Transkript
Fortbildung
Chronischer Schmerz und Psyche
Diagnostische und therapeutische Fallstricke anhand von Praxisbeispielen (Teil 1)
Claudia Bieber
Unter den Patienten mit chronischen, oft invalidisierenden Schmerzen findet man häufig Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und/oder Persönlichkeitsstörungen. Oftmals sind es auch schwer traumatisierte Patienten. In der praktischen Arbeit mit dieser Patientengruppe stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang dieser beiden Krankheitskomplexe, den Wechselwirkungen der Symptome und natürlich auch, ob und wie sich beide Phänomene im Verlauf der Therapie gegenseitig beeinflussen.
I n einer Serie von Fällen soll exemplarisch dargestellt werden, wie schwierig es sein kann, diesen Patienten im diagnostischen Prozess, aber auch in der Behandlung gerecht zu werden. Folgende erste Fallvignette zeigt deutlich auf, dass es leider immer noch vorkommt, dass Patienten von den Ärzten eines Bereichs zu denen des anderen Bereichs «abgeschoben» werden und dabei viele offene Fragen unbeantwortet bleiben. Die gute Zusammenarbeit von allen an der Schmerztherapie beteiligten medizinischen Fächern ist unabdingbar und darf als «überfällig» bezeichnet werden.
«Unpassende» Kandidatin für die Schmerztherapie
Auf Zuweisung des Hausarztes kommt die 50-jährige Patientin Helga M. zur
interdisziplinären schmerzmedizinischen Evaluation. Zum Untersuchungszeitpunkt ist der Patientin nicht bewusst, dass sie bereits vor zehn Jahren in dieser Schmerzklinik vorstellig geworden war und es auch vor vier und drei Jahren Kontakte mit den Ärzten derselben Klinik zwecks Fortführung der bis dahin von einem orthopädischen Chirurgen durchgeführten ambulanten Schmerztherapie gegeben hatte. Auf Nachfrage verneint sie, jemals hier gewesen zu sein. Sie könne sich da gar nicht mehr erinnern und meint, es sei vielleicht deswegen, weil sie sich mit vielen ihrer behandelnden Ärzte zerstritten habe. «Wissen Sie, wenn ich zum Hausarzt oder Spezialisten gegangen bin, dann hiess es immer, ich hätte die Schmerzen, weil ich psychisch krank bin,
mich schon oft umbringen wollte und immer wieder in psychiatrischen Kliniken war. Dabei war ich nach der Operation 1998 fünf Jahre lang völlig ohne Schmerzen. Ich konnte alles machen, bin geritten und konnte die Arbeit im Stall und bei den Pferden wieder aufnehmen.» Der schmerzmedizinischen Krankenakte ist zu entnehmen, dass sie seit dem 18. Lebensjahr immer unter Rückenschmerzen litt und zunächst permanent in chiropraktischer Behandlung gewesen ist. 1994 erfolgte die erste Operation: Dekompression L4 rechts. Helga M. spürte danach ihre Zehen nicht mehr und wurde 1995 erneut an der Wirbelsäule operiert: Hemilaminektomie mit subligamentärer Luxatentfernung bei subligamentärer Diskushernie rechts in Höhe L5/S1. Im gleichen Jahr erlitt sie einen schweren Reitunfall. Sie stürzte vom Pferd und wurde von den Hinterhufen an Kopf und Hals getroffen. Damals stellte man die Diagnose einer diskoligamentären Läsion C3/4 mit Abrissfraktur des Processus spinosus C6 und einer Skapulafraktur links. Zu den Schmerzen am unteren Rücken kamen also die Schmerzen an der Halswirbelsäule hinzu. In der Folgezeit wurde die Wirbelsäule mit verschiedensten Massnahmen therapiert: Spritzen in die Wirbelgelenke, Wassertherapie, Extensionstherapie der Hals- und der Lendenwirbelsäule, Physiotherapie, Massage und Fango, Akupunktur, Reittherapie, Manipulationen. Letztere führte sie auch selbst bei sich aus. 1998 ist Helga M. wieder für viele Monate in der psychiatrischen Klinik. Sie wird von ihrer behandelnden
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Psychiaterin in eine Schmerzklinik geschickt. Der Orthopäde dieser Schmerzklinik schlägt eine Reihe diagnostischer Massnahmen vor, unterbreitet der Patientin aber keine konkreten Vorschläge. Die Schmerzmediziner waren sich einig, dass eine erfolgreiche psychiatrische Behandlung Bedingung sein muss, bevor irgendeine Schmerztherapie erwägt werden kann. Frau M. wurde zur unpassenden Kandidatin für die Schmerztherapie. Dennoch wird sie am Ende des gleichen Jahres in eben dieser Schmerzklinik wiederum an der Wirbelsäule operiert. Die Wirbel werden von L4 bis S1 versteift.
Therapieabbrüche aufgrund von «Schwierigkeiten» mit den Ärzten
Helga M. verzeichnet eine lange psychiatrische Anamnese, die wahrscheinlich weiter zurückreicht als die dokumentierten Behandlungen. Sie hat eine sehr schwere, von Beziehungsabbrüchen und Traumatisierungen dominierte Kindheit und Jugend. Patientin der institutionalisierten Psychiatrie ist sie seit 1985, als sie erstmals einen schwerwiegenden Suizidversuch unternimmt. In den folgenden 20 Jahren gibt es zahlreiche Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken und wiederholte Suizidversuche in unterschiedlichen Krankheitsphasen und Lebenszusammenhängen. 1995 wurde in einem psychiatrischen Konsilbericht erstmals die Diagnose einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ gestellt und von da an beibehalten. Neben den Spitalaufenthalten gab es psychotherapeutische Behandlungsphasen und Begutachtungen. Helga M. ist seit 1994 wegen Rückenschmerzen nicht mehr arbeitsfähig. 1996 bekommt sie aufgrund ihrer psychiatrischen Diagnose eine 100-Prozent-IV Invalidität zugesprochen. Sie arbeitete zuletzt in einer Fabrik. Es fällt auf, dass während der vielen Hospitalisationen, sei es somatischer oder psychiatrischer Natur, die Patientin häufig über Schwierigkeiten mit betreuenden Ärzten berichtet, sich häufig nicht verstanden fühlt und
Failed back surgery syndrome (FBSS) oder Postdiskektomie-Syndrom
Nach Operation von Bandscheibenvorfällen entstehen mitunter narbige Verklebungen zwischen dem Duralsack, der Wurzeltasche und dem umgebenden Knochen. Die Folge ist ein dauernder, schmerzhafter Reiz, der schnell chronisch wird und sich fast jedem Therapieversuch entzieht. Wird das ohnehin degenerativ veränderte Bandscheibengewebe zwischen den Wirbeln entfernt, kann es zu einem Ineinanderrutschen der Wirbelgelenke (Telescoping) kommen, welches zu einem ebenso chronischen, schmerzhaften Verkeilen der Wirbelgelenke führt. Beide Probleme werden unter dem Begriff Postdiskektomie-Syndrom zusammengefasst.
Folgende Faktoren können den Misserfolg lumbaler Wirbelsäulenoperationen massgeblich bestimmen:
1. der falsche Patient: Die Operation wird trotz unklarer oder blander Beschwerden und Befunde sowie bei Vorliegen einer psychiatrischen Komorbidität und psychosozialer Belastungsfaktoren durchgeführt.
2. die falsche Operation: mangelhafte Operationstechnik mit Läsion von Nervenwurzeln und starken Blutungen und späterer Narbenbildung
3. iatrogene Komplikationen: alle direkten Folgen des Eingriffs an der Wirbelsäule
Missverständnisse dann zu einer Eskalation, häufig zum Unterbruch der therapeutischen Beziehung führten. Dieses Verhaltensmuster ist eines der zentralen Merkmale der BorderlinePersönlichkeitsstörung. 2004 ruft Helga M. in der Klinik, wo sie zuletzt an den Bandscheiben operiert worden war, an und fragt, warum sie nicht zur Schmerztherapie zugelassen worden sei. Es sei ihr jetzt fünf Jahre sehr gut gegangen, doch seit ein paar Monaten seien die Rücken- und Nackenschmerzen wieder unerträglich geworden. Sie bekommt zur Antwort, dass man angesichts ihrer gesamten Vorgeschichte nicht die Schmerzsymptomatik, sondern die psychische Situation im Vordergrund sehe und dass sie psychiatrisch behandelt werden müsse. Aufgrund der Persönlichkeitsstörung wurde Frau M. also erneut abgelehnt. Auch ein Jahr später scheitert ihr Versuch, in der Schmerzklinik angenommen zu werden. 2004 unterzieht sie sich einer Reihe von interventionellen Schmerzbehandlungen in Biel. 2007 wird sie wieder dort vorstellig und klagt über massive Schmerzen in der Halswirbelsäule. Zwischenzeit-
lich spritzt sie sich Morphin. Eine Diskushernie C5/6 wird diagnostiziert. Einen Monat später wird Helga M. zum viertenmal an der Lendenwirbelsäule operiert: Dekompression und Spondylodese L3–5 und Einlage einer Bandscheibenprothese auf Segmenthöhe L4/5. Psychiatrisch wird die Patientin in dieser Zeit hoch dosiert mit Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und Neuroleptika behandelt. Bei Austritt aus dem Spital bekommt sie 100 Ampullen Morphin (à 10 mg) ausgehändigt. Vor einigen Wochen wird Helga M. von ihrem neuen Hausarzt wiederum in der Schmerzklinik angemeldet. Er weigerte sich, weiterhin die Morphinampullen zu verordnen, die sie neben ihren Oxycontintabletten spritzt. Im Vorfeld der nun definitiv geplanten Evaluation rief Frau M. in der Schmerzklinik an und sagte, dass sie keinesfalls von einem Psychiater untersucht werden wolle. Sie bringe sich sonst um. Sie sei nun lange genug in die Psychiatrie abgeschoben worden, wolle endlich einmal wegen ihrer Schmerzen behandelt werden. Sie habe eine versteifte Wirbelsäule, die Wirbel seien an einer Stelle aufeinander, was eine Entzündung hervorrufe, die enorm wehtue und sie daran
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hindere, etwas machen zu können. Reiten gehe längst nicht mehr. Die Untersuchung kommt dennoch zustande, und Helga M. bekommt die Diagnose eines Failed back surgery syndrome (siehe Kasten), da sie viermal an der Wirbelsäule operiert ist und die Schmerzen immer noch bestehen. Das MRI der Lendenwirbelsäule zeigt hingegen keinerlei Einengungen, Vernarbungen oder Druck der Wirbel auf die Nerven. In der Untersuchung konnten also keine für die Schmerzen ursächlichen Strukturveränderungen festgestellt werden. Angesichts der hohen Schmerzchronifizierung und der ebenfalls sehr hohen schmerzbedingten Beeinträchtigung mit starker Limitierung der Funktionsfähigkeit im Alltag ist die Schmerztherapie bei Helga M. nur erfolgversprechend, wenn sie stationär durchgeführt werden kann. Nach Meinung vieler Autoren handelt es sich beim FBSS um einen organischen Prozess unterschiedlicher Ätiologie, zu dem sich psychische Faktoren im Sinne erlernter Reaktionen auf die chronischen Schmerzen sowie Depressionen und in der Folge häufig Veränderungen im sozialen Bereich gesellen, sodass die Differenzierung organischer und psychischer Anteile am Gesamtbild der Erkrankung im Laufe der Zeit ausserordentlich schwierig wird. Übereinstimmend
Ihre Meinung ist gefragt!
Falls Sie vorliegenden Fall kommentieren möchten oder Antworten auf die offenen Fragen haben, schreiben Sie bitte an die Autorin (cbieber@bluewin.ch) sowie an die Redaktion (n.mittermaier@rosenfluh.ch). Wir freuen uns auf Ihre Reaktionen.
wurde das präoperative Ausmass der Depression (bzw. deren kognitive Manifestationen Hilf- und Hoffnungslosigkeit) als eindeutiger Risikofaktor identifiziert. Häufig findet man unter den Patienten mit dieser Diagnose schwerwiegende psychiatrische Krankheitsbilder.
Viele unbeantwortete Fragen
Helga M. ist eine chronische Schmerzpatientin mit erheblicher psychiatrischer Komorbidität und schwerwiegenden psychosozialen Belastungsfaktoren. Lange «kämpfte» sie um eine Schmerztherapie, die sie als Patientin ernst nimmt und der Komplexität ihrer Beschwerden und Probleme gerecht wird. Schwerst beziehungsgestört und traumatisiert, gelingt es ihr nicht, eine stabile Arzt-PatientenBeziehung aufzubauen und damit die Grundlage zu schaffen für eine konstante multimodale Therapie.
Die Geschichte von Helga M. ist nicht
alltäglich und wurde bewusst ausge-
wählt, um eine Diskussion in Gang zu
bringen. Denn am Ende sind mehr
Fragen offen als beantwortet. Was
braucht es an psychiatrischer The-
rapie, damit Helga M. auch schmerz-
medizinisch behandelt werden kann?
Sollte Helga M. weniger Schmerzen
haben, damit es ihr psychisch besser
geht und sie sich überhaupt wieder
auf eine psychiatrische Behandlung
einlässt? Ist eine gleichzeitige Be-
handlung psychischer und körperli-
cher Symptome überhaupt sinnvoll
und möglich? Was ist das geeignete
Schmerzmittel für Helga M.? Wo sollte
der Schwerpunkt ihrer Therapie ge-
setzt werden?
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Dr. med. Claudia Bieber Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Weingartweg 6 6205 Eich
Teil 2 dieser Reihe von Fallbeispielen erscheint im kommenden Heft.
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