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Übersicht
Tremor – Formen, Diagnostik und Behandlung
Richtige Klassifikation entscheidend für erfolgreiche Therapie
Ansgar Studer
Tremor ist die häufigste aller Bewegungsstörungen. Es handelt sich dabei um eine unwillkürliche, rhythmische, oszillierende Bewegung eines oder mehrerer Körperteile, die durch alternierende oder synchrone Kontraktionen antagonistischer Muskeln zustande kommt.
E ine sorgfältige Anamnese und Untersuchung erlaubt in den meisten Fällen eine nosologische Zuordnung des Tremors, wobei der Unterscheidung zwischen einem «idiopathischen» Tremorsyndrom und einem «symptomatischen» Tremor – letzterer zum Beispiel als Folge einer Medikation oder im Rahmen einer neurologischen Multisystemerkrankung – besondere Bedeutung zukommt. Die richtige Klassifikation des Tremors spielt auch für die Wahl der medikamentösen Behandlung eine ganz entscheidende Rolle.
man zwei Hauptkategorien: Ruhetremor und Aktionstremor (Tabelle 1).
Tabelle 1: Aktivierungsbedingungen verschiedener Tremorformen
■ Ruhetremor ■ Aktionstremor
– Haltetremor – kinetischer Tremor – Intentionstremor – isometrischer Tremor – positionsspezifischer Tremor
Tremor-Klassifikation
Die verschiedenen Tremorformen können nach ihrer Phänomenologie (d.h. den Untersuchungs- bzw. Aktivierungsbedingungen des Tremors), der topischen Verteilung, der Frequenz oder der Ätiologie unterteilt werden. Die Anamnese und die klinische Untersuchung geben Aufschluss, welche Körperteile betroffen sind: nur die Arme oder die Beine? Nur der Kopf? Mehrere Körperteile? Ist der Tremor bilateral oder ganz überwiegend einseitig? Phänomenologisch unterscheidet
Von einem Ruhetremor spricht man, wenn dieser bei fehlender Willküraktivität, also bei vollkommener Muskelentspannung, auftritt. Um dies zum Beispiel an den Händen zu untersuchen, bittet man den Patienten, beide Hände ganz entspannt in den Schoss zu legen. So lässt sich ein klassischer Ruhetremor – ein Kardinalsymptom der Parkinson-Erkrankung – gut beobachten (der Parkinson-Tremor zeigt sich häufig auch beim Gehen am lose frei mitschwingenden Arm). Der Ruhetremor wird typischerweise bei mentaler Belastung (z.B. Rückwärtszählen) ver-
stärkt und verschwindet zu Beginn einer Willkürbewegung. Als Aktionstremor wird jeder Tremor bezeichnet, der während einer willkürlichen Muskelkontraktion auftritt. Man unterscheidet verschiedene Unterformen: posturaler, kinetischer, isometrischer und aufgabenspezifischer Tremor. Der posturale Tremor (Haltetremor) zeigt sich während tonischer Aktivität gegen die Schwerkraft. Zur Prüfung lässt man den Patienten die ausgestreckten Arme und Hände horizontal nach vorne halten. Nicht selten erscheint dabei der während der Bewegung verschwindende typische Parkinson-Ruhetremor mit einer Latenz von bis zu zirka 10 Sekunden als Haltetremor wieder. Den kinetischen Tremor sieht man während einer Willkürbewegung. Nimmt er während einer Zielbewegung bei Annäherung an das Ziel deutlich zu, nennt man ihn Intentionstremor. Dies kann an den Armen mit dem Finger-Nase-Versuch getestet werden. Der klassische Intentionstremor weist auf eine Kleinhirnfunktionsstörung hin. Der isometrische Tremor tritt während einer tonischen Halteinnervation auf, die nicht zu einem Positionswechsel der beteiligten Körperpartie führt, zum Beispiel beim Halten eines schweren Gegenstandes; der orthostatische Tremor (s. unten) wird auch dazu gerechnet. Der aufgabenspezifische Bewegungstremor zeigt sich nur bei ganz bestimmten Tätigkeiten, zum Beispiel beim Schreiben (oder wird zumindest dadurch deutlich akzentuiert). Bei den meisten Tremorformen liegt die Frequenz zwischen 4 und 10 Hz. Ausnahmen bilden der zerebelläre
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Bei der Untersuchung von Tremorpatienten hat es sich bewährt, eine Archimedes-Spirale zeichnen zu lassen und auch die Handschrift zu beurteilen (Mikrografie häufig bei Parkinson-Patienten).
(langsame Frequenz um 2–3 Hz) und der orthostatische Tremor (13–18 Hz). Eine grobe Einschätzung der Tremorfrequenz ist mit einiger Erfahrung auch ohne Hilfsmittel möglich.
Tremorabklärung immer mit Neurostatus
Neurologische Symptome können in vielen Fällen diagnostisch wegweisend sein, weshalb ein detaillierter klinischer Neurostatus zu jeder Tremorabklärung gehört. Bei einem Patienten mit Ruhetremor wird man auf andere Kardinalsymptome einer Parkinson-Erkrankung achten (Rigor, Akinese, kleinschrittiger Gang, posturale Instabilität). Ein klassischer Intentionstremor ist häufig mit anderen Zeichen einer Kleinhirnerkrankung vergesellschaftet (Ataxie, zerebelläre Blickmotorikstörung). Ein Aktionstremor kann im Rahmen einer Polyneuropathie auftreten. Bei der Tremoranamnese sind auch folgende Fragen differenzialdiagnostisch wichtig: ■ Dauer des Tremors ■ langsame Zunahme des Tremors
oder plötzlicher Beginn in voller Ausprägung ■ Alkoholempfindlichkeit des Tremors ■ Einnahme von Medikamenten oder Drogen ■ positive Familienanamnese für neurologische Erkrankungen.
Die Befunde aus Anamnese und klinischer Untersuchung erlauben meist eine syndromale Einteilung des Tremors: Dabei spielen das Aktivierungssowie das Verteilungsmuster und die Frequenz des Tremors eine führende klassifikatorische Rolle. Ergibt sich der Verdacht auf eine symptomatische Tremorform, so sind weitere (Labor-)
Abklärungen zu erwägen (Tabelle 2). Bezüglich der ätiologischen Tremoreinteilung sei auf Tabelle 4 verwiesen.
Tabelle 2: V.a. symptomatischen Tremor: Labor-Check
■ TSH ■ Na, K, Ca ■ Leberwerte ■ Kreatinin, Harnstoff ■ Glukose ■ Cortisol*, Plasmakatecholamine* ■ Toxikologische Tests ■ Coeruloplasmin**,
Kupferausscheidung im 24h-Urin**
** bei V.a. Cushing-Syndrom oder ** Phäochromozytom ** bei V.a. M. Wilson
Syndromatische Einteilung des Tremors
Der physiologische Tremor tritt bei allen normalen Individuen bei Halteinnervation und Bewegungen auf. Seine Frequenz an der Hand liegt zwischen 6 und 12 Hz. Der normale, sehr kleinamplitudige Fingertremor kann manchmal mit blossem Auge gesehen werden. Im Unterschied zum normalen physiologischen Tremor ist der verstärkte physiologische Tremor optisch gut erkennbar. Auslöser sind einerseits Angst, emotionale Belastung, Ermüdung, Frieren, andererseits auch endokrine (Hypoglykämie, Hyperthyreose, Phäochromozytom) und andere Stoffwechselstörungen (Hypokalzämie, schwere Hepatopathie). Auch viele Medikamente und Drogen (vgl. Abbildung 4) können einen physiologischen Tremor verstärken. Ein typisches Beispiel ist Alkoholentzug. Manchmal ist es nicht ganz einfach,
einen verstärkten physiologischen Tremor von einem essenziellen Tremor (s.u.) zu unterscheiden. Die minutiöse Anamnese (zeitliche Koinzidenz des Tremorbeginns mit dem Wirkungseintritt eines der vorgenannten Provokationsfaktoren), manchmal auch erst der Verlauf (Verschwinden des Tremors nach Korrektur bzw. Elimination des tremorogenen Faktors) sind hier wegweisend. Der klassische essenzielle Tremor (ET) äussert sich als überwiegender Halte-, in geringerem Masse auch (aber sehr selten isoliert) als Bewegungstremor, der ohne wesentliche Asymmetrie beide Hände und Unterarme betrifft und gut sichtbar ist. Dieser Haltetremor erscheint praktisch sofort im Armvorhalteversuch (dies im Unterschied zum Haltetremor bei Parkinson-Patienten). Ein bis auf den Tremor (und ein allfälliges «Zahnradphänomen» [Handgelenk], aber kein Rigor) normaler Neurostatus ist Bedingung für diese Diagnose. Manchmal ist auch der Kopf (in ca. 30%) oder die Stimme (in ca. 15%) mitbetroffen (seltener isoliert, was eine Abgrenzung von einem dystonen Tremor verlangt; s.u.). Bei etwa der Hälfte der Patienten ist der ET autosomal dominant vererbt. Es finden sich zwei Häufigkeitsgipfel des Erkrankungalters, und zwar im 2. und 6. Lebensjahrzehnt (sog. «juveniler» und «seniler» ET). Etwa die Hälfte der Patienten ist durch den ET deutlich behindert. Alkohol bessert den ET bei zirka zwei Dritteln aller Patienten wesentlich. Bei ungefähr 10 Prozent aller Patienten persistiert der Tremor auch in Ruhe, was zu Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von einem Parkinson-Tremor führen kann. Im Gegensatz zum klassischen ParkinsonTremor nimmt jedoch dieser Ruhetremor bei Beginn einer Willkürbewegung nicht ab, sondern eher noch zu. Vor allem Patienten mit spätem Erkrankungsbeginn entwickeln nicht selten bereits nach relativ kurzer Krankheitsdauer neben dem klassischen Halte- einen Bewegungstremor (speziell Intentionstremor), der zu einer schweren Behinderung führen kann.
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Tabelle 3: Syndromatische Tremorklassifikation
Mit geringen Modifikationen aus: G. Deuschl, J. Raethjen, B. Köster: Tremor; in: Bewegungsstörungen, 2. Auflage, Thieme-Verlag, 2005
Diagnose
Frequenz
physiologischer Tremor verstärkter physiologischer Tremor essenzielle Tremorsyndrome • klassischer essenzieller
Tremor • orthostatischer Tremor • aufgabe- und lageabhängiger
Tremor
dystoner Tremor
Parkinson-Tremor
zerebellärer Tremor
Holmes-Tremor
Gaumensegeltremor
neuropathisches Tremorsyndrom
medikamenteninduzierter und toxischer Tremor
psychogener Tremor
Aktivität
Ruhe Halteinner- Zielvation bewegung
0 5 10 Frequenzbereich
15 Hz
häufige Frequenz
seltene Frequenz
niedrig mittel hoch
notwendig für kann vorhanden
Diagnose
sein
Andere «essenzielle» Tremorformen Orthostatischer Tremor: Es handelt sich
um eine seltene Tremorform, die im Stehen mit einer Latenz von wenigen Sekunden bis Minuten zu einer zunehmenden Standunsicherheit führt, die durch kompensatorische willkürliche isometrische Anspannung der betroffenen Beinmuskeln noch ver-
stärkt wird. Sofortige Linderung bringt Sich-Anlehnen und vor allem Umhergehen. Ein eigentlicher (rhythmischer) Tremor der Beine lässt sich nicht beobachten, oft nur eine feine muskuläre Bewegungsunruhe. Die eigenartige Semiologie führt nicht selten zur Fehldiagnose eines psychogenen Tremors. Diagnostisch ist eine
EMG-Tremoranalyse mit Nachweis der pathognomonischen Tremorfrequenz von 13 bis 18 Hz; manchmal lässt sich diese Tremorfrequenz über den betroffenen Muskeln auch mit dem Stethoskop auskultieren. Aufgaben- und positionsspezifische Tremorformen: Dazu zählt man den primären Schreibtremor, den isolierten
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Tabelle 4: Ätiologische Klassifikation des Tremors (unvollständige Auswahl)
Mit geringen Modifikationen aus: G. Deuschl, J. Raethjen, B. Köster: Tremor; in: Bewegungsstörungen, 2. Auflage, Thieme-Verlag, 2005
R = Ruhetremor; H = Haltetremor; I = Intentionstremor
■ Hereditäre, degenerative und idiopathische Erkrankungen
Morbus Parkinson
R>H
Essenzieller Tremor
H>I>R
Multisystematrophie
R>H>I
Kennedy-Syndrom
H, I
■ Zerebelläre Erkrankungen verschiedener Ätiologie
Multiple Sklerose
I, H > R
Schlaganfall
I, H > R
Tumore
I, H > R
Trauma
I, H > R
■ Stoffwechselerkrankungen Hyperthyreose Hypoglykämie Hypokalzämie Hyponatriämie Hepatische Enzephalopathie Urämie
H H R, I H H, I H, I
■ Polyneuropathien (PNP) Chronische demyelinisierende PNP
H, I
■ Stoffwechselerkrankungen Hyperthyreose
H
■ Toxine Alkohol Nikotin Schwermetalle (Blei, Arsen, Quecksilber)
H, I H H (I, R)
■ Medikamente Neuroleptika Metoclopramid Antidepressiva (v.a. Trizyklika) Lithium Betaagonisten Theophyllin Kortikosteroide Valproat Amiodaron Kalziumantagonisten Antidiabetika Cyclosporin Tacrolimus Vincristin Thyroxine
■ Drogen Alkohol Kokain
■ Medikamenten-/Drogenentzug Alkohol Benzodiazepine Opiate
R, H R, H H R, H, I H, I H H H H R, H, I H H H H H
H, I H, I
H, I H, I H, I
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Stimmtremor sowie Tremores bei Musikern und Sportlern, die nur bei einer ganz bestimmten Tätigkeit beziehungsweise Körperhaltung auftreten.
Tremor bei Morbus Parkinson
Beim klassischen Parkinson-Tremor handelt es sich um einen Ruhetremor mit einer Frequenz von 4 bis 6 Hz. Zu Beginn der Erkrankung ist er häufig nur unilateral oder zumindest deutlich seitenbetont; diese Asymmetrie bleibt auch später oft bestehen. Unter Stress (z.B. Kopfrechnen) und Ermüdung nimmt er zu; bei Erkrankungsbeginn tritt er manchmal nur unter diesen Provokationsfaktoren auf. An Hand und Fingern äussert er sich im typischen Fall als sogenanntes «Pillen-
drehen». Nicht selten kann der Tremor auch beim Gehen mit lose herabhängendem Arm beobachtet werden; klassischerweise ist dann die Mitbewegung auf der betroffenen Seite vermindert. Typischerweise nimmt bei Parkinson-Patienten der Ruhetremor bei Beginn einer Bewegung deutlich ab, erscheint dann aber während der Halteinnervation wieder. Dieses Phänomen kann zum Beispiel beim Armvorhalteversuch gut beobachtet wer-
den kann. Nicht vergessen sollte man, dass bei den meisten Parkinson-Patienten – vor allem bei längerem Krankheitsverlauf – auch ein Bewegungstremor auftritt. Der typische Parkinson-Ruhetremor wird nur bei zirka einem Viertel aller Patienten mit nicht idiopathischem Parkinson-Syndrom beobachtet. Wenn man die relative Häufigkeit des idiopathischen und nicht idiopathischen ParkinsonSyndroms berücksichtigt, so weist ein
Als nicht wirksam beurteilte Medikamente dürfen nicht abrupt abgesetzt werden, weil dies zu einer vorübergehenden Verstärkung des Tremors
führen kann.
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Sind Propanolol oder Primidon als Monotherapie ungenügend wirksam, so sollte als nächster Schritt eine Kombinationsbehandlung in den oben genannten
Dosierungen versucht werden.
klassischer Ruhetremor mit über 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit auf einen M. Parkinson hin. Die wichtigsten klinischen Punkte zur Unterscheidung eines Parkinson-Tremors von einem klassischen essenziellen Tremor sind in Tabelle 5 zusammengefasst.
rose, traumatische Hirnverletzungen mit infratentorieller Beteiligung und (heredo-)degenerative Ataxien gehören zu den häufigsten Erkrankungen mit Intentionstremor, wobei hier bei der klinischen Untersuchung oft auch Symptome nicht zerebellärer ZNSFunktionsstörungen auffallen. Neben
Tabelle 5: Differenzialdiagnose: Essenzieller Tremor vs. Parkinson-Tremor
Ruhetremor Tremor-Seitenbetonung Beinbeteiligung Kopfbeteiligung Stimmbeteiligung Alkoholsensitivität Zahnradphänomen Positive Familienanamnese Ansprechen auf Dopaminergika
Essenzieller Tremor + + + +++ +++ +++ + +++ –
Morbus Parkinson
+++ +++ +++
– – – ++ – +++
Tremor bei Kleinhirnerkrankungen
Ein Intentionstremor ist so typisch für eine Funktionsstörung des Kleinhirns beziehungsweise seiner afferenten und/oder efferenten Bahnen, dass die Begriffe «Intentionstremor» und «zerebellärer Tremor» häufig praktisch synonym verwendet werden. Seine Frequenz liegt mit 2,5 bis 5 Hz niedriger als die der meisten anderen Tremorformen. Obwohl eine Intentionstremor-Komponente neben dem klassischen Haltetremor nicht selten auch im Rahmen eines essenziellen Tremors anzutreffen ist, sollte ein Intentionstremor prinzipiell als symptomatisch angesehen werden. Er bedarf deshalb einer sorgfältigen weiteren Abklärung. Die neurologische Untersuchung wird häufig andere Zeichen einer Kleinhirndysfunktion (Ataxie, zerebelläre Blickmotorikstörung) zutage fördern. Multiple Skle-
dem klassischen Intentionstremor können bei einer Kleinhirnerkrankung auch ein Haltetremor (v.a. der Arme) oder ein posturaler Tremor des Kopfes oder Rumpfes auftreten. Letzterer wird vor allem bei einer Funktionsstörung des Kleinhirnvorderlappens beobachtet (z.B. bei chronischem Alkoholabusus); er zeigt sich als langsame Vor-/Rückwärtsbewegung mit einer Frequenz um 3 Hz und wird als Titubation bezeichnet.
Dystoner Tremor
In bis zu 50 Prozent der Fälle wird ein Schreibkrampf von einem Tremor begleitet; manchmal steht er als sogenannter dystoner Schreibtremor ganz im Vordergrund. Zur Diagnose eines dystonen Kopfoder Stimmtremors wird man verlangen, dass der Tremor – im Unterschied zum klassischen essenziellen Kopf-
und Stimmtremor – durch «Tricks» unterdrückt werden kann («geste antagonistique» bei dystonem Kopftremor, emotionale Lautäusserung bei dystonem Stimmtremor).
Medikamentös oder toxisch bedingter Tremor
Viele Substanzen kommen als Auslöser in Betracht (Tabelle 3). Je nach Agens kann ein Ruhe-, Halte- oder Intentionstremor beziehungsweise eine Kombination verschiedener Tremorarten vorliegen. Am häufigsten ist eine Verstärkung des physiologischen Tremors (z.B. durch Antidepressiva und Sympathomimetika). Ein typischer Parkinson-Ruhetremor wird nicht selten als Nebenwirkung einer Behandlung mit antidopaminergen Medikamenten (Neuroleptika) beobachtet. Eine Lithium-Intoxikation kann zu einem zerebellären Tremor führen (evtl. in Kombination mit anderen Zeichen einer Kleinhirnfunktionsstörung). Voraussetzung für die Diagnose eines medikamentös oder toxisch bedingten Tremors ist eine adäquate zeitliche Korrelation mit der Einnahme des inkriminierten Stoffes. Nach dessen Absetzen beziehungsweise Wirkungsende sollte der Tremor üblicherweise verschwinden; dies gilt jedoch nicht für den sogenannten tardiven Tremor, der nach länger dauernder Neuroleptika-Einnahme auftreten kann.
Psychogener Tremor
In gewissen Fällen ist es nicht ganz einfach, einen psychogenen Tremor korrekt zu identifizieren. Manche Patienten weisen eine psychiatrische Anamnese mit somatoformen Störungen oder vielfältigen, organisch nicht zu erklärenden Beschwerden auf. Ein abrupter Beginn des Tremors in voller Ausprägung mit Phasen von Spontanremission kann wegweisend sein. Wichtige neurologische Befunde sind: ■ Inkonsistente Tremorpräsentation
mit unter anderem wechselnder Tremorfrequenz oder Tremoramplitudenabnahme bei Ablenkung (z.B. Kopfrechnen).
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■ Angleichung der Tremorfrequenz an das Tempo vorgegebener rhythmisch-alternierender Willkürbewegungen nicht betroffener ipsi- und/ oder kontralateraler Extremitäten.
Meistens kann eine – tonische oder zahnradartige – muskuläre Verspannung von Agonisten- und Antagonistenmuskeln der vom Tremor betroffenen Extremität palpiert werden. Man bezeichnet dies als Kokontraktionszeichen des psychogenen Tremors. Gelingt es, den Patienten zu einer vollständigen Willkürentspannung zu bewegen, so verschwindet der Tremor. Zu beachten ist auch, dass ein psychogener Tremor nur sehr selten die Finger miteinbezieht.
Seltene Tremorformen Holmes-Tremor: Vereinfacht gesagt, han-
delt es sich hierbei um eine Kombination eines parkinsonähnlichen Ruhetremors und eines zerebellären Intentionstremors. In der Regel findet man auch einen Haltetremor. Die Tremorfrequenz ist niedrig und liegt zwischen 2,5 und 5 Hz. Der Holmes-Tremor ist als symptomatischer Tremor anzusehen, dem eine Hirnstammpathologie (häufig im Mittelhirn) zugrunde liegt. Häufigste Ursache ist ein Schlaganfall im Bereich des Hirnstammes, manchmal ein Zustand nach traumatischer Hirnverletzung mit Mittelhirneinklemmung. Wichtig ist zu bedenken, dass die Latenz zwischen der Hirnstammschädigung und der Erstmanifestation des Holmes-Tremors Tage bis Jahre betragen kann. Palataler Tremor (Gaumensegeltremor): Man unterscheidet zwei Typen. Dem symptomatischen palatalen Tremor, der durch rhythmische Kontraktionen des M. levator veli palatini verursacht wird, liegt eine Schädigung der dendatorubroolivären Bahn im Hirnstamm zugrunde (z.B. bei multipler Sklerose). Das MRI zeigt eine Hypertrophie der unteren Olive. Assoziierte Hirnstamm- und Kleinhirnfunktionsstörungen stehen klinisch ganz im Vordergrund.
Beim essenziellen palatalen Tremor, der durch rhythmische Kontraktionen des M. tensor veli palatini zustande kommt, klagt der Patient über ein sehr störendes, tremorsynchrones Ohrklicken. In den allermeisten Fällen fehlen andere neurologische Auffälligkeiten. Das Hirn-MRI ist normal.
Tremor – einige Differenzialdiagnosen
Einen spastischen Klonus oder eine Epilepsia partialis continua wird der Geübte rasch erkennen. Schwierigkeiten kann die Diagnose rhythmischer Myoklonien bereiten. Spezielle Erwähnung verdient die Asterixis (manchmal auch ungenau als «flapping tremor» bezeichnet), die meistens besonders gut im Arm- oder Bein-Vorhalteversuch (mit dorsalextendierten Händen) zu beobachten ist. Es handelt sich hierbei um negative Myokloni aufgrund ungewollter Pausen der Willkürinnervation; wenn diese kurz und quasirhythmisch sind, ist eine Verwechslung mit einem Tremor möglich. Zur Diagnosesicherung dieser Art von Asterixis kann eine EMG-Ableitung sehr hilfreich sein. Zugrunde liegende Ursache ist nicht selten eine toxisch-metabolische Enzephalopathie, zum Beispiel im Rahmen einer Hepatopathie oder Urämie.
Morbus Wilson
Spezielle Erwähnung verdient der M. Wilson, eine seltene, autosomalrezessiv vererbte Kupferstoffwechselstörung. Leber- und Hirnfunktionsstörungen stehen im Vordergrund; sie führen unbehandelt in wenigen Jahren zum Tod. Ungefähr 40 Prozent der Patienten zeigen als Initialmanifestation neurologische Symptome, meistens in der 2. und 3. Lebensdekade. Häufig handelt es sich dabei um ein Parkinson-ähnliches hypokinetischrigides Syndrom, ein generalisiertes Dystonie-Syndrom oder aber um ein Tremor-(postural und kinetisch)-/Ataxie-Syndrom mit Titubation und Dysarthrie, nicht selten in Kombination mit kognitiven und psychiatrischen Symptomen. Der Tremor kann mild
ausgeprägt sein, typischerweise zeigt sich jedoch – wenn man die im Ellbogen maximal flektierten Arme horizontal abduzieren lässt, sodass die Hände horizontal auf Nasenhöhe liegen – ein langsamer, hochamplitudiger, proximaler Tremor, der an ein «Flügelschlagen» erinnert. Häufig liegt auch ein deutlicher Intentionstremor vor. Bei Tremorpatienten mit Erkrankungsbeginn unter 40 bis 50 Jahren sollte deshalb immer die Differenzialdiagnose eines M. Wilson erwogen werden: Bei entsprechendem Verdacht sind die notwendigen Zusatzabklärungen durchzuführen (SerumCoeruloplasmin, Kupferausscheidung im 24-h-Urin, Spaltlampenuntersuch auf Kayser-Fleischer-Ring).
Allgemeine Grundsätze der Tremorbehandlung
Bei Verdacht auf einen medikamentös, toxisch oder metabolisch bedingten Tremor (vgl. Abbildung 4) wird man natürlich primär versuchen, die vermutete Noxe auszuschalten (Dosisreduktion oder Absetzen des Tremor verursachenden Medikaments) beziehungsweise die Stoffwechselstörung zu korrigieren. Die Indikation zur Tremorbehandlung richtet sich in erster Linie nach dem Leidensdruck des Patienten und dessen tremorbedingter Behinderung im Alltag. Die meisten Tremorformen lassen sich nicht kausal, sondern nur symptomatisch behandeln. Voraussetzung für eine wirksame Behandlung ist die richtige Tremorklassifikation. Unterschiedliche Patienten mit gleichem Tremortyp reagieren unterschiedlich auf die Gabe des gleichen Medikaments. Eine sorgfältige Evaluation des medikamentösen Behandlungserfolgs und das Erkennen allfälliger Nebenwirkungen ist erforderlich. Es empfiehlt sich, mit einer langsam einschleichenden Monotherapie (besonders wichtig beim Einsatz von Primidon, s.u.) zu beginnen und die Dosis – je nach Effekt – bis zur Nebenwirkungsgrenze zu steigern. Als Monotherapie unwirksame Medikamente
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sollten nicht in einer Kombinationsbehandlung eingesetzt werden. Zur Behandlung eines medikamentös nicht beherrschbaren Tremors kommt insbesondere beim essenziellen Tremor und beim Parkinson-Tremor als ultima ratio ein hirnchirurgischer Eingriff (insbesondere Tiefenhirnstimulation) infrage.
Medikamentöse Behandlung der häufigsten Tremorformen Klassischer essenzieller Tremor: Medi-
kament der ersten Wahl ist – unter Berücksichtigung der gängigen Kontraindikationen (wozu neben allgemein-internistischen auch eine Depression gehört) – der nicht-selektive Betablocker Propanolol. Man beginnt mit einer Dosis von 20 bis 40 mg und steigert langsam bis maximal 320 mg/ Tag, verteilt auf drei Gaben. Die Verwendung eines Retardpräparats kann die Compliance verbessern. Propanolol führt bei 50 bis 70 Prozent der Patienten zu einer objektiven Reduktion, aber praktisch nie zu einem vollständigen Verschwinden des Tremors. Die Ansprechrate bei einem isolierten essenziellen Kopf- oder Stimmtremor ist deutlich niedriger. Timolol (Tagesdosis 10–60 mg), Sotalol (80–160 mg) und Nadolol (30–120 mg) sind etwas weniger wirksam als Propanolol. Atenolol, Metoprolol und Pindolol haben keinen Platz in der Tremorbehandlung. Das zweite Medikament der ersten Wahl ist Primidon (ein Antiepileptikum, das teilweise zu Phenobarbital
metabolisiert wird). Es wird vor allem bei mangelndem Effekt, Kontraindikationen oder Nebenwirkungen von Propanolol eingesetzt. Um unerwünschte Nebenwirkungen (Sedation, Schwindel, Ataxie, Übelkeit, selten Delir) zu vermeiden, muss das Medikament insbesondere bei älteren Patienten sehr langsam eingeschlichen werden: initial 62,5 mg abends, Steigerung nach Verträglichkeit alle 1 bis 3 Tage um 62,5 mg; bei einer Dosis über 500 mg/ Tag (verteilt auf 2 Gaben) ist keine weitere Zunahme der Wirksamkeit zu erwarten. Als Medikamente der zweiten Wahl gelten Gabapentin (1800–2400 mg/Tag in 3 Tagesdosen), Alprazolam (maximal 3 mg/Tag), Clonazepam (maximal 6 mg/Tag) oder Topiramat. Wiederholte Botulinumtoxin-Injektionen können beim essenziellen Kopftremor und essenziellen Stimmtremor hilfreich sein. Parkinson-Tremor: L-Dopa (kombiniert mit einem Decarboxylasehemmer) und Dopaminagonisten sind nicht nur die Medikamente der ersten Wahl zur Behandlung der akinetisch-rigiden Komponente des M. Parkinson, sondern auch des Tremors, wobei die Ruhekomponente am verlässlichsten anspricht. Bei ungenügender Wirkung ist die zusätzliche Verabreichung eines Anticholinergikums (Biperiden) sinnvoll, wobei die Kontraindikationen (Engwinkelglaukom, kognitive Defizite) zu beachten sind. Leider ist die Verträglichkeit dieses Medikaments in tremorwirksamen Dosen bei
über 70-jährigen Patienten oft schlecht (Benommenheit, kognitive Beeinträchtigung bis Delir), auch wenn die Dosissteigerung sehr langsam erfolgt (initial 1 mg/Tag, wöchentliche Steigerung um 2 mg/Tag, Maximaldosis 12 mg/Tag). Bei einem auf die vorgenannten Medikamente ungenügend ansprechenden Halte- oder Bewegungstremor kann Propanolol oder Primidon (s. oben) von Nutzen sein.
Intentionstremor bei zerebellärem Syn-
drom: Bei den allermeisten Patienten
ist medikamentös keine wesentliche
Besserung zu erreichen. Im Einzelfall
kann dennoch Clonazepam, Propano-
lol oder Biperiden versucht werden.
Sorgfältig selektionierte Patienten
profitieren bezüglich des Tremors von
einer Tiefenhirnstimulation; die in
der Regel mehr behindernde Ataxie
wird aber leider dadurch nicht gelin-
dert.
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Dr. med. Ansgar Studer Neurologische Klinik Universitätsspital 8091 Zürich
Interessenkonflikte: keine
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