Transkript
Fortbildung
Visuelle Reflexanfälle
Wie gefährlich sind Fernsehen sowie Video- und Computerspiele?
Ian W. Mothersill, Margarethe Cenusa, Thomas Grunwald und Günter Krämer
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Das Risiko visuell ausgelöster Reflexanfälle durch Video- oder Computerspiele, durch Fernsehen oder Discothekenbesuche wird häufig überschätzt. Etwa 95 Prozent der Epilepsiepatienten sind nicht fotosensibel und daher auch nicht besonders gefährdet. Demgegenüber ist dieses Risko für Epilepsiepatienten mit bekannter Fotosensibilität als hoch einzustufen.
V isuelle Reflexanfälle sind bei Fotosensibilität durch Lichtreize ausgelöste epileptische Anfälle, und die fotosensitive Epilepsie ist die häufigste Form stimulus-induzierter Reflexepilepsien (6). Dass epileptische Anfälle durch Flackerlicht ausgelöst werden können, ist bereits seit der Antike bekannt (2). In der Neuzeit berichtete unter anderem 1881 Gowers über zwei Patienten mit epileptischen Anfällen, die durch Schauen in helles Licht ausgelöst wurden (5). Der Effekt einer intermittierenden photischen Stimulation (IPS) auf das Elektroenzephalogramm (EEG) wurde erstmals 1934 durch Adrian und Matthews untersucht (1). Seit der Einführung des Stroboskops 1946 durch Walter et al. (12) wurde es möglich, die Reaktion des Gehirns auf Lichtreize sowohl bei Menschen mit Epilepsie als auch bei Gesunden zu untersuchen. Nach dieser Pionierarbeit gewann die Methode der IPS in der
Epilepsiediagnostik rasch an Popularität. Der typische pathologische EEGBefund während einer IPS ist die sogenannte fotoparoxysmale Reaktion (PPR) mit einer durch Flickerlicht ausgelösten generalisierten SpikeWave-Aktivität, meistens bei einer Frequenz zwischen 10 und 20 Hz. Bei Menschen mit Epilepsie zeigen zirka 5 Prozent eine PPR im EEG und von diesen Patienten haben wiederum zirka 70 Prozent durch visuelle Stimuli ausgelöste Anfälle. Erwachsene Menschen ohne Epilepsie haben eine PPR-Prävalenz von zirka 0,8 Prozent, bei Kindern liegt diese etwas höher bei zirka 1,7 Prozent (7). Bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts waren potenziell anfallsauslösende visuelle Reize weitgehend auf natürliche Quellen wie Sonnenlicht oder dessen Spiegelung auf Wasseroberflächen beziehungsweise dessen Unterbrechung durch Alleen mit Bäumen begrenzt. Demgegenüber hat sich die Zahl technischer Lichtquellen mit
teilweise stärkeren Reizeffekten heute um ein Vielfaches erhöht. Es gibt kaum Haushalte, die nicht mindestens ein Fernsehgerät sowie Video- und/oder Computerspielsysteme besitzen.
Wann und für wen haben Fernsehsowie Video- oder Computerspielgeräte ein erhöhtes Risiko für die Auslösung epileptischer Anfälle?
Bei Fernsehgeräten gibt es zwei Hauptmechanismen, die bei entsprechend disponierten Menschen epileptische Anfälle auslösen können. ■ Bildaufbaumuster: Bei sehr kurzem
Abstand zum Bildschirm ist dieses Muster für das menschliche Auge erkennbar und potenziell anfallsauslösend. Allerdings muss der Abstand dazu sehr kurz sein, konkret weniger als 20 bis 25 cm. Deswegen empfiehlt es sich beim Fernsehen, einen genügend großen Abstand zum Bildschirm einzuhalten. ■ Netzfrequenzabhängiges Flimmern des Bildschirms (in Europa 50 Hz, in den USA 60 Hz): Allgemein gilt, dass, je höher die Bildwiederholungsfrequenz ist, umso geringer ist das Provokationsrisiko. Bei modernen TV-Geräten mit 100-HzSchirmen ist die potenziell anfallsauslösende Wirkung also deutlich kleiner als bei alten 50-Hz-Geräten. Hinzu kommt, dass man seit der Einführung von LCD- und Plasmabildschirmen eigentlich nicht mehr von den sprichtwörtlichen «Flimmerkisten» sprechen kann.
Heute stellt der Bildschirm selbst (sowohl bei Fernsehgeräten als auch Computern) keine allzu grosse Gefahr
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rungen also tatsächlich alle epileptischer Natur waren, bleibt unklar. Kopfschmerzen, Schwindel und Erbrechen könnten auch als Symptome einer Kinetose erklärt werden. In unserem eigenen EEG-Labor haben wir die japanischen Originalvideobänder 10 jungen Probanden präsentiert: 8 berichteten über Unwohlsein, teilweise mit Benommenheit, ohne dass wir jedoch Veränderungen im EEG fanden oder Anfälle auftraten.
Abbildung: EEG mit Spike-Wave-Muster während des Fernsehens in einem ab-
gedunkelten Raum mit rasch wechselnden rot-blauen Mustern bei bekannter Fotosensibilität.
mehr dar. Die relevanten anfallsprovozierenden Reize bestehen in erster Linie in visuellen Inhalten wie schnell wechselnden Bildern mit hohen Kontrasten (v.a. bei den Farben Rot und Blau) sowie schnell flackernden, stroboskopischen Bildwechseln (8, 11). Die Gefahr von Fernsehsendungen mit solchem Inhalt als möglicher Anfallsauslöser erreichte 1997 in Japan einen hohen Bekanntheitsgrad, nachdem es nach der Ausstrahlung einer Folge der Trickfilmserie «Pocket monster» landesweit bei etwa 700 Kindern (von geschätzten 10 Millionen, die dieses Programm angeschaut hatten)
zu anfallsartigen Attacken in Verbindung mit Übelkeit, Brechreiz und Erbrechen sowie Kopfschmerzen, visuellen Wahrnehmungsstörungen und auch Konvulsionen gekommen war. In der Folge konnte der Auslöser in einer vier Sekunden dauernden Sequenz mit wechselnden, roten und blauen Bildern (in einer Frequenz von ca. 12 Hz) identifiziert werden. Während die initialen Berichte die Störungen der Kinder als fotosensitive epileptische Anfälle eingestuft hatten, zweifelten spätere Studien dies an und vermuteten teilweise sogar eine Massenhysterie (11). Ob die Stö-
Praktische Tipps für Menschen mit Epilepsie beim Fernsehen sowie bei Videound Computerspielen (3, 4):
1. Möglichst einen 100-Hz-Bildschirm beziehungsweise LCD- oder Plasmabildschirm benutzen.
2. Mindestabstand zum Bildschirm von 2 Meter einhalten, die Fernbedienung benutzen. 3. Nicht in einem völlig abgedunkelten Raum schauen oder spielen. 4. Meiden von Video- oder Computerspielen, die mit ausgeprägten geometrischen
Mustern, insbesondere Streifen sowie bestimmten Farben (v.a. Wechsel von rotblau) einhergehen. 5. Meiden von Schauen oder Spielen bei Müdigkeit. 6. Tragen einer kommerziell erhältlichen blauen Sonnenbrille bei besonderer Gefährdung.
Illustratives Beispiel für durch eine Fernsehsendung mit rasch wechselnden Farbmustern ausgelöste PPR und Myoklonien
Eine Fernsehsendung mit rasch wechselnden Bildinhalten (rot-blaue Muster um 15 Hz) wurde einem 18jährigen Mann mit Epilepsie und bekannter PPR präsentiert. Es konnten generalisierte Spike-Wave-Entladungen im EEG ausgelöst werden, die von diskreten Myoklonien begleitet wurden. Dies gelang jedoch nur in einem abgedunkelten Zimmer sowie mit einem Bildschirmabstand von weniger als 1,5 Meter.
Gefahren von Flickerlicht für
Menschen mit Epilepsie
Millett et al. (9) haben nachweisen
können, dass Menschen mit Epilepsie
ohne Fotosensibilität – also zirka 95
Prozent aller Epilepsiepatienten –
kein erhöhtes Risiko haben, durch
Fernsehsendungen beziehungsweise
Video- oder Computerspiele einen
epileptischen Anfall zu erleiden.
Demgegenüber ist dieses Risiko für
Epilepsiepatienten mit bekannter
Fotosensibilität als hoch einzustufen.
Insgesamt zeigen zwischen 86 und
100 Prozent der Epilepsiepatienten
mit durch Videospielen ausgelösten
Anfällen im EEG eine PPR (8, 10). Des-
halb ist umgekehrt anzunehmen, dass
erstmalig auftretende Anfälle beim
Fernsehen beziehungsweise bei
Video- oder Computerspielen meist
die klinische Erstmanifestation einer
fotosensiblen Epilepsie sind.
■
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Für die Autoren: Ian W. Mothersill, M.Sci. Schweizerisches Epilepsie-Zentrum
Bleulerstrasse 60 8008 Zürich
Interessenskonflikte: keine
Literatur: 1. Adrian ED, Matthews BHC. The Berger rhythm: potential changes from the occipital lobes in man. Brain 1934; 57: 355–385. 2. Apuleius. Apulei Apologia sive pro se de Magia Liber. Translated with introduction and commentary by Butler HE, Orwen AS. Oxford, Clarendon Press 1914. 3. Bureau M, Hirsch E, Vigevano F. Epilepsy and videogames. Epilepsia 2004; 45 (Suppl 1): 24–26. 4. Capovilla G, Gambardella A, Rubboli G, et al. Suppressive efficacy by a commercially available blue lens on PPR in 610 photosensitive epilepsy patients. Epilepsia 2006; 47: 529–533. 5. Gowers WR. Epilepsy and Other Chronic Convulsive Diseases: Their Causes, Symptoms & Treatment, London, J. & A. Churchill 1881. 6. Harding GFA, Jeavons PM. Photosensitive Epilepsy. New edition. London, Mac Keith Press 1994. 7. Hughes JR. The photoparoxysmal response: the probable cause of attacks during video games. Clin EEG Neurosci 2008; 39: 1–7.
8. Kasteleijn-Nolst Trenité DG, Martins da Silva A, Ricci S, et al. Video games are exciting: a European study of video game-induced seizures and epilepsy. Epileptic Disord 2002; 4: 121–128. 9. Millett CJ, Fish DR, Thompson PJ, Johnson A. Seizures during video-game play and other common leisure pursuits in known epilepsy patients without visual sensitivity. Epilepsia 1999; 40 (Suppl. 4): 59–64. 10. Piccioli M, Vigevano F, Buttinelli C, Kasteleijn-Nolst Trenité DG. Do video games evoke specific types of epileptic seizures? Epilepsy Behav 2005; 7: 524–530. 11. Shoja MM, Tubbs RS, Malekian A, et. al. Video game epilepsy in the twentieth century: a review. Childs Nerv Syst 2007; 23: 265–267. 12. Walter WG, Dovey VJ, Shipton H. Analysis of the electrical response of the human cortex to photic stimulation. Nature 1946; 158: 540–541.
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