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Lob der Peitsche
Eine Kulturgeschichte der (Schmerz-)Erregung
Josef Amrein
Zu Tausenden zogen sie durch Europa, stöhnten und weinten, während sie sich peitschten, bis das Blut floss.
Der Anblick der Geisslerzüge, die in den Jahren 1349 und 1350 ihren Höhenpunkt fanden, war «horribilis et miserabilis vivendum», wie Chronisten berichten: «Einmal in der Nacht und zweimal am Tag quälten sie sich mit Peitschenhieben vor den Augen der erstaunten Menge, und sie sangen gemeinsam Hymnen, während sie im Kreis gingen und sich in Form des Kreuzes zu Boden warfen. Sechsmal taten sie dies, und zwar jedesmal, bis sie zwei Paternoster gebetet hatten. Darauf erhoben sie sich, wiederum sangen sie Hymnen, sie geisselten sich stärker als zuvor und gingen wieder im Kreis, barfuss, vom Nabel bis zu den Knöcheln mit einem armseligen Tuch verhüllt, die Scham bedeckt, doch den Oberkörper nackt, ausser dem Kopf.» Die Pest war im Anzug. Priester, Grafen, Ritter, Bauern, Knechte, selbst Professoren waren darunter, suchten in der Selbstgeisselung Sühne. Ein Teil von ihnen sollen Verrückte und Irre gewesen sein.
Geisselung ist «Übung am eigenen Körper»
Was seit dem 11. Jahrhundert fester Bestandteil des christlichen Klosterlebens war, breitete sich im Mittelalter auf eine grosse Bevölkerungsschicht aus: die freiwillige Selbstgeisselung. Der Luzerner Germanist Niklaus Largier, der im kalifornischen Berkeley mittelalterliche deutsche Literaturgeschichte lehrt, hat darüber die Monografie «Lob der Peitsche.
Eine Kulturgeschichte der
Erregung» verfasst. Sein
umfassendes Werk bietet
einen literaturhistorischen
Überblick des Phänomens
«Flagellation» (Geisselung)
über die letzten tausend
Jahre.
Schlagen und Geisseln als
(Körper-)Strafe sind alt.
Wurzeln finden sich in der
jüdischen und frühchrist-
lichen Rechtspraxis, die aus
dem römischen Strafrecht
hervorging. Über Jahrhunderte wurde die Geisselung
Flagellationsszene. Französische Buchillustration des 18. Jahrhunderts
in den Klöstern praktiziert.
Bei der Selbstgeisselung im
Sinne der spirituellen Askese handelt ketischen Leistungskultur: Die Geis-
es sich um eine «relativ spät erfun- selhiebe wurden gezählt und gegen
dene, mittelalterliche und neuzeit- die Sünden aufgerechnet.
liche Übung am eigenen Körper», ist Damiani schildert die Asketen als un-
Largier überzeugt. Doch sie ist keine gewaschene, ungepflegte Gestalten
Erfindung des Christentums. Spuren in rauen, zerschlissenen Gewändern,
finden sich bei mehreren alten Völ- totenbleich und mit tiefliegenden
kern anderer Kulturen: bei Hebräern, Augen. Zur Stärkung war massvoller
Persern und Indern. Auch im alten Weingenuss zugelassen, die Zahl der
Ägypten sollen sich beim Isiskult Schläge war auf 40 pro Tag, 60 wäh-
Männer und Frauen gegenseitig aus- rend der Fastenzeit, allerhöchstens
gepeitscht haben.
aber 100 Schläge begrenzt. Das He-
Der italienische Benediktinereremit, rumziehen und Sichschlagen der
Kirchenlehrer und Kardinal Petrus Geisslerzüge dauerte 34 Tage, bezug-
P. Damiani aus Ravenna (1007–1072) nehmend auf das erreichte Lebens-
war der Erste, der die Geisselung pries. alter Christus.
Er propagierte sie als Geste der Busse, Die Nachfolge Christi wurde körper-
der Imitatio Christi und als spirituel- lich verstanden: Die Faszination
les Therapeutikum zur Erregung er- durch die Passion werde in einen
lahmter Gefühle. Die Frömmigkeits- Bereich übertragen, «wo es weniger
und Busspraxis – «disciplina» genannt – darum geht, an etwas zu glauben, als führte bald zu einer eigentlichen as- in der dramatischen Entfaltung der
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Leidenschaften und Bilder der Seele die Leidensgeschichte immer neu zu inszenieren», bemerkt Largier. In einem tranceartigen Erregungszustand, einer Apotheose gleich, herbeigeführt durch den Schmerz, werde versucht, «das Eigene, den Körper, ganz aufzuheben und in einer Vorwegnahme endzeitlicher Befreiung vollkommen dem Göttlichen anheimzustellen»: mit Christus aufzufahren oder aber in einen «adamitischen Urzustand» zurückzukehren. Kurz: Das Heil sei nicht aus dem Wort allein zu erlangen.
Flagellationszüge mit Ansteckungsgefahr
Die Geisselungsszene gleiche einer Inszenierung mit Bühnencharakter und voyeuristischen Zuschauern, so die These Largiers, ein Schauspiel aber, das eine gewisse Ansteckungsgefahr in sich barg, wie ein Religionskritiker bemerkte: «Diese Flagellationszüge waren so fromm und erbauend, so voller Stöhnen und Jammern, dass alle Zuschauer nicht nur in Tränen ausbrachen, sondern – tief berührt von diesem eindrücklichen Beispiel – sich sogleich selbst diesem anschlossen.» Wer seinen Leib zum Opfer machte, dem war das (imaginierte) Auge, aber auch das Ohr Gottes gewiss. Letzteres höre mit, wie Damiani anmerkt, indem er den Schlag der Peitsche mit dem Harfenspiel Davids verglich: Gottes Ohr würde sich dem Klang der Peitschenschläge öffnen, und der geschlagene Körper werde zum Resonanzraum der heiligen Schrift. Unterstützt wurde die Praktik auch von der damaligen Medizin: Die Geisselung erhitze und reinige das Gemüt von der depressiven Stimmung, die, so die Viersäftelehre, aus einem trockenen und kühlen Temperament hervorgehe. Eine ganze Reihe Heiliger praktizierte die exzessive Geisselung, unter anderen der Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola, Katharina von Siena, Maria Magdalena Pazzi oder die heilige Theresa. Geschlagen wurde mit Ruten, Gerten, Stöcken oder Geisseln, Letztere waren nicht selten mit Nägeln, Eisensternen
oder Knochensplittern versetzt, um eine stärkere Wirkung zu erzielen. Eine bis ins Altertum zurückreichende Geschichte hat die Urtikatio: das Schlagen mit Brennnesseln. Doch die offizielle Kirche übte zunehmend Kritik an der Flagellation und verlangte eine «massvolle» Geisselung: «Schmerzen seien nur im Fleisch, nicht aber bis in die Knochen hervorzurufen.» Als im 14. Jahrhundert zunehmend Sektierer, sogenannte Kryptoflagellanten, in Erscheinung traten, die die Geisselung über die heiligen Sakramente zu stellen wagten, wurden diese der Ketzerei bezichtigt, die Geisslerzüge verfolgt und von der heiligen Inquisition verboten. Bereits einmal, im 4. Jahrhundert, hatte sich die Kirche genötigt gesehen, einzuschreiten, als sozial-revolutionäre Wanderasketen, die Circumcellionen, vergleichbar den heutigen Selbstmordattentätern, den Märtyrertod im Suizid suchten.
Von der Busse zur Lusterregung ...
Im 18. Jahrhundert brach das Dreiergespann Geisselung, Busse und Erregung auseinander. Die Flagellation wurde vom spirituellen Bezug auf die Imitatio Christi losgelöst, und die freigewordene Erregung richtete sich zu-
Im Klub der Flagellanten. Kupferstich von A. Borel
nehmend auf die Sexualität. Largier ortet für Frömmigkeit und Lust die gleiche Wurzel: «Voluptas, Lust und Pietas, Frömmigkeit, können dabei aus der gleichen Geste des Geisselns, aus der gleichen Inszenierung hervorgehen.» Beim Marquis de Sade (1740–1814) rückt die religiös-asketische Überschreitung vollends in den Bereich des Sexuellen: Die Erregung der Leidenschaften und die Konservierung des Zustands der Erregung wird zum allgemeingültigen Prinzip jenseits aller Moral und Natur. Die Geisselung ist «Heilsinstitut» geblieben, befreit aber von der Theologie: «‹Ruten? Pflegst du denn zu peitschen, meine Liebe?› – ‹Gewiss, bis aufs Blut … Es existiert für mich keine köstlichere Lust; dieser Vorgang bewirkt in den ermüdeten Organen notwendigerweise eine heftige Erschütterung, eine wollüstige Erregung, die sie entflammt, und einen unvergleichlich heftigeren Erguss. Das Gefühl des Schmerzes in den ausgepeitschten Körperteilen versetzt das Blut in raschere Zirkulation und belebt die Geister, indem es in den Geschlechtsorganen eine ausserordentliche Hitze erzeugt. Schliesslich verschafft es dem Wollustsuchenden die Möglichkeit, den Akt der Befriedigung selbst dann zu vollziehen, wenn die Natur nicht mehr will, und die Freuden der Unzucht bis über die Schranken auszudehnen, die ihm die stiefmütterliche Natur gesetzt hat.›» (de Sade, «Juliette») Indessen mehrten sich die Stimmen, die auch hinter der asketischen Erregung früherer Jahrhunderte eine sexuelle vermuteten. Die antiklerikale Kritik verbreitete Skandalgeschichten über geile Mönche oder kopulationswütige Nonnen. Der Sexualhistoriker Iwan Bloch notiert, die Jesuiten seien die Meister sexueller Kasuistik und Technik, die die eigenen unsittlichen Handlungen in ein mystisch-pietistisches Gewand zu kleiden vermochten, um ihre niemals geringen sexuellen Gelüste befriedigen zu können. Auch die Medizin wies darauf hin, dass die Geisselung auf Rücken, Gesäss und Lenden mit sexueller Erregung ein-
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Die Peitsche apportieren! Zeichnung aus Bildfolgen, die für flagellantistisch interessierte Sammler auf den Markt gebracht
wurden. (Quelle: Bilderlexikon Kulturgeschichte)
Überbleibsel asketischer und erotischer Traditionen der Geisselung finden sich – neben den Ritualen in der Karwoche oder am 6. Dezember (Samichlaus mit «Schmutzli» und seiner Rute) – in Kunst und Literatur. Joyce und Proust, die beiden Klassiker der Moderne, sind Verfasser längerer und detailgetreuer Beschreibungen der Flagellatio. Bei gewissen Formen künstlerischer Performance sieht sich der Zuschauer geradezu gezwungen, sich realen Schmerz und wirkliche Tortur anzusehen, was an die theatralische Inszenierung der Selbstgeisselung früherer Zeit erinnert. Ein ekstatisches Übersteigen des Sexuellen im Sinne früherer Libertins versprechen einschlägige Etablissements in ihren Werbebotschaften: «You will never want to have sex again!», was man mit «Viel besser als Sex!» übersetzen könnte. ■
hergehe. Sie wurde deshalb bei ermattetem Geschlechtstrieb als Aphrodisiakum oder bei Frauen auch bei Fruchtbarkeitsstörungen verordnet.
... und von der Erotik zur Perversion
Und heute? Mit dem Aufkommen der Psychologie und der Psychiatrie vor rund 150 Jahren rückte das Phänomen der freiwilligen Selbstgeisselung in ein medizinisch pathologisch definiertes Feld und wurde den Perversionen zugeordnet. Die Geisselung wird als sadomasochistisches Ritual verstanden, das an Kindheitserinnerungen des Geschlagenwerdens anknüpft und diese eingeschriebenen Bilder lebenslang (in der psychiatrischen Krankheit) neu zu inszenieren sucht. Masochismus, schreibt der amerikanische Psycho-
analytiker Otto F. Kernberg, gründe in der (frühkindlichen) sexuellen Reaktion auf eine Schmerzerfahrung sowie in der «symbolischen Umformung dieser Fähigkeit, Schmerz in sexuelle Erregung zu verwandeln». Largier sieht die Flagellation, das frühere Sinnbild der Libertinage wie der Askese, heute in ein zu enges Korsett gepresst, und hält bedauernd fest: «Sie verliert den Anspruch, ein Ritual zu praktizieren, das auf die Erregung selbst abzielt und die ‹Sexualität› transzendiert. Die Sexualität sei ‹gezielte Freisetzung im Rahmen einer an der Ehe orientierten Biopolitik, die ihre Finalität im heterosexuellen Vollzug des ‹sexuellen Aktes› besitzt. Beides, das spirituelle wie das erotische Überschreiten der Grenzen dieser Natürlichkeit, gilt dem Auge der Vernunft als pathologisch.»
Dr. med. Josef Amrein Medizinpublizist Seidenweg 63 3000 Bern 9
Literatur: Niklaus Largier. Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung. C.H. Beck.
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