Transkript
Fortbildung
Patienten mit schweren Adoleszentenkrisen brauchen Hoffnung und Mut
Eine Fallvignette aus der Modellstation Somosa
Christian Schaub
Der Autor präsentiert hier eine Fall-
vignette, zusammengesetzt aus vielen
«vergleichbaren» Geschichten – es ist
nicht die Geschichte eines, sondern die
Geschichte von mehreren Klienten un-
serer Institution. Das Ziel dieser Fall-
vignette ist es, auf die Notwendigkeit
von Hartnäckigkeit, Optimismus und
unkonventionellem Denken hinzuwei-
sen, wenn es darum geht, die drohende
Chronifizierung psychotischer Erkran-
kungen abzuwenden.
Wichtig: Andere Aspekte, welche bedeutsam bei vielen anderen Behandlungen in der Modellstation Somosa sind, etwa der Umgang mit schweren Verhaltensstörungen und Traumatisierungen, werden in dieser Vignette nicht explizit thematisiert.
Die «kombinierte» Geschichte
Ein Jugendlicher mit einer psychotiformen Ersterkrankung wird in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung mit viel Engagement über längere Zeit behandelt. Der Patient und die Eltern werden maximal mit einbezogen und über alle Behandlungsschritte aufgeklärt. Trotzdem sind nach einer gewissen Zeit die Gefühle von Hilflosigkeit und Resignation vorherrschend, da trotz «eigentlich» vorhandener intellektuell-emotiver Ressourcen und trotz vielfältigen medikamentösen Behandlungsversuchen die kognitiven Fähigkeiten des Patienten abnehmen und die produktiven Symptome beinahe unverändert persistieren. Der Jugendliche wird in die Modellstation Somosa angemeldet. Der gut 17-jährige Jüngling kommt zwar auf
Drängen der Eltern in die Behandlung, schwört aber, nie mehr im Leben Medikamente einzunehmen: Diese machen ihn nicht arbeitsfähiger, so seine Ansicht, sie nehmen ihm interessante, von den Behandlern als «psychotisch» diffamierte Gedanken weg, und sie führen zu Bettnässen und sexueller Funktionsstörung. Bei den nun folgenden Ausführungen wird – gemäss der Sozialiation des Verfassers – weniger aus den pädagogischen und arbeitsagogischen Lernfeldern berichtet; die Ausführungen fokussieren auf die medizinisch-psychiatrischen Aspekte. Der Patient tritt in die Institution ein und lehnt die Einnahme jeglicher Medikation ab. Die Institution versucht daraufhin folgende Vorgehensweisen: Mit einer pädagogisch durchgesetzten strikten Cannabisabstinenz wird «schadensmindernd» begonnen. Gedankenstrukturierend wirken soll einerseits die klare Tagesstruktur (handwerklich), andererseits das gedankenstrukturierende kognitive Training am Computer. Trotzdem nützt das nur wenig. Die Denkprozesse verschlechtern sich, was sich im kognitiven Training am Computer deutlich zeigt. Eine neuroleptische Behandlung wäre nun allmählich indiziert. Der Jugendliche weigert sich immer noch. Bei dieser Ausgangslage muss die Psychiaterin Kreativität entwickeln, soll eine Chronifizierung verhindert werden. Folgende Ideen haben hier geholfen: 1. Der zuständige Arzt hat dem Jugendlichen zugesi-
chert, dass er an den Wochenenden ein medikamentenfreies Intervall haben darf.
Modellstation Somosa
In der Modellstation Somosa werden 20 Jugendliche männlichen Geschlechts mit schweren Adoleszentenkrisen stationär behandelt. Das Eintrittsalter liegt zwischen 15 und 20 Jahren. Das Behandlungsprogramm dauert 12 bis 20 Monate. Die Modellstation Somosa ist sowohl staatlich anerkanntes Jugendheim als auch staatlich anerkannte psychiatrische Klinik. Die intersystemische Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen – zum Wohl der jugendlichen Klienten – ist ein Kernanliegen der Institution. Die Modellstation Somosa beschäftigt Fachleute aus den Bereichen Sozialpädagogik, Psychotherapie, Psychiatrie, Arbeitsagogik.
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2. Der zuständige Arzt hat zur Erhöhung der Akzeptanz ein Präparat gewählt (hier: Risperidon), welches der Jugendliche noch nicht hatte, das letzte noch nicht angewandte der hierzulande gebräulichen Neuroleptika (wie schon gesagt: die Vignette ist kompiliert aus verschiedenen Fallvignetten, die Wahl von Risperidon ist eher zufällig).
3. Der zuständige Arzt hat die erste Risperidontablette mit dem Patienten geteilt, das heisst, er hat selbst die Hälfte der Tablette eingenommen und so seine Solidarität mit dem Jugendlichen gezeigt, andererseits das Ganze aber auch als kleine «Mutprobe» gestaltet.
Die Wirkung dieser drei Punkte war erstaunlich: Der Jugendliche ist auf dieses Behandlungsangebot dann doch eingestiegen, die Intervallmedikation mit Risperidon war stets gut verträglich, und auch die medikamentenfreien Intervalle über das Wochenende führten nicht zu Rückfällen oder sonstigen Problemen. Die kognitiven Fähigkeiten verbesserten sich deutlich. Der Jugendliche konnte einige Ziele im beruflichen und persönlichen Bereich erreichen; gerade betreffend handwerkliche Fähigkeiten zeigte er sich als sehr leistungsfähig. Ebenso wurde die in der Institution begonnene Cannabisabstinenz zur Gewohnheit, was dem Patienten auf seinem späteren Weg geholfen hat.
Kommentar
Einige dieser besprochenen Punkte wirken auf den ersten Blick vielleicht nicht ungewöhnlich, so der Nutzen einer konstant aufrechterhaltenen Hoffnung, wie sie etwa auch von der aktuell starken Recovery-Bewegung propagiert wird. Ebenfalls bekannt ist ja, dass eine konsequent durchgesetzte Cannabisabstinenz einige schwierige Verläufe bei beginnenden Psychosen zum Guten wenden kann. Einem breiteren Publikum wohl eher nicht bekannt ist die von uns (sehr häufig!) getätigte Beobachtung, dass medikamentenfreie Intervalle über das Wochenende meist kein Problem für eine Behandlung darstellen, und dass deren Gewähren von den jugendlichen Patienten als ungeheures Entgegenkommen gewertet wird. In diesem Bereich lohnt sich vielleicht auch ein vermehrter Wissensaustausch zwischen Institutionen und Fachkräften. Die Fallvignette zeigt vor allem, dass in festgefahrenen Situationen Humor (wie die «Mutprobe» des zuständigen Arztes) sowie der Mut zum Unkonventionellen sehr hilfreich sein können – es gibt ja «offiziell» keine empfohlene Intervalltherapie mit Neuroleptika ... Leitlinien und Empfehlungen von Lehrbüchern sind natürlich überaus wichtig, gelegentlich muss aber auch ein «kreatives Abweichen» von solchen Leitlinien möglich sein. Das Wichtigste ist aber: die Hoffnung und das Engagement lohnen sich bei jugendlichen Patienten ausserordentlich! Das Frontalhirn der Adoleszenten (neuropsychologisch betrachtet: das Frontalhirn ist u.a. der
Ort von Willensentscheiden und Gewohnheiten) ist noch sehr plastisch, ja, selbst nach einer mehr als 15-monatigen, intensiven, kompetent und engagiert «nach allen Regeln der Kunst» durchgeführten stationären jugendpsychiatrischen Therapie kann unter Umständen noch durch Änderung von Strategien oder durch eine erneute Platzierung eine entscheidende Wendung zum Guten geschehen, und «Patientenschicksale» werden zu schönen Geschichten jugendlicher Entwicklungen.
Zusammenfassend: In wenigen Tätigkeitsfeldern der Medizin und der psychosozialen Berufe ist die Möglichkeit, sehr schöne Entwicklungen von Menschen mitzuerleben, so ausgeprägt wie in der psychosozialen Behandlung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen!
Nachtrag
Vielleicht möchte der Leser noch wissen, wie sich die
Einnahme von Risperidon oder ähnlichem (etwa Proma-
zin oder Clozapin) im Selbstversuch anfühlt. Ich würde
sagen: man wird langsamer, geordneter, vielleicht auch
etwas träge, man kann aber durchaus noch gut und kon-
zentriert arbeiten. Der bemerkenswerteste Effekt liegt in
der grösseren emotionalen Distanz zum Tagesgesche-
hen. Man regt sich weniger über die Welt auf ...
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Dr. med. Christian Schaub Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Ärztlicher Leiter der Modellstation SOMOSA
Zum Park 20 8404 Winterthur
Literatur beim Autor
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