophrenie am Entscheidungsprozess über ihre Behandlung aktiv mitbeteiligt sein. Die Teilnehmer an diesem
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Programm wurden von Medizinern und Pflegepersonal als überwiegend sehr motiviert und entscheidungskompetent eingeschätzt. Schon während des Klinikaufenthalts wurde nachgewiesen, dass sich das Wissen über die Erkrankung ebenso wie die Einstellung zur Behandlung verbesserte. Wie Kissling erklärte, konnte in der zweijährigen Laufzeit dieses Modells ein Rückgang der erneuten Spitaleinweisungen und -aufenthaltsdauer um mehr als 50 Prozent erreicht werden.
Das Regionale Psychiatriebudget Bern
Ein weiteres innovatives Projekt zur psychiatrischen Versorgung einer Region ist das Regionale Psychiatriebudget (RPB), ein Entwurf von Dr. med. Ueli Corrodi. Der emeritierte Chefarzt, der 20 Jahre den psychiatrischen Dienst des Spitals Interlaken geleitet hatte, stellte den Versorgungsvorschlag für die Region östliches Berner Oberland vor: Im Sinn einer sektorisierten Versorgung sollen die öffentlichen Gelder nicht mehr gleichzeitig in verschiedene Kanäle fliessen, sondern einer einzigen vollverantwortlichen Trägerschaft (= den Spitälern Frutingen-Meiringen-Interlaken AG, «Spitäler fmi ag») zukommen. Dabei soll der bisherige klinikzentrierte Versorgungsschwerpunkt (zurzeit 80% des Gesamtbudgets) durch gemeindenahe Strukturen in den ambulanten respektive teilstationären Bereich verlagert werden. Als neues
Versorgungsprinzip wird eine «virtuelle Sektorisierung» angestrebt, bei der ein einziges Steuerungsorgan in der Region die Verantwortung für die psychiatrische Vollversorgung übernimmt und dabei unter anderem fehlende Bettenkapazität in der entsprechenden psychiatrischen Fachklinik im Rahmen des Notwendigen einkauft. Die regionale Trägerschaft baut an Ort und Stelle wohnortnahe Angebote auf, um psychiatrische Hospitalisationen zu minimieren. Das RPB führt zu einem Paradigmenwechsel, indem nicht mehr die Klinik, sondern die Region festlegt, wie viele Betten sie braucht und wie das Budget darüber hinaus wohnortnah im ambulanten und teilstationären Bereich eingesetzt wird. Laut Corrodi liessen sich damit 1,9 Millionen Franken jährlich einsparen; die Bettenkapazität würde halbiert.
Gesundheitsökonomische Betrachtung
Dr. oec. Willy Oggier, Gesundheitsökonom in Küsnacht, betonte die Notwendigkeit eines neuen finanziellen Abgeltungsmodells für die psychiatrische Versorgung. Hierzu gehören: Preisgestaltung (unter einheitlicher Tarifstruktur) statt Kostenabgeltungen, prospektive Berechnungen einschliesslich der Investitionen (nicht nur der Betriebskosten), gerechte Preisteilungen der öffentlichen Hand und der Krankenversicherer, Transparenz, KVG-Konformität und vertretbarer Verwaltungsaufwand.
Diskussion
Bei einer Neustrukturierung der psychiatrischen Versorgung einer Region bestehen viele Kontroversen zwischen den verschiedenen Interessenvertretern. Auf dem Mental Health Forum führte dies zu heissen Diskussionen. Hierbei standen ärztliche Aspekte der behandelnden Psychiater den gesundheitsökonomischen und (kantons-)politischen Aspekten gegenüber. Während die eine Seite an primär das Patientenwohl im Auge hat und die psychiatrische Versorgung gegenüber der somatischen Medizin ökonomisch deutlich schlechter gestellt und gesellschaftlich stigmatisiert sieht, denkt die andere Seite über Fallpauschalen in der Vergütung und die hohe wie auch steigende Psychiaterdichte im ambulanten und spitalinternen Bereich nach. Wesentlich sei es, Anreize für alle interessierten Gruppen zu schaffen, die Zusammenarbeit mit somatischen Klinken und die Steuerungsorgane neu zu bestimmen sowie Ärztenetzwerke entstehen zu lassen, in welche die zuweisenden Grundversorger gebührend einbezogen werden, so die Argumentation. ◆
Bärbel Hirrle
Mental Health Forum: «Psychiatrische Versorgung in der Schweiz – heute und in der Zukunft. Integrierte Versorgung – Chance für die Psychiatrie». Bern, 23. Oktober 2008. Organisiert von Lundbeck AG Schweiz.
Die Berichterstattung wurde von der Lundbeck AG Schweiz finanziell unterstützt.
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